Synopse
Eine Realität am Hamburger Hauptbahnhof: Noahs Leben ist vom Kampf mit der Heroinsucht geprägt. Prostitution für Stoff und Geld und Wohnung. Zur Linderung: Oreo-Milchshake, Bubble Tea und Gummibärchen. Zwischen den Aufnahmen von Noahs Point-and-Shoot-Kamera und dem Videobild des Regisseurs entsteht ein Porträt von Noahs Alltag, geprägt durch beiderseitige Wahrnehmung im zärtlichen Beisammensein.
Protokoll
Die morgendliche Diskussion nach dem Eröffnungsabend ist gut gefüllt. Die Besonderheit bei dieser Vorstellung war, dass der Film „HAUBI“ von Nizan Kasper auch Teil des Programms von doxs! dokumentarfilme für kinder und jugendliche ist, die den Raum füllen und mit ihren kurzen prägnanten Fragen, die Gesprächsrunde bereichern: Was ist die Botschaft des Filmes? Was kam nicht in den Film? Was hat es mit dem Titel auf sich? Steckt die Antwort auf letztere schon in der Filmbeschreibung, verblüffte doch die Ausführung des Filmemachers, denn „HAUBI“ ist gar kein gängiger Spitzname für den Hamburger Hauptbahnhof, wie sich daraus annehmen lässt. Der Filmemacher hörte ihn zum ersten Mal als er mit 12- bis 13-jährigen vor Ort ins Gespräch gekommen war, die zuhause rausgeschmissen wurden. Sie kamen unter im kids, einer Hilfseinrichtung für junge obdachlose Personen in Hamburg, über die er auch seinen Protagonisten Noah kennenlernte.
Die Idee zum Film, nach der Holzapfel als Einstieg fragt, aber entspringt einem persönlichen Zugang, familiären Vorerfahrungen, die entsprechend der Haltung des Filmes nicht weiter erläutert werden. Denn das Naheliegende über den biografischen Hintergrund zu Drogensucht und Obdachlosigkeit seines Protagonisten zu sprechen zu kommen, wird in „HAUBI“ wunderbar ausgespart (das könne man sich ja selbst vorstellen). Stattdessen sehen wir eine Annäherung, die die Grenzen zwischen Filmenden und Gefilmten auflöst; liebevolle Aufnahmen einer Begegnung, die im Jetzt verhaftet sind und „keinen Strich, kein Fazit ziehen“ möchten. Die Botschaft des Filmes, die hier so von Kasper in Worte gefasst wird, vermittelt sich durch dessen Offenheit und Experimentierfreude, genauso wie die Kapitallogik der Großstadt bekannterweise das unsichtbar zu machen und verdrängen versucht, was sie selbst produziert. Dagegen stelle sich der Film. Der Bahnhof als Lebensmittelpunkt, Umschlags- und Konsumort wird hier spielerisch mittels Video, Fotografie und Sound zu einer Collage zusammengesetzt.
Aus dem Publikum lobt Britta Hartmann das visuelle Konzept des Filmes, die Ausdehnung der Momente, den Verfremdungsansatz. Kasper führt aus, wie die filmische Form als Annäherung an Noahs schüchtern-offenen Charakter zu verstehen ist, an dessen Vorliebe für antifaschistische Punkmusik, asiatischem Essen und Animes. Dem abbrechenden Bild, aus Respekt vor Menschen und ihrer Umgebung, steht ein Überhang an Ton gegenüber, dessen Seitenverhältnis mittels Standbilder und Fotos gestaltet wurde, die auch Noahs Blick entstammen und sich besonders für die Inschriften der Stadt interessieren. Diesem Blick folgt auch Kaspers Handkamera immer wieder aufmerksam und schaut hin, wenn Noah sagt, „das interessiert mich irgendwie“, oder „das passt doch“.
Letztlich gab auch eine solche Inschrift an einem Klingelschild den Ausschlag, sich dem „Thema“ erneut zu widmen, dem sich Kaspar zunächst entzog. Wo bist du? markiert das Verschwinden einer Person, die in Drogendealerei involviert war und dann verschwand. Doch wo genau ein Leben auf der Straße beginnt, interessiert den Film nicht, sondern wie es stattfindet, sich ausdrückt und einschreibt, auf Körper und Architektur. Den Zugang zum Dokumentarfilm fand Kasper durch die Produktion von Skateboard-Videos, worauf er nach einem Verweis der Moderation zu sprechen kommt. Eine Praxis, die sich auch durch die Aneignung von Stadtraum auszeichnet. Als jugend- und popkulturelles Phänomen wurde ihm dies an der Kunsthochschule von Professoren im Sprechen darüber eher „madig“ gemacht, doch bewege es sich hier für ihn aufeinander zu. Holzapfel lobt dies als die „stilistische Kohärenz“ des Filmes, der sich auf der Straße entwickele. Eine Szene fiel ihm dabei besonders auf: ein Blick von oben auf einen Tanz, musikalisch unterlegt, dabei Fragen von Zeit und Glauben evozierend. Von diesem abstrakten Moment hätte der Filmemacher gerne noch mehr drin gehabt. „Das Leben in Sucht ist die ultimative Wiederholung“.
Ein weiteres Lob des Moderators bezieht sich auf den transparenten Umgang damit, dass es eine monetäre Abmachung zwischen den beiden gab. Dieser ökonomische Aspekt und die moralische Frage nach dem Umgang mit Geld werden an späterer Stelle noch einmal vom Publikum aufgegriffen. Für Kasper war es wichtig, Noah eine Entschädigung für dessen Expertise zu zahlen ohne die entmündigende Frage, was mit dem Geld passiert, vorzuschieben. Die Sicherheitsvorkehrung, dies gestückelt zu tun, da es die Summe sei, die in der Drogenszene gefährlich werden kann, deutet auf die ethische Beratung, die in Anspruch genommen wurde und auch in der Frage eines Schülers aufkommt. Als männlicher Filmemacher ganz ohne Team war es der Umgang mit Noahs Transidentität, wofür er sich Rat einholte, nebst dem Komplex Sexarbeit und Drogenkonsum, der auch aus eigenem Schutz keine Abbildung findet.
Die Bedachtheit, das Vertrauen und die Aufmerksamkeit, die aus den Ausführungen Kaspers sprechen, lassen aber das implizit Traumatische und die Betroffenheit des (Film)Erlebens nicht von der Hand weisen. Eine anwesende Lehrerin befindet, dass gerade die Leerstellen, die der Film hinterlässt in seiner Aussparung von Vergangenem, sie sehr mitgenommen haben: „Da findet noch ein Film statt, […] die Bilder im Kopf“, hervorgerufen durch die Erwähnung der Mutter oder den Anblick vernarbter Arme. Ein im Film präsentes Graffiti-Tag mit den Worten Kunst muss heilen, auf das die Frage zur Ökonomie des Filmes Bezug nahm, markierte für Kasper auch einen Wendepunkt im Film, eine „Krise“. Für ihn sei der Prozess des Kunstmachens ein Heilungsprozess, den man jedoch nicht vom Film selbst verlangen dürfe. Seine Hoffnung liege darin, dass Noah ebenfalls im eigenen Kunstschaffen Heilsames findet. Wer macht einen Film, wer profitiert davon oder kann es sich überhaupt leisten, sind die Fragen, die hier aufgeworfen wurden. Was die Kunst dabei vermag, schwebt darüber.