Silvia Hallensleben

Schichtzulage: Auf eigene Faust

1.

Zuletzt medial präsent waren die Umstände beim Schaffen deutscher Dokumentarfilme bei der Auseinandersetzung um den Film  „Lovemobil“ in diesem Frühjahr. Da hatte Regisseurin Elke Lehrenkrauss als Erklärung für den Einsatz von Drehbuch und Darstellern bei ihrem Dokumentarfilm auch auf die prekären Bedingungen des Drehs für den NDR hingewiesen. In der Folge thematisierten auch andere aus der Branche öffentlich die Verschärfung der Situation in den letzten Jahrzehnten. Dabei treffen verengte vorformatierte Vorstellungen der Sender von den erwünschten Endprodukten und zu knappe Zeitpläne und Honorare auf mangelnde interne Kooperation und zunehmende Konkurrenz unter den Filmemacher:innen, die in immer größerer Anzahl aus den Filmschulen auf den Markt entlassen werden. 

Lovemobil von Elke Lehrenkrauss

Es wäre interessant gewesen, wie „Lovemobil“ auf der Duisburger Filmwoche diskutiert worden wäre (aber es ist sicherlich kein Zufall, dass er hier nicht gelaufen ist). Über die Produktionsbedingungen von Dokumentarfilmen wurde und wird aber regelmäßig gesprochen, wenn auch nach Auskunft der Protokolle zu unterschiedlichen Zeiten in sehr unterschiedlichem Ausmaß. Mag sein, dass manchen Moderator:innen das Sujet doch zu profan war. Vielleicht hat aber auch jemand bei der Verschlagwortung schlampig gearbeitet. Oder die eigensinnigen Protokollant:innen fanden die entsprechenden Ausführungen nicht der Aufzeichnung wert. Wegen solcher Ambivalenzen habe ich protokult.de nicht als Datenbank für eine empirische Recherche genutzt, sondern als Anlass für einen persönlichen Spaziergang auf den Spuren der materiellen Basis dokumentarischen Filmemachens.

2.

Die bewegt sich von den behaupteten 300 DM für den Super-8-Film „Duisburg – knapp verfilmt“ von Robert Bosshard und Friedhelm Schrooten (DE 1984) bis zu der von Protkollantin Ursula Bessen aufgezeichneten Aussage Jutta Brückner, ihr Film „Hungerjahre“ sei mit 500.000 DM „überkapitalisiert“ gewesen (damals liefen auch noch Spielfilme auf der Filmwoche). Es gab individuelle subversive List: Er habe für „Emigration“ (1979) die „Finanzbürokratie der Hochschule durch schnelles Arbeiten vor vollendete Tatsachen gestellt“, zitiert Protokollantin Regine Halter Regisseur Nino Jacusso, „so dass dieser schließlich nichts anderes übrigblieb, als den Film so zu akzeptieren und auch zu bezahlen“. Von Beginn bis heute auch erstaunlich viele selbstfinanzierte Low-Budget-Produktionen, wobei Mitte der 1980er-Jahre und Anfang des Jahrtausends die Umbrüche durch Videotechnik und Digitalisierung spürbar sind. So wurde 1984 in Diskussionen von Video-Aktivisten die Larmoyanz arrivierterer Dokumentarfilmer im Ringen um Förderungen angeklagt. Bei „Sabbath in Paradise“ von Claudia Heuermann (DE 1997) haben alle Beteiligten umsonst mitgearbeitet, zitiert Protokollantin Judith Klinger die Regisseurin, ein Freund stellte für mehrere Monate einen Schnittplatz umsonst zur Verfügung, und sie selbst verdiente das nötige Geld als Cutterin bei PRO 7. „Alles Wissen & Technik & Arbeitszeit wurde umsonst geliehen. Bei Überzeugungstätern ist die Selbstausbeutungsrate hoch“ heißt es im Protokoll von Torsten Alisch zu „Rotweinrock und Lammfellmantel“ von Hannah Metten, Jan Gabbert (DE 2004).

Schöne Ironie. Aber stimmt das mit der Selbstausbeutung? Beim Studium der Protokolle stellt sich jedenfalls immer wieder die Frage, ob das eigentliche Missverhältnis nicht dort liegt, wo Filmemacher:innen in unbezahlte  Vorleistung gehen und sich für wenig Geld mit immer wieder neu überarbeiteten Treatments und nie realisierenden Drehbüchern  den Fernsehsendern anbiedern müssen. Ein recht typisches Beispiel ist „Steck lieber mal was ein – Ein Schüler wird Lehrling“ von Dietrich und Katharina Schubert (DE 1980), einer von der ZDF-Abteilung Dokumentarspiel, „finanzierten Langzeitbeobachtung“, für die erst einmal harte Überzeugungsarbeit geleistet werden musste. Das Protokoll von Uli Opitz beschreibt das Weitere ausführlich. „Die Vorrecherche wurde nicht finanziert. Die Filmemacher hatten mehrere Monate gesucht, bis sie den „Hauptdarsteller” Gerd Zander gefunden hatten. Die verantwortliche Redakteurin war aber mit Gerd Zander nicht einverstanden, woraufhin die Filmemacher noch einmal drei Monate suchten. Dann sagten sie, entweder wir machen das Projekt mit Gerd oder gar nicht. (…) Schließlich gab es grünes Licht für die Finanzen (der Film hat insgesamt 220 000 DM gekostet), allerdings in einzelnen Raten, die jeweils nach Rohschnittfassungen der einzelnen Drehphasen bewilligt wurden. Ein Drehbuch musste aus Kalkulationsgründen der Anstalt angefertigt werden, für die konkrete Arbeit, die vor allem durch die Langzeitbeobachtung bestimmt wurde, konnte es jedoch nur als Gerüst dienen.“

Ein spezieller Fall sind Filme, die in Duisburg (auch) wegen ihrer sichtbar opulenten Produktionswerte auf Unmut stießen wie der von vier ARD-Sendern gemeinsam für 1,5 Millionen DM koproduzierte „Im Westen – alles nach Plan“ (DE 1990, Regie: Michael F. Huse, Hans-Peter Clahsen), der mit „formal aufwendiger Gestaltung“ (Protokollantin Judith Klinger) von Armut im Deutschland der Vor-Wiedervereinigung berichtet. „Marathon in New York“ von Jens-Uwe Scheffler (DE 1980) erregte so viel kollektive Ablehnung, dass beim Filmgespräch vorgeschlagen wurde, eine Resolution mit den „Gedanken der Diskussion“ an den zuständigen Redakteur beim NDR Max Rehbein zu senden, „um ihm die hier bestehende ablehnende Meinung“ mitzuteilen. Der Unwille entzündete sich einerseits an manipulativen Methoden und dem Umgang mit den Menschen im Film, aber auch an der Position Rehbeins beim NDR, der (so das Protokoll von Paul Hofmann) „dessen Dokumentarfilm-Etat (…) und sein Team fast vollständig beanspruchen“. Dieses würde „20 bis 30 wichtige Dokumentationen“ verhindern. 

3.

Einen anderen für einen Teil des aktuellen Dokumentarfilmschaffens zentralen Aspekt zeigen zwei Filme, die mit schon bestehenden Bildern arbeiten. So kommt ganz zu Ende eines langen Gesprächs mit dem Regisseur und Redakteur Werner Dütsch zu Hartmut Bitomskys „Reichsautobahn“ (DE 1986) die Rede auch auf die Produktionsbedingungen, wie Protokollant Michael Kwella berichtet. Und beide berichten, dass die ursprüngliche Idee war, den Film nur mit Archivmaterialien zu realisieren. Doch die Kosten wären so hoch gewesen, dass das Konzept geändert werden musste, berichten der Regisseur und Redakteur Werner Dütsch. „Bitomsky: Die eigenen Teile seien überhaupt nur gedreht worden, weil ein Film, vollständig aus Klammerteilen bestände, nicht zu finanzieren gewesen sei.“

Kulenkampffs Schuhe von Regina Schilling © zero one film

„Kulenkampffs Schuhe“ (Regie: Regina Schilling, DE 2018) arbeitet viel mit Archivmaterial bekannter TV-Unterhaltungsshows. Und im Gespräch zeigt sich in ganzer Schärfe eine Situation, die einen sinnvollen dokumentarischen Umgang mit kulturellen Zeugnissen der Vergangenheit weitgehend verhindert oder zumindest stark einschränkt. Protokoll Robert Dörre: „Schnell wird im Nachgang der Frage eine dringliche dokumentarpolitische Problemlage deutlich: Archivaufnahmen und deren Hüter scheinen Angehörige arkaner Traditionen zu sein, die ihre gut gehüteten Reliquien nur gegen schauererregend hohe Summen verleihen. Obwohl Schilling in der komfortablen Situation war, die hauseigenen Archive des fernsehfinanzierten Films nutzen zu können, macht ein kleines Rechenexempel des Produzenten Thomas Kufus die unhaltbaren Verhältnisse deutlich. Das Bildmaterial von Peter Alexander und Caterina Valente nimmt zwar weniger als fünf Minuten der Filmlaufzeit ein, ein Drittel des Budgets ist jedoch für den Kauf der entsprechenden Rechte verwendet worden, die notabene nur für Deutschland gelten und nach nicht einmal sieben Jahren erneut gezahlt werden müssen, möchte man den Film weiter zeigen dürfen.“

4.

Zum Abschluss dieser kleinen Wanderung schlage ich vor, im namenlosen Protokoll zu Hellmuth Costards „Der kleine Godard“ (1978) weiter zu lesen, das in einer detaillierten Mitschrift referiert, wie der Filmemacher auf eine Nachfrage von Gabriele Voss seine Korrespondenz mit dem Kuratorium junger deutscher Film erzählt.