Wollte man eine Tendenz im zeitgenössischen Dokumentarfilm diagnostizieren, so wäre es wohl das Zurücktreten rein beobachtender Formen hinter Arbeiten, die die Subjektivität des eigenen Blicks hinterfragen und narrativieren. Dabei droht aber etwas verloren zu gehen: Die direkte Beziehung des Films zur Wirklichkeit. Ist die überhaupt möglich? Welche Arbeitsweisen ermöglichen einen direkten Blick, der sich mehr für den Gegenstand als die eigene Praxis interessiert? In einem Panel diskutieren Filmemacher:innen und Filmwissenschaftler:innen über Formen des Direct Cinema gestern, heute und morgen. — in Kooperation mit dem Goethe-Institut und der dfi – Dokumentarfilminitiative im Filmbüro NW.
Protokoll
Die Debatte um das Verhältnis des Dokumentarfilms zur Wirklichkeit ist so alt wie die Filmgeschichte selbst. Anfang der 1960er Jahre spitzte sie sich rund um die diametralen Positionen des Direct Cinema und Cinéma vérité weiter zu, und entzündete sich auf der Duisburger Filmwoche erneut in der oft erwähnten Kreimeier-Wildenhahn-Debatte, ausgelöst durch Helga Reidemeisters „Von wegen ‚Schicksal‘“, der 1979 auf dem Festival gezeigt wurde. Mit diesem filmhistorischen Einstieg eröffnet Moderator Alejandro Bachmann die Diskussion. Der Diskussionssaal ist trotz der frühen Uhrzeit so voll ist, dass viele auf dem Boden Platz nehmen. Das Interesse am Thema ist nach wie vor groß.
Von seinen Gesprächspartner:innen Gisela Tuchtenhagen und Jan Soldat möchte Bachmann zunächst wissen, ob die von ihm skizzierten Diskurse für sie während ihrer Zeit an der Filmhochschule und danach überhaupt Relevanz hatten. Tuchtenhagen, Jahrgang 1943, sagt, zu Beginn ihrer Ausbildung an der DFFB in den 1960er Jahren habe es überhaupt weder eine Form noch einen Begriff des Dokumentarfilms gegeben. Erst mit „Das Haus nebenan – Chronik einer französischen Stadt im Kriege“ von Marcel Ophüls 1969 habe sich das für sie geändert. Als Studierende habe sie sich bis dahin verloren gefühlt, bis Klaus Wildenhahn ihr Dozent wurde. Sie lernte Dokumentarfilme kennen, die sie faszinierten und wollte verstehen lernen, wie das geht. Von der Fotografie kommend galt ihr Interesse besonders der Kamera.
Auch Jan Soldat – der von 2008 bis 2014 die Filmhochschule in Potsdam besuchte – betont wie entscheidend die Lehrpersonen und die Sympathie mit ihnen für den weiteren Werdegang seien. Er selbst komme eher von trashigen Horrorfilmen und habe erstmal herausfinden müssen, was ihm als Filmemacher liegt und nicht, was ihm als Zuschauer gefalle. An der Hochschule sei er „bei Frederick Wiseman eingepennt, weil da gemessen an konventionellen Sehgewohnheiten nix passiert“. Seine eigenen Filme, von denen „Der Unfertige“ 2013 und „Wohnhaft Erdgeschoss“ 2020 auf der Filmwoche gezeigt wurden, habe er selbst nie als beobachtende Filme gesehen. Er möge aber das „direct“ am Direct Cinema.
Zwei Ausschnitte zeigen Szenen aus Tuchtenhagens „Was ich von Maria weiß“ (1972) und Soldats „Ein Wochenende in Deutschland“ (2013). In ersterem geht es um die Tochter von Gastarbeiter:innen, die Tuchtenhagen im Urlaub zusammen mit Wildenhahns Tochter filmte. Soldat folgt mit seinem Film Manfred und Jürgen, die Fetischsex haben und sich gegenseitig necken. Obwohl Tuchtenhagen es problematisch findet, Szenen aus dem Kontext gerissen zu zeigen, erkennt Soldat trotz der unterschiedlichen Themen und Formen bereits in den kurzen Ausschnitten eine ähnliche Herangehensweise an die Protagonist:innen. Tuchtenhagen stimmt zu, auch sie habe ein Bedürfnis verspürt, diese Menschen zu filmen, bei und mit ihnen zu sein. Sie bemerkt aber auch Unterschiede: „Ich habe die Kamera immer auf der Schulter gehabt. Deine steht auf einem Stativ. Wie verhältst Du Dich da als Regisseur. Und bist Du auch nackt?“. Das Publikum lacht, zwischen Tuchtenhagen und Soldat stimmt die Chemie. Soldat antwortet, er habe kein Teil der Sexualität seiner Protagonisten sein und seine Grenzen wahren wollen.
Bachmann möchte wissen, wie beide die Erstbegegnung der Kamera mit der zu filmenden Wirklichkeit und ihren Protagonist:innen überhaupt handhaben. Hier sind sich beide wieder einig, meistens direkt mit der Kamera „reinzugehen“. Tuchtenhagen überlegt „Mit der Kamera höre ich intensiver zu. Ich lasse mich anders auf eine Situation ein und wollte auch immer vermeiden, dass jemand etwas nochmal nur für die Kamera wiederholen will.“ Soldat sieht das ähnlich, bezieht diese Herangehensweise aber mehr auf seine Motivation. „Ich kläre vorher, dass ich mit der Kamera komme. Denn ich will mich nicht langweilen oder wiederholen. Ich begebe mich gern bewusst in Situationen, die mich neugierig machen oder ängstigen“. An Tuchtenhagen gewandt ergänzt er: „An der Filmschule sagten immer alle, das sei zu wenig. Ich müsse mehr recherchieren. Ich bin froh, dass Du das auch so gemacht hast.“ Förderstrukturen, die vorab genau ermitteln wollen, was für ein Film entsteht, empfinden beide als hinderlich.
Bachmann will vom Beobachten als konzeptueller Methode zur Bedeutung der verfügbaren Technik und konkreten Arbeitsweise kommen und fragt, wie und womit die beiden Filmschaffenden arbeiten. Soldat hat sich früh für MiniDisc entschieden. Er sei schon an der Filmhochschule – nach der obligatorischen Arbeit mit 16mm – auf die kleinen Recherchekameras umgestiegen. Schon damals hab er gedacht „Ich will unabhängig sein von Geld. Das Filmemachen darf mir niemand wegnehmen können!“. Seitdem habe er nie mehr über analogen Film nachgedacht. Der MiniDisc ist er bis heute treu geblieben, auch weil das praktischer sei und er das 4:3 Format für Menschen und Innenräume schätze. Die letzten 12 Jahre habe er außerdem nur allein gedreht.
Tuchtenhagen hingegen ist mit Analogfilm aufgewachsen, den technischen Fortschritt mit lichtstärkeren Objektiven und empfindlicherem Material habe sie aber mit Spannung verfolgt. Sie selbst hat meist in Zweierteams gedreht, so dass sie für die Kamera verantwortlich war und jemand anders für den Ton. „Diese Fliege an der Wand ist für mich ein rotes Tuch. Das kann nur eine Überwachungskamera. Ein Filmteam verändert immer die Atmosphäre vor Ort und daher muss das Team so klein wie möglich sein“, konstatiert sie. In einer Frage sind sich alle auf dem Podium einig: HD ist Mist. „In der Schärfe so ekelhaft und respektlos“ (Tuchtenhagen), „messerscharf zudringlich“ (Bachmann) und „für meine Themen und Protagonisten unangemessen“ (Soldat).
Nach einem weiteren Ausschnitt aus Tuchtenhagens „Heimkinder 2“ und Soldats Kurzfilm „Vorher – Nachher“ (2024), in dem er einen Mann in dessen Wohnung besucht, mit ihm über den Ort des Drehs und die Lichtsetzung entscheidet und ihn dann beim Masturbieren filmt, kehrt Bachmann zur ewigen Ausgangsfrage zurück: Sollten Dokumentarfilme ihre eigene Herstellung transparent machen, damit die Zuschauer:innen diese mediale Vermittlung reflektieren können? Oder eher der Maxime des direct cinema folgen und zumindest danach streben, möglichst unsichtbar zu bleiben? Soldat findet, seine Filme stünden für beides: Für das geduldige, ergebnisoffene Beobachten als auch für eine transparente Vorhergehensweise, die seine Mittel und Rolle als Filmemacher offenlege. Tuchtenhagen erzählt lieber noch eine Anekdote vom „Heimkinder“-Dreh, die ihre Arbeitsweise aber noch anschaulicher beschreibt: Unter ihrer Art, ohne vorab geklärte Finanzierung loszulegen, ständig zum Drehen bereit zu sein, dafür auch mal länger im Regen auszuharren nicht zu wissen, wo man am Abend schlafe, habe der Tonmann bei „Heimkinder“ sehr gelitten. Sie selbst wirkt da deutlich robuster und erinnert sich zum Ende fröhlich an diese Zeit: „Ich fand das schön. Ich hatte sogar meinen Hund dabei, so eine kleine, bissige Töle“.