Synopse
Der Schuhberg im Eingang wird höher und höher. Immer neue Geflüchtete treffen ein, erleichtert, dass sie es über die Grenze nach Tiflis geschafft haben. Eine Diaspora junger russischer Oppositioneller hat sich hier eingerichtet: Journalist:innen, Blogger:innen, Menschenrechtsaktivist:innen, politisiert durch die Repressionen. Im Displaylicht ihrer Laptops entwerfen sie Gegenerzählungen zur Regierungspropaganda, im Schein der Kerzen sprechen sie sich Mut zu. Sie sind Feinde, in ihrer Heimat wie im georgischen Exil.
Protokoll
дом „Dom“ heißt „Haus“ im Russischen. Im Haus des Filmforums umrahmen nach dem Film Co-Regisseur:innen Svetlana Rodina & Laurent Stoop und Produzentin Corinna Dästner Kommissionsmitglied Therese Koppe auf dem Podium im BORA. Ebenso sind einige Protagonist:innen aus „Dom“, die den Film gerade zum ersten Mal hier in Duisburg gesehen haben, im Saal anwesend. Das Gespräch beginnt auf Englisch.
Koppe ortet ein „sehr dichtes Thema“ in diesem Film über die individuellen Schicksale einer aktivistischen Opposition von jungen, russischen Menschen im Exil gegen das Putinregime. Auch führt sie in die Biographien der drei Panelist:innen ein. Dann möchte sie von Rodina etwas mehr über ihren persönlichen Bezug zum Film und den Protagonist:innen wissen.
Rodina – eine gebürtige Russin, die seit längerem in der Schweiz lebt – antwortet, sie wisse nicht mehr, wie sie „heutzutage noch Russin sein könne“. Für sie war es (der Ukrainekrieg) eine Krise. Ihre Schwester lebte zu Beginn des Projekts schon in Tbilisi und erzählte ihr von einem Unterschlupf – darauf bezieht sich der Titel „Dom“ – von Aktivist:innen, die Russland nach dem Beginn des Ukrainekrieges Richtung Georgien verlassen hatten. Sie waren in der Opposition tätig und mussten mit politischer Verfolgung rechnen. Ursprünglich wollte Rodina nur „die anderen Russ:innen dort treffen“ und nicht filmen. Doch dann entwickelten sich regelmäßige Besuche, die sich über ein Jahr erstreckten. Rodina und Stoop hatten lange in Russland zusammengelebt und sahen dies als Möglichkeit, „etwas in dieser Situation zu tun“.
Die Diskussion mäandert früh und in alle möglichen, blühenden Richtungen und widersteht eisern, ein Gespräch konkret entlang des Films zu entwickeln. Stoop nennt den Film immer wieder eine „immersive“ Doku. Dazu später mehr. Weiter erzählt Rodina die Geschichte des Protagonisten Artiom – hier im Saal anwesend – der ihr im Laufe der Dreharbeiten eines Tages sagte, dass er schwul sei. Sie war zuerst verwundert, da sie schon sechs Jahre in der Schweiz lebte, und sich der Schwierigkeiten nicht wirklich bewusst war, was Schwulsein heutzutage in Russland bedeutet.
Koppe spricht nun die observierende Form und die Kameraführung an, die sich im Film durch enge Close-Ups ausdrücken. Wie kamen sie in diesen engen Kontakt mit ihren Protagonist:innen?
Stoop meint, sie wollten zeigen, dass die Protagonist:innen zwar physisch in Tbilisi waren aber psychisch noch immer in Russland. Produzentin Dästner führt weiter aus, dass Vertrauen gebildet wurde, weil Rodina ja „selbst den Protagonist:innen ähnlich“ ist. Sie betont, dass „niemand Russen gerade mag“. Rodina und Stoop argumentieren weiter, dass sie miteinander in der Öffentlichkeit nur Französisch sprechen (obwohl Stoop fließend Russisch spricht). Für Rodina ist es komisch, da sie ja einerseits gegen den momentanen Regime-Staat Russland ist, aber sich anderen erklären muss, dass sie „nicht so eine Russin ist“. „Wir haben jetzt nicht das Recht, Russen zu sein“, meint sie. Das Gespräch plänkelt weiter an solchen Allgemeinheiten und absolutierend gerahmten Aussagen entlang.
Koppe startet einen neuen Versuch, um das Podium doch noch zum Sprechen am Formalen zu animieren und hebt die Entscheidungen zu Dramatisierungen im Film hervor. Es geht erst um den Schnitt, dann konkreter um das Sounddesign (zum Beispiel eingesetzte Tinnitus-Geräusche), das für sie einen permanenten Zustand der Not ausdrückt.
Doch das Gespräch magnetisiert weiterhin nah am persönlichen. Rodina begründet die Schnittfrage mit ihrem intuitiven Emotionsgefühl. Beim Sounddesign betont sie ihr „gutes Team“. Koppe versucht es mit anderen Begriffen: gab es fiktionale Elemente? Wie war es mit dem Einsatz von Reaction-Shots zum Beispiel? Doch Rodina verbindet immer wieder formale Entscheidungen mit ihrer intuitiven Gefühlswelt, ihren eigenen Emotionen und ihrem eigenen Status als Russin. Dann wird das Publikum eingeladen, teilzunehmen. Für eine Zuseherin erzeugt das Sounddesign eine Art von Spannung/„Suspense“. Jetzt eine Möglichkeit über die dramatisierenden Elemente des Filmemachens in „Dom“, zu sprechen?
Rodina antwortet, es sei schwierig „echtes Leid“ zu zeigen, anders als im Spielfilm. Ein durchaus interessanter Punkt: Weil echtes Leid sich nicht durch Spektakel, sondern im Alltag eher schwelend ausdrückt. Sie wollte dieses Gefühl zwar mit Musik verstärken, aber eben nicht alles nur mit Musik erklären. Für sie wirft der Film mehr Fragen als Antworten auf. Sie findet dann, sie war „sehr ehrlich“ in ihrer Arbeit mit dem Film.
Das immer wieder in der Diskussion aufkommende Wort „immersiv“ im Zusammenhang mit dem Filmemachen wird von Stoop nun endlich durch die Intimität, die Nähe zu den Protagonist:innen (die oft durch vorhin schon genannte, extreme Close-Ups entsteht) präzisiert. Durch das Sounddesign wollten die Regisseur:innen betonen, wie sie sich die Aktivist:innen im Exil in diesem Haus in Tbilisi fühlen, nämlich „wie in einem U-Boot“.
Koppe kommentiert dabei: für sie gibt es eine Dramatisierung, gibt es ein „Blicken in heilige Gesichter“, ja eine Bewunderung dieser Protagonist:innen, die sich hier ausdrückt.
Für eine andere Person im Publikum ist das Sounddesign eher Geschmackssache. Für sie wären die Bilder genug gewesen. Sie erzählt aus ihrer eigenen russischen Familiengeschichte und erwähnt eine Szene einer Konfliktsituation im Film, wo eine Großmutter ihrer insistierenden Enkelin nicht glauben will, dass Putin und Russen Verbrechen in der Ukraine begehen.
Rodina antwortet: besonders für ältere Menschen in Russland ist es schwierig, aus dieser Komfortzone auszubrechen. Sie hat dasselbe Problem mit ihrer Tante. Die russische Propaganda sei sehr stark.
Auf eine weitere Frage, ob etwas im Film inszeniert war, kommentieren Rodina und Stoop sie hätten nur (an der Realität der Protagonist:innen) teilgenommen und nichts inszeniert. Das Wort wandert nun zwischen den anwesenden Protagonist:innen im Publikum: eine bedankt sich für die Erfahrung bei der ersten Sichtung des Films heute, und meint, dass es für sie sehr berührend war. Ein anderer sagt: es war eine sehr intensive Zeit für sie, sagt danke für die Ukraineunterstützung und die Unterstützung der russischen Opposition. Artiom war sehr nervös, den Film zu sehen, weil es auch sein Coming Out war.
Noch eine Publikumsfrage dreht sich um die Atmosphäre im Film. Für eine Zuseherin ging es sehr darum ein „Zusammensein in Isolation“ zu zeigen. Es kam ihr sehr einsam vor. Warum haben die Regisseur:innen entschieden, die Einsamkeit so herauszustellen?
Wieder erklärt Rodina das mit der Realität, und dass sie „nur der Realität folgten“. Ursprünglich dachten sie, dass in dieser Gruppe der Hausbewohner:innen etwas Revolutionäres entstehen könnte, das nachhaltig Russland positiv verändern könnte. Doch für Stoop wurde nach und nach die Aussichtslosigkeit im Exil immer deutlicher.
Dies drückt sich im Film wohl am besten, wenn auch szenisch sehr gerafft, entlang der Geschichte der Haus-Anführerin Katja aus, die, einmal aus Tbilisi nach Armenien ausgereist, vergeblich versucht aus Jerewan dorthin zurückzukehren und deportiert wird, und am Ende resigniert, dass „sich die Welt nicht ändert“. Rodina wollte allgemein „das kollektive Porträt einer verlorenen Generation zeigen“, aber auch im Speziellen, dass Katja ihre Anführerin war, die dieses Kollektiv mit ihrer Energie angetrieben hat, und die dann gebrochen war.
Fast schon beim Mantelanziehen kommen wir zu den komplexeren politischen Realitäten, die durch eine Frage von Ute Adamczewski angestoßen werden: Sind die Protagonist:innen in irgendeiner Gefahr durch das öffentliche Zeigen dieses Films?
Stoop meint, dass auch in Georgien das politisch motivierte „Ausländische Agenten“-Gesetz eingeführt wurde, (gilt für alle Privatpersonen, die „politisch tätig“ sind und vom Staat als „vom Ausland unterstützt oder beeinflusst“ betrachtet werden können), durch das jede:r verdächtigt werden kann gegen den Staat zu arbeiten und somit einfacher verhaftet werden kann. Auch mussten sie die Geschichte einer Person aus dem Film streichen, weil diese zurück nach Russland gegangen ist und es für diese zu gefährlich gewesen wäre, diese zu behalten. Zwei der Protagonist:innen meinen daraufhin, dass sie im Ausland zwar eher sagen können, was sie wollen, dass es aber nicht sicher ist, dass sie nicht durch Geheimdienstagenten verfolgt werden, da der Staat gegen alle Dissident:innen ermittelt.

Laurent Stoop, Svetlana Rodina, Therese Koppe, Corinna Dästner v.l. © Duisburger Filmwoche, Foto: Simon Bierwald