Film

Spuren von Bewegung vor dem Eis
von René Frölke
DE 2024 | 89 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 48
06.11.2024

Diskussion
Podium: René Frölke
Moderation: Alexander Scholz
Protokoll: Marius Hrdy

Synopse

„Wahrheit kann gefunden werden, wo es keinen Anfang gab.“ Der Nachlass des vor mehr als 20 Jahren aufgelösten Schweizer Pendo-Verlages wird von Theresa Weigner und ihrem Freund Nicolas durchforstet. Die 16mm-Kamera registriert das kursorische Stöbern im Wust von Büchern, Kisten, Briefen, Magazinen, Fotos, Zeichnungen, Manuskripten und Tonbandaufnahmen von politischen Diskussionen. Im Zusammenspiel der Fragmente offenbaren sich Erinnerungen an Arbeit und Lektüre.

Protokoll

Ein Textfragment, aus dem Film geborgt: „Offenbarung notwendig”. Nach den Ergebnissen der US-Wahlen heute Früh – und dem am späteren Abend chronologisch nachgereichten Platzen der Ampelkoalition ­– wäre eine prophetische Trost- und Hoffnungsschrift á la Johannesoffenbarung bitter nötig.

Frölke/Scholz sind danach am Podium aber weniger biblisch und sitzen zu zweit. Scholz startet los: Einerseits geht es in „Spuren von Bewegung vor dem Eis“ um den konkreten Ort des Verlagarchivs des Pendo Verlags, auf der anderen Seite geht es aber auch um einen Verlag und seine Arbeit, einen „allgemeinen Verlag“. Er fragt Frölke wo er die Fährte aufgenommen und wie er zum Pendo Verlag gekommen sei?

Frölkes erste Spur war die Suche nach Büchern des amerikanischen Dichters Robert Lax – einem minimalistischen Lyriker und Asket der Langsamkeit. Er bekam 2017 bei einem Aufenthalt in Nyon den Tipp zu einem Verlag in Zürich, der noch Bücher von Lax hatte, und fuhr dorthin. Tessa öffnete die Tür und sowohl ihre charismatische Präsenz als auch die Präsenz der mit Verlagsmaterial gefüllten Räumen beeindruckten ihn so sehr, „dass die eigentliche Suche nach dem Buch von Lax dann nicht mehr so wichtig war“.

Die persönliche Begegnung mit Tessa hatte das Projekt auch einen Monat später in Gang gebracht. Außerdem interessierte ihn die Co-Verlagsgründerin Gladys Weigner, in deren Stimme etwas für Frölke Unbekanntes, „etwas Gutbürgerliches“ mitschwebte, das er so nicht kannte und das ihm imponierte. Dann die Geschichte des damals bereits verstorbenen Fritz Weigner, „der so katholisch war“. Er wollte „an diesen toten Fritz Weigner“ herankommen. Auch faszinierten ihn die Themenfelder von Tessas eigener Musik und den Büchern des Verlags auch im Sinne des Bildermachens.

Scholz attestiert der Begegnung mit Tessa und ihrem Freund Nicolas eine Prägung von großem gemeinsamen Interesse und großer Freiheit. Es passiert vieles „en passant“, was auch „ein gewisses Verständnis von Nähe“ fordere.

Frölke bestätigt die gegenseitige Wertschätzung und meint, dass er nach Gladys Weigners Tod und der damit einhergehenden notwendigen Wohnungsauflösung plötzlich „der Archivar“ sowohl des Verlags, als auch der Familiengeschichte und des photographischen Erbes Bernd Moosbruggers war. Im Zuge dessen fand er handgeschriebene Postkarten, die „fast wie gedruckt“ aussahen. Er fragte sich grundsätzliches anhand dieser Karten: „filmt man das jetzt oder verschwinden die, weil sie niemand mehr braucht?“

Scholz greift ergänzend–gedanklich in den Film – „anfangs gibt es eine Szene“: Tessa hantiert am Rekorder, man sieht das Transkript ihrer Unterhaltung, die sie gemeinsam führen, gleichzeitig im Kamerabild. Es türmen sich da die Zeitlichkeiten im Ton und dem Kamerabild, meint er. Für Scholz hat dieses Falten „eine Scharnierfunktion“ und er benennt drei Ebenen der Sortierung, nämlich Filmen, Transkribieren und Schneiden, die zueinander in einem Verhältnis stehen. Frölke hatte sich ursprünglich entschieden, chronologisch zu erzählen – warum hier diese überfalteten Zeitlichkeiten?

Frölke wollte das Entstehen des Films zu zeigen und mit dieser Hereinnahme des Skripts ins Bild, diese Szene „auch mal anders auszubuchstabieren“. „Es gibt mehr Ton als Bildmaterial“ – „im Verhältnis fast 20-mal mehr“, daher musste er das transkribieren. Er wollte Wiederholungen transkribieren, auch Auslassungen. „Warum die nicht sichtbar machen?“, dachte er. Wie lässt man den Timecode im Bild, welche Zeilenabstände nimmt man. Das zerklüftete, fragmentarische Material, das „physische Nachvollziehen dieser Arbeit“, nahm für ihn drei Jahre Zeit im Anspruch.

Scholz nimmt das viele Transkribieren auch als die Präsenz von Frölkes Arbeit im Film wahr. War das nur dem vielen Material geschuldet, oder wie präsent wollte Frölke selbst im Film sein?

Frölke verweist auf den Titel „Spuren von Bewegung vor dem Eis“, der diesem „erkenntnistheoretischen Prozess“ (des Transkribierens) anspricht. Der sich für ihn anfühlte, als würde das Archivmaterial in „der nächsten Eiszeit zu Sedimenten zermahlen“, also „eine gewisse Nutzlosigkeit“ schon im Vorhinein mit sich bringen. Er erwähnt die an einer Stelle vorkommende Mitschrift über das scholastische Dogma – „wie das Böse in die Welt kommt“, im Bezug auf Hans Blumenbergs Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie. Wie das Christentum den Prozess dieser Wendung in 1.000 Jahren nicht schaffte, immer wieder keine Antwort auf die Frage zu finden und immer wieder vergessen und als Sediment zu Staub zerfällt. Und dieses „zu Staub werden“ wollte er selbst physisch nachvollziehen. In seinen 1.000 Seiten Transkript drückt sich auch diese „langsame Sinnlosigkeit“ aus, dass das Transkript jetzt wohl für niemanden relevant ist, er das aber trotzdem physisch im Film zeigt.

Scholz findet Blumenberg „supi“. Dieses Gefühl in Bezug auf den Film orientierend, sieht er einen Prozess der strategischen Überforderung. Wie entschied Frölke, was im Film lesbar ist?

Frölke rekurriert dabei beispielhaft wieder auf Fritz Weigner, der über 30-40 Jahre alle Predigten von Pater Richard Gutzwiller mitgeschrieben hatte. Frölke wollte „entziffern, wie er das aufgeschrieben hat“. Wie man diese „disparaten Dinge zusammenbringt“, wie sich diese theoretisch abstrakt mit dem Kleinteiligen verbindet, interessierte ihn.

Weiter greift Frölke nun in die Kiste der Neuen Deutschen Welle, um seinen Prozess anders zu veranschaulichen: O.K. – OKAY! [OK] aus 1988, dem Lieblingslied seines Sohnes, ein Lied das nur aus Sampeln besteht und das für ihn „die gesamte westdeutsche Geschichte“ abbildet. „Diese Freiheit, die man in der Musik hat muss man sich im Film mehr erkämpfen.“ Man muss mehr drehen und wenden und „an den Nahtstellen entsteht dann etwas“.

Scholz interessiert nochmal die Rhythmik des Films, der für ihn die Rhythmik Tessas selbst anzunehmen scheint und fragt sich inwiefern etwas bewahrt werden soll von einer Person, die „so mäandernd als Typ arbeitet“, ein Gestus den Scholz „eher auf dem Rückzug“ sieht?

Frölke hatte die Idee, dass sich der Film „gegen Ende im Zerfall befindet“, wie bei Antonionis L`Eclisse. Eine Bewegung wie Tessas Persönlichkeit eben, die vieles ankündigt, Vorstöße gibt, die wieder Rückfalle nach sich ziehen.

Eine Publikumsfrage gilt daraufhin den Kameraeinstellungen außerhalb der innerhalb beackerten Archivgebäude, die in Zürich spielen? Sind diese Teil des Ganzen und können, als Zeichensystem gelesen werden?

Frölke meint, er „hätte ja viel Wartezeit gehabt“ und machte solche Einstellungen „auch zum Nachdenken“. Für ihn war das so ein „in der Welt sein“. Auch die Außenwelt (im Verhältnis zum Archiv) „präsent zu halten“ war ihm wichtig.

Für Scholz gibt es im Film eine „indifferente Beschriftung“. Er fragt sich wie sehr die zeitgenössischen, „sehr prekären Zeit-Fragen“ noch relevant sind, wenn wir etwas von „hinten heraus“ betrachten? In welchem Verhältnis steht das?

Frölke findet es spannend, in die „Zeilen der Notizen etwas reinzulesen“. Für ihn war da „etwas Zeitloses“ darin. Frölke fragt sich ob wir „die Frage beherrschen“, oder ob „uns die Sprache“ beherrscht. Tessa, die im Film zum Beispiel sagt, dass ein Geräusch „vom Boden weggeht“, auch wenn das physikalisch überhaupt nicht stimmen kann…“ eben diese Sagbarkeit von unsagbaren Dingen“ spürt Frölke nach.

Scholz möchte noch über die Traurigkeit entlang der Umschreibungen im Film von Vergänglichem sprechen. Im Bewahren „ist das Verlieren immer schon eingeschrieben“, und „getilgt“. Begreift Frölke den Film als Annehmen dieser Trauer?

Frölke findet Trost im Spielen von Tessas Musikstücken, oder auch im Detail eines Auges eines Frauenporträts von Fritz Weigner. Vielleicht ist es das Machen dieses Films auch eine Art Trostsuchen.

Eine Publikumsfrage am Ende bringt noch einen Kommentar als Anhängsel mit: „Jede Transkription ist immer auch eine andere Sprache.“

Frölke meint darauf, besonders das Schwyzerdütsch – so präsent in Spuren – könne man auf viele unterschiedliche Weise transkribieren. Es sei fast unmöglich, beim Transkribieren Perfektion zu erreichen – für ihn ist es ist immer ein Fehlerprozess mit Missverständnissen, der nie wirklich endet. Für mich ein treffender Metagedanke zu der Schreibarbeit an den Duisburger Protokollen selbst.

 René Frölke, Alexander Scholz v.l. © Duisburger Filmwoche, Foto: Simon Bierwald
René Frölke, Alexander Scholz v.l. © Duisburger Filmwoche, Foto: Simon Bierwald