Synopse
„Es ist vorbei, ich gehe in die nächste Welt“: In überfüllten Notunterkünften warten Alte und Kranke auf den nächsten Transfer. Eilig wurden sie aus ihren Häusern geholt und sind quer durch die Ukraine unterwegs auf der Suche nach einem sicheren Ort. Indes bergen und identifizieren Forensiker:innen und Militärs an der Front die toten Soldaten und bringen sie zurück zu ihren Angehörigen. Transitwege durch ein verwundetes Land, das sich mit Strukturen der Solidarität und Fürsorge gegen die russische Invasion stemmt.
Protokoll
Obwohl Juri Rechinsky die Einführung zu seinem Film mit der Ermutigung „A good recipe against the feeling of helplessness“ geschlossen hatte, lässt sich die Atmosphäre im Diskussionssaal nur als beklommen beschreiben. Das liegt einerseits an den politischen Ereignissen des Tages, da die Wiederwahl Donald Trumps auch Folgen für die militärische Unterstützung der Ukraine haben könnte. Andererseits an dem Film und seinen Bildern, die alle noch verdauen müssen.
Entsprechend behutsam eröffnet Ute Adamczewski das Gespräch und steigt mit der Frage ein, ob Rechinsky, der in der Ukraine aufwuchs und seit 10 Jahren in Wien lebt, einen inneren Zwang verspürt habe, diesen Film zu machen. Auch der Regisseur tastet sich in seiner Antwort langsam vorwärts und beschreibt, wie er den 24. Februar 2022 und die Zeit danach erlebt hat. Mit der Nachricht von dem Überfall Russlands auf die Ukraine aufzuwachen sei für ihn und für alle, die er kenne, der schrecklichste Moment seines Lebens gewesen. Einen Film zu machen sei dabei das letzte, woran er gedacht habe. Er schildert, wie er in den ersten Tagen und Wochen nach Kriegsbeginn täglich überlegt habe, was er tun könne: Sich beim Militär melden? Oder als freiwilliger Helfer, um medizinisches Material an die Front zu liefern? Alles habe sich falsch angefühlt, bis seine Schwester ihm geraten habe, keine Aufgabe zu übernehmen, die auch andere leisten könnten. Er solle besser das machen, was er schon gut könne. Aus dem Gefühl heraus, dass Filme nichts verändern und auch diesen Krieg nicht verhindert hätten, habe er sich zuerst gegen diese Idee gesträubt. Kurz darauf meldete sich eine österreichische Produktionsfirma bei ihm, bat ihm eine Förderung für ein Projekt in Zusammenhang mit dem Krieg an. Rechinsky entschied, an der Grenze zu Ungarn zu drehen, wo er schon zuvor Geflüchtete abgeholt und Menschen beobachtet hatte. In diesem Moment habe er sich seit Wochen zum ersten Mal wieder wie am richtigen Ort gefühlt.
Noch wagt niemand, über die Form des Films zu sprechen. Adamczewski möchte mehr über den immersiven Einstieg wissen, mit dem uns der Film in die Dringlichkeit und Bedrohung der Evakuierung hineinwirft, die in jeder Einstellung und jedem Heulen der Sirenen spürbar ist. Rechinsky berichtet, wie er sein Filmteam nach ihren Erfahrungen in solchen Extremsituationen ausgewählt habe, auch weil sie „wissen, wie man überlebt“, von der Recherche und der Kontaktaufnahme, die dem Dreh vorausging und dem britischen Paar – sie Büroangestellte, er Farmer – die noch immer in der Ukraine sind und deren Engagement ihn tief beeindruckt.
Alejandro Bachmann wagt sich vor und fragt nach den Szenen, in denen Menschen sich direkt an das Filmteam wenden und die Reaktion jedes Mal durch den Schnitt ausgespart bleibt. Rechinsky erwidert, er und sein Team seien nicht wichtig und keine Figuren in dieser Geschichte. Josip Sosic möchte wissen, wie Rechinsky Charakterisierung der Protagonist:innen in den drei Handlungsstränge gelungen sei. Michael Baute sagt, ihm sei alles absolut verzweifelt erschienen, es habe ihn aber beeindruckt, keinerlei Sensationalisierung im Film erlebt zu haben. Er möchte wissen, welche Überlegungen es vorab gab, um die Würde der im Film gezeigten Menschen zu bewahren.
Diese Frage nach der Würde ist zentral und wird in verschiedenen Abwandlungen formuliert. Rechinsky erklärt, er habe schnell gemerkt, dass die Evakuierung der alten Menschen und die Bergung der gefallenen Soldaten andere bildsprachliche Herangehensweisen erfordere. Zu den Evakuierten bauten er und sein Team eine Beziehung auf, während der gemeinsam verbrachten Zeit im Zug und in der provisorischen Unterkunft. So wurde es möglich und erschien angemessen, sie aus der Nähe zu zeigen.
Der Handlungsstrang, in dem es um die Bergungen geht, habe eine größere Distanz der Kamera erfordert. Zum einen, weil niemand tote Menschen so frontal sehen wollen würde, zum anderen, weil sie nicht in ihren verletzlichsten Momenten exponiert werden sollten. Auch die Namen der Getöteten wurden geändert. Er habe stets versucht, die Perspektive der Angehörigen einzunehmen um zu entscheiden, was wie gezeigt werden kann und was die Pietät verbietet. Den LKW-Fahrer und die junge Frau, die die Verstorbenen zu ihren Familien im ganzen Land bringen, begleitete das Filmteam auf einer dreitägigen Fahrt. Zwei Kameras waren im Fahrerhaus, eine im Wagen dahinter positioniert. Auf der 72 Stunden dauernden Route schlief das Filmteam nur vier Stunden und verpassten dennoch Ereignisse, weil sie einfach zu erschöpft waren, um schnell zu reagieren und zu filmen.
Ein Zuschauer möchte mehr über die Szene im Leichenschauhaus und die hier gewählte Perspektive wissen. Für Rechinsky stellt das eine bewusste Ausnahme seiner eigenen Regel dar. Er war beeindruckt von der Zärtlichkeit, mit der der Pathologe den Körper behandle und wasche, obwohl es eigentlich Routine sei. Er habe diese nahe Einstellung gewählt um zu zeigen, wie jung dieser Tote sei, wollte das Blut und seine Wunden sichtbar machen. Andere Einstellungen, die diese Distanz aufgeben, seien aber schlicht den Umständen geschuldet. Zu der Szene, in der die Kamera am Kopfende eines offenen Sarges positioniert ist und Angehörige beim Abschiednehmen beobachtet, kam das Angebot zu filmen unerwartet.
In einer schwer zu ertragenden Sequenz zu Beginn sehen wir eine Frau, die reanimiert werden muss. Ihr beim Sterben zuzusehen vermischt die formal unterschiedlichen Herangehensweisen eklatant, die ansonsten Lebende und Tote trennt. Ihr Schicksal offenbart sich erst im Gespräch: Sie starb, ihre letzten Momente sind in den Film eingeflossen, weil Kameramann Serhiy Stetsenko während des Notarzteinsatzes nicht von dort wegkonnte, wo er gerade stand. Warum dieses Material im Film verwendet wird, fragt aber niemand. Vielleicht aufgrund der Scham, aus der privilegierten und sicheren Position eines Ortes jenseits des Krieges heraus zu urteilen. Vielleicht auch, weil die ansonsten durchweg respektvolle Bildsprache und Rechinskys Auftreten davon zeugen, dass hier keine Regie- und Montage-Entscheidung leichtfertig getroffen wurde.