Synopse
In einer durch Minen belasteten Landschaft verweben sich die Erfahrungen und Erinnerungen gegenwärtiger und vergangener Kriege. Hier, an der Grenze zwischen Bosnien-Herzegowina und Kroatien, schottet sich die EU gegen Geflüchtete ab. Kleidung wird getrocknet, Feuerholz gehackt, Kinder baden in einem Planschbecken. Ein Alltag aus Übertrittsversuchen, Pushbacks und Warten. Der Blick schweift über Felder und Wälder, auf der Suche nach alten und neuen Einschreibungen.
Protokoll
Die tagespolitische Realität bricht wie so häufig dieser Tage in den Filmfestivalalltag ein, wenn Nicole Vögele ihrem Film die Frage „Was bedeuten uns Grenzen?“ voranstellt und die aktuelle Relevanz der Thematik betont. Dass der sich langsam entfaltende „Landschaft und Wahn“ – oder wie die Filmemacherin den Titel präferiert „The Landscape and the Fury“ – das Publikum über die eingangs gestellte Frage kontemplieren ließ, ist der Stimmung im Diskussionssaal anzumerken. Vermutlich auch aufgrund der letzten Filmszene, einem immersiven Point of View, der zu Anfang und am Ende des Films auftaucht. Es ist stockfinster, der Wald nur schemenhaft erkennbar, ein durchdringendes Atemgeräusch hinter der Handkamera. Die Filmemacherin erläutert, damit habe sie der Verlorenheit der Menschen, die ständig im bosnisch-kroatischen Grenzgebiet in den Wäldern herumirren, Raum geben wollen.
Gleich zu Beginn erwähnt Moderator Mischa Hedinger die sehr spezifische Entstehungsgeschichte des Films. Nicole Vögele war vor dem Dreh in ebenjener Grenzregion als Journalistin tätig. Allerdings habe „The Landscape and the Fury“ einen ganz anderen Wert als ein klassischer Fernsehfilm und vermittele ein Gefühl, dass nur Film vermitteln könne. Er möchte wissen, was das Arbeiten im Journalismus vom Arbeiten im Film unterscheide. Für Vögele fühlt es sich nach zwei Gesichtern, gar zwei Leben an, die sich erst unlängst durch den Film begegnen. Nach ersten Erfahrungen beim Schweizer Fernsehen begann sie ohne cineastischen Hintergrund ein Studium an der Filmhochschule in Ludwigsburg, wo sie ihre Filme von Anfang an von der Fernseharbeit strikt getrennt und in ihrer Form möglichst weit weg vom Fernsehen angelegt hat. In Bosnien war sie zum ersten Mal 2018, als Teil einer NGO-Hilfsaktion, wo ihr schnell klar wurde, dass sie den Journalismus als Werkzeug benutzen möchte, um zu helfen. Zu der Zeit, als Pushbacks noch verleugnet wurden, ging es vor allem darum, durch Recherche visuelle Belege zu schaffen. Als investigative Journalistin hatte sie viel Zeit, „die Locals“ kennenzulernen und sich intensiv mit dem Terrain zu beschäftigen. Damals beim Fernsehen hätte sie allerdings mit ihren Beobachtungen der Zwischentöne und des Alltags nirgendwohin gekonnt und das fände nun deshalb seinen Platz in ihrem Film.
„The Landscape and the Fury“ ist geprägt durch ein atmosphärisches Sounddesign, wummernde, surrende Soundteppiche, Hundegebell aus der Ferne und verbale Zeugnisse der Deportationspraxis. Hedingers Frage danach, ob Tonschnipsel im Film von der damaligen journalistischen Recherche stammen würden, wird von der Filmemacherin bejaht. Zwei Tonaufnahmen aus der Zeit habe sie verwendet. Damals beim Fernsehen wie auch beim Filmdreh habe sie oft einen Tonrekorder im Wald versteckt und dann mit den Aufnahmen gearbeitet. Später erläutert die Filmemacherin, dass das Sounddesign für sie maßgeblich die Atmosphäre kreiere. Es entstehe im Schnitt beim Assoziativen herumprobieren mit Tönen und Soundscapes, damit habe sie in ihren Augen im Film am ehesten kommentiert. In Abgrenzung zum Journalismus, wo sie versucht habe, Fakten zu generieren, sei der Film ein Versuch, eine andere Form von Wahrheit, eine „schwebende Wahrheit“ zu fassen zu kriegen. Insofern wäre es ein sehr subjektiver Film darüber, wie sie den Ort wahrnehme.
Hedinger fragt nach der Chronologie und beschreibt die Bewegung des Films vom Anfang, wenn die Menschen nur als kleine Punkte aus großer Distanz zu sehen sind, hin zu Bildern, in denen man ihnen näherkommt, sie sprechen hört und Protagonist:innen identifizieren kann. Er hakt nach, ob sie sich dem so chronologisch angenähert habe, wie das der Film suggeriert. Vögele erwidert, dass die Dramaturgie konstruiert sei. Die iranische Familie aus dem Irak hätten sie beispielsweise schon am ersten Recherchetag gedreht, ohne damals zu begreifen, wie selten die Situation sein würde.
Anknüpfend an die Thematik der Konstruktion fragt der Moderator nach dem Verhältnis von Beobachtung und Inszenierung. Wieviel ist beobachtet, wieviel inszeniert? Wenn Menschengruppen in den Totalen durchs Bild laufen, habe sie darauf gewartet oder das Bild initiiert? Die Filmemacherin erwidert entschieden, sie würde niemals Migrant:innen bitten, nochmal durchs Bild zu laufen. Sie hätten gewartet und sie vorbeilaufen lassen, um dann im Nachhinein nach ihrer Erlaubnis zu fragen. Generell habe sie die migrantischen Menschen nicht inszeniert, im Gegensatz zu den Dorfbewohner:innen, die sie gebeten hätte, einige im Recherchekontext erlebte Situationen und Gespräche nochmal vor der Kamera weiterzuführen.
Als es um den klaren Gestaltungswillen von „The Landscape and the Fury“ geht, hebt Hedinger das 16mm-Filmmaterial und die genau komponierten Bilder hervor und es wird klar, dass diese in einer durch großes Vertrauen und große Freiheit geprägten und schon lange andauernden Zusammenarbeit mit dem Kameramann Stefan Sick entstanden sind. Natürlich habe das Drehen auf Film dabei auch den Prozess beeinflusst. Mit einer Filmrolle und 11 Minuten Material für einen Tag bestand der Drehprozess vor allem aus fokussiertem warten. Vögele betont die dadurch entstandene Spannung und die Aufmerksamkeit. Für einen so freien Film sei die Beschränkung durch das Material auch ein gutes Limit gewesen.
Eine kritische Stimme aus dem Publikum spricht über die innere Zeitgrenze der einzelnen Einstellungen und die Dauer des Films. „Wieso so langsam? Wieso so lang?“ Die Bilder würden dadurch weder wahnsinniger noch ästhetischer. Weiterhin ergänzt sie eine Problematisierung der Betrachtungs-/Inszenierungsdichotomie und fragt, ob die Betrachtung der Natur nicht auch eine Inszenierung sei?
Nonchalant kontert Vögele, das sei nun mal ihre Art Filme zu machen. Ein Satz, mit dem in Duisburg so oder so ähnlich auch in diesem Jahr schon so mancher Dialog verweigert wurde. Nicht so hier: Die Filmemacherin fährt fort, ihre Entscheidungen in Bezug auf die Dauer zu erläutern. Es sei „ihr Pace“, den sie ermöglichen möchte. Und obwohl sie hinzufügt, ihre Filme nicht theoretisieren zu müssen, öffnet sie weiterhin ihren Gedankenraum für das Publikum. Ihrer Auffassung nach gäbe es durch die Dauer die Möglichkeit, tiefer in einzutauchen. „Was macht das Gehirn, wenn wir länger schauen, als wir brauchen, um die Informationen im Bild wahrzunehmen?“ Die „Dehnung des Bildes“, dieser Erfahrungsraum, interessiere sie. Zur Inszenierung der Landschaft fügt sie hinzu, dass wir gewissermaßen immer inszenieren, sobald wir eine Kamera aufstellen. Und auch Hedinger ergänzt, Betrachtung sei doch Inszenierung.
Das letzte Kommentar aus dem Saal kommt von Filmemacherin Maria Lisa Pichler: Sie empfand „The Landscape and the Fury“ als gute Ergänzung zu „Dear Beautiful Beloved“ am gestrigen Abend. Außerdem kenne sie selbst das Warten und die damit verbundene Anstrengung sehr gut aus ihrer Filmpraxis.
Vögele betont die Langeweile beim Drehen und das darüber hinausgehen, das Aushalten. Ihr habe es geholfen, sich immer etwas vorzunehmen und nicht auf etwas Großes zu warten. Man müsse „stoisch“ sein und sich auch mal zwingen, dann beginne man jedoch, Dinge anders anzuschauen und anders zu hören. Lachend schließt sie, dass es aber auch manchmal so anstrengend sei, dass man einfach „einen Treat“ brauche, eine Pommes zum Beispiel. „Ich glaube wir brauchen so langsam auch alle eine Pommes“ erwidert Hedinger und entlässt das – nun hoffentlich anders schauende und anders hörende – Publikum in die Nacht.