Nadine Voß

Schichtzulage: Auf der Suche

„Werner Ruzicka eröffnet die Diskussion mit der Feststellung, dass alle Ruhrgebietler Fachleute für diesen Film sind“: Unten Links“ (Holger Mohaupt, 2008) ist ein Dokumentarfilm über Menschen aus der Gegend, in der ich aufgewachsen bin. Macht Herkunft die Expertin? Ich befürchte, zumindest mich betreffend, Gegenteiliges.

Mitten in den weit fortgeschrittenen Strukturwandel hineingeboren, streiften Vergangenheit und Veränderung des Ruhrgebiets meine Lebensrealität vorrangig in Gestalt einer Halde in Sichtweite des Elternhauses. Aus der die Kinderhände schwarz färbenden Riesendüne wurde im Laufe der Zeit eine begrünte Naherholungsstätte mit ausgebauter Wegeführung, auf deren Spitze nun überdimensionale Kunst altert. Irgendwo zwischen schwarzer Düne und Schimanski-Vorspann, bei Hochkultur vor Schloten und Schächten, zu Grönemeyer und Petry überlagern sich Abbild und Erinnerung. Die „Faszination der Filmer für die Dramatik der Hochöfen“ entspringe der Distanz, der Perspektive derjenigen, die mit der tatsächlichen Arbeit dort nichts zu tun hätten, wird 1993 auf der Filmwoche während einer Diskussion zur Causa Rheinhausen geäußert. Aus derselben Distanz heraus sehe ich Filme über eine Landschaft, mein Zuhause, die ihre Vergangenheit zeichenhaft vor sich herträgt, und bin dabei statt Expertin eher Außenstehende und Beobachterin, auf der Suche danach, im Abbild die Identität der Region zu begreifen.

Göttliche Lage – Eine Stadt erfindet sich neu von Ulrike Franke, Michael Loeken

Das Ruhrgebiet zieht sich thematisch durch die Duisburger Programme und Protokolle. Es ist nicht schwer zu finden, aber auch hier: schwer zu (be)greifen. Die Darstellung entzieht sich der Eindeutigkeit, ist mal jene ästhetische Faszination, die „Verführung zur bildfüllenden Industrielandschaft“, hier Schauplatz „nachindustrieller Sinnsuche“, dort Szenerie für Kumpels, Kampf und Klasse. Aus Politikum wird Brachfläche wird Freizeit- und Kulturort. Ein aus der Zeit gefallener Platz, wo die Dinge schon passiert, nicht ganz vorbei und noch nicht angefangen sind. Bruchstückhaft scheinen die verschiedenen Schichten der Identität des Ruhrgebiets auf, immer wieder sind Leerstellen und Lückenhaftes spürbar: in den Filmen, den Gesprächen, den Erwartungshaltungen.

Vielschichtig die filmischen Gesichter der Region: Im Ringen um Bilder und Geschichten, die über den reinen Zeichencharakter der Landschaft, eine „ästhetischen Überhöhung der Industrieanlagen“ hinausgehen, schauen die Dokumentarfilme des Ruhrgebiets auf den Wandel. Zwei, drei Standorte“  (Martina Müller, 2010) widmet sich der Unabgeschlossenheit der Orte, die noch nicht der Vergangenheit angehören und an denen Zukünftiges noch nicht angekommen ist. Der Blick nach vorne dokumentiert Prozesse der Umnutzung alter Industrieflächen, Skepsis und Akzeptanz in der Etablierung neuer Wohn- und Freizeitareale („Göttliche Lage – Eine Stadt erfindet sich neu“,Ulrike Franke/Michael Loeken, 2014). Der Blick zurück will in Auflösung begriffene Traditionen der Arbeiterkultur festhalten („,Mein Vater war Bergmann‘ – Auf der Suche nach alten Liedern im RuhgebietDietrich Schubert, 1978), ebenso wie die fast verschwundene Arbeit, im Sinne des Handwerks, selbst („Matte Wetter – Arbeit unter Tage“, Werner Ružička/Theo Janßen, 1981).

Ruhr von James Benning 

Vielschichtig ebenfalls die Duisburger Podien, die sich ums Ruhrgebiet drehen: Auch hier wird gerungen, um das Verhältnis und die Verhältnismäßigkeit von Abbild, Selbstbild, Fremdbild. Über die adäquate Darstellung einer Stadt und ihrer Bewohner:innen, changierend zwischen politischem Impetus und stereotyper Inszenierung von „Kaputtheit“ und „Trostlosigkeit“, streiten Filmemacher Robert Bosshard und Friedhelm Schrooten mit dem Publikum zweifach im Rahmen ihrer Arbeiten „Duisburg – knapp verfilmt“ (1984) und Eine Stadt verliert ihre Fassung“ (1986). Der Dokumentarfilm Inmitten von Deutschland“ (Christoph Hübner/Gabriele Voss, 1982) über den Ort Bottrop-Ebel entstand unter dem Anliegen, „ein für alle Beteiligten akzeptables Bild“ zu erstellen – und scheiterte aus Sicht der Diskutierenden genau daran: Die Nähe der Regie zu den Protagonist:innen verschließe den Zugang zum Ort, verweise das Publikum in die Distanz; der formulierte Versuch, ein authentisches Abbild zu zeigen, wird im Gespräch als spannungsloser Kompromiss abgeurteilt. Welche Rolle spielt – sollte, darf spielen – die Haltung der Filmenden hinsichtlich der Bildproduktion? Der Arbeitskampf um die Erhaltung des Standorts Rheinhausen 1987/88 führt auf der Filmwoche zu Diskussionen über dessen kurzzeitig massive mediale und bildliche Aufmerksamkeit. Sprechen Beteiligte 1988 bezüglich der Rheinhausen-Berichterstattung über die „Bedeutendeste“ im Berufsleben, bei der angesichts der Existenzialität des Arbeitskampfes die eigene Objektivität schnell der Solidarität mit den Kämpfenden gewichen sei, wird fünf Jahre später das Thema abermals befragt, u.a. auf eine mediale „gefühlsbeladene Nähe zu den Betroffenen“ hin, und mitunter resümiert: „Wo der Film ,Sprachrohr einer Bewegung‘ wird, schleicht sich Unechtes ein“. Welche Bilder des Ruhrgebiets sind die „Echten“, die „Richtigen“? Anknüpfend an die städtische Verweigerung einer Drehgenehmigung entbrennt ein Streitgespräch auf dem Panel „Heimat – deine Filme. Das Ruhrgebiet in den Medien“. Auf der einen Seite der Vorwurf von Undifferenziertheit, Einseitigkeit und immergleichen Negativ-Bildern, gar einer Verantwortungslosigkeit gegenüber dem Ruhrgebiet, auf der Gegenseite die Forderung, „man solle doch nicht die Kausalität verkehren und die Filmemacher für die Strukturkrise des Ruhrgebiets verantwortlich machen“.

Kontroverse Vorstellungen und Erwartungen begleiten die Duisburger Diskussionen im Abgleich von Selbst- und Fremdbild; manchmal findet sich der Abgleich auch schon als integraler Bestandteil der filmischen Auseinandersetzung. In diesem Jahr zeigt die Filmwoche als En Plus einen Film, der bereits in meinem Geburtsjahr 1986 programmiert war: Konzeptionell damals schon kritisch diskutiert, dokumentiert Ethnologin und Regisseurin Barbara Keifenheim in „Naua Huni“ die Reaktionen peruanischer Indigener auf Bilder des Ruhrgebiets. Kulturen, Ökonomien und Perspektiven reiben sich in „Losers and Winners“ (Ulrike Franke/Michael Loeken, 2006), wenn eine Dortmunder Kokerei für ihren Wiederaufbau in China demontiert wird. Der amerikanische Filmemacher James Benning drehte den ersten Film außerhalb seiner Heimat im ihm unbekannten Ruhrgebiet und findet Parallelen zu Industrie- und Arbeitergebieten in seiner Geburtsstadt Milwaukee („Ruhr“, 2009). Szenenwechsel, andersherum: Rainer Komers will keinen Film über das Ruhrgebiet machen und dreht in der kalifornischen Wüste. Auf dem Duisburger Podium erzählt er von dortigen Reminiszenzen ans Ruhrgebiet („Barstow, California“, 2018).

Barstow, California von Rainer Komers 

Szenenwechsel auch hier. Kürzlich, auf der anderen Seite der Republik: In einer Berliner Eckkneipe sitze ich mit drei fast halb so jungen Ruhrgebietlern zufällig an derselben Theke. Zu fortgeschrittener Stunde freuen wir uns über „Bochum“, einer der Drei ist Kind eines Mitarbeiters der letzten geschlossenen Zeche im Ruhrgebiet. Strukturwandel ist für ihn mehr als eine Halde in Sichtweite, unsere Lebensrealitäten haben ungefähr soviel gemeinsam wie Herbert Grönemeyer mit Wolfgang Petry, im musikalischen Sinne. Experten fürs Ruhrgebiet sind wir sicherlich beide nicht, aber bei aller Unentschiedenheit und Unabgeschlossenheit liegt in den Schichten der Ruhrgebiets-Identität die Möglichkeit zu Begegnungen, an Berliner Theken ebenso wie in Dokumentarfilmen und auf Duisburgs Podien.