Erhard Schüttpelz

Gute Projektion

„Mitten im Urwald tauchen Aufnahmen aus dem Ruhrgebiet auf. Von Männern, die in Bergwerken und Fabriken arbeiten, bunten Tapeten und klassischen Zwei-Kinder-Familien. Viele Jahre hat die Ethnologin Barbara Keifenheim Feldforschungen im peruanischen Amazonas-Gebiet betrieben. Nun konfrontiert sie den indigenen Stamm der Huni Kuin, der keine televisionären Bilder kennt, mit einem Kino der Fremdheit und Andersartigkeit. Ein Wechsel der Perspektive, bei dem die doppelte Bedeutung von „naua huni“ deutlich wird: weißer Mann und Halluzination.“ 

Programmheft der 45. Duisburger Filmwoche

Besser kann man es nicht zusammenfassen, und nach einem solchen Eingeständnis warten Sie alle vermutlich nur noch darauf, daß ich beiseite trete und dem Film „Gute Projektion!“ wünsche. Und das ist mein Stichwort für die nächste Viertelstunde, nämlich die Projektion und die gute Projektion.

Als der Film 1986 gezeigt wurde, gab es anscheinend eine lebhafte oder sogar ziemlich heftige Diskussion, und zwar über unser Weltbild und unsere Bilder von der Welt. Im Protokoll der Diskussion steht folgende Anmerkung:

Einige Diskussionsbeiträge „bezogen sich auf die Auswahl der den Indianern gezeigten Bilder von Ruhrgebiet und Bergbau. An den selbst mythologischen Gehalt dieser Bilder wurde erinnert, an die Bergbaumythologie der frühen Industrialisierung. Eine Diskussionsteilnehmerin spitzte diese Fragen zu mit der Bemerkung, diese Bilder des Ruhrgebiets bisher selbst nur in Filmen gesehen zu haben. Metall bezeichne, meinte W. Ruzicka bezogen auf „Naua Huni’s“ Bilder vom Ruhrgebiet, in der Tat eine selbst bereits archaische Form von Arbeit, die im Niedergang sich befinde; womöglich seien inzwischen Menschen an Bildschirmarbeitsplätzen ein zeitgemäßes Bild.“

Protokoll zum Film bei der Duisburger Filmwoche, 1986

Der Film fiel mit seinen Bildern, so kann man die Diskussion von damals verstehen, mitten in den Umbruch des Landes Nordrhein-Westfalen, eine Identitätskrise, die wir bis heute nicht ausgestanden haben, und damit in eine Periode der intensiven Projektion in die Zukunft, dessen, was nach der Industrialisierung oder „nach dem Metall“ kommen würde. Über den Amazonaswald und dessen Umbruch wurde damals hier nicht diskutiert, zumindest nicht im Protokoll, aber wenn Sie die Zeitungen von heute aufschlagen, ist dieser Teil der Welt für die Weltöffentlichkeit mittlerweile ein wichtigeres Thema, sehr viel entscheidender als der Umbruch im Ruhrgebiet, und zwar für alle Leute überall auf der Welt. Daran sehen wir, wie zeitabhängig unsere Sicht auf die Welt und auf ihre Filmbilder ist, und wie sehr sie auf Projektionen beruht. 

Projektionen: Einmal ganz wörtlich, wie in der Projektion der Erdoberfläche auf eine Kugel, den Globus, oder wie in der Projektion von Filmbildern auf eine Leinwand, mit einer Geschwindigkeit unterhalb der Wahrnehmungsschwelle. 

Aber auch in der Projektion unserer Vorstellungen von Zentrum und Peripherie, von Himmelsrichtungen und globalen Verbindungen. Das Wort der „Globalisierung“ ist schließlich vom „Globus“ abgeleitet, aus einer Projektionstechnik, und erzeugt vielleicht auch darum immer wieder das Gefühl, wir könnten auf einen Globus schauen und aus ihm unser Schicksal ablesen. Und dieses globale oder globalisierte Schicksal hat sich gedreht.  Was damals als Peripherie erschien, der Amazonaswald, ist heute ein Zentrum, nicht nur für seine Bewohner und für Umweltaktivisten, sondern auch für die Klima-Wissenschaftler und für uns alle. Und was uns damals zentral erschien, das industrielle und wirtschaftliche Schwergewicht Europas und der Welt hier im Ruhrgebiet, ist heute auch eine Peripherie des Weltsystems, etwa als letzter Ausläufer der Lieferketten der von China geplanten „Neuen Seidenstrasse“, die im Duisburger Hafen endet – und nicht etwa beginnt. 

Es hat sich also einiges gedreht zwischen dem Amazonas und dem Ruhrgebiet. Damals ging es um zwei Weltgegenden, die so weit aus einander schienen, daß sie keine Berührung hatten, außer durch das Tropenholz, das damals noch ganz ungeniert vermarktet wurde. 

Der Film „Nava Huni“ spielt in einer Gegend an den Oberläufen des Amazonasgebiets, in einem Rückzugsgebiet von indigenen Gruppen, die sich nicht unterwerfen und nicht in die Ordnung der Außenwelt eingliedern wollten und auch heute nicht wollen, weder in die staatliche noch in die gesellschaftliche und erst recht keine globalisierte Welt. Pierre Clastres nannte sie „Gesellschaften gegen den Staat“ oder „Staatsfeinde“. 

Und der Film-im-Film spielt in einer Weltgegend namens „Ruhrgebiet“ oder „Duisburg“, die vorübergehend im Zentrum der Industriegeschichte gestanden hatte und aus dieser Zentralstellung eher unfreiwillig entlassen wurde.

Unser globales, unser planetarisches und unser ökologisches Weltbewusstsein war 1986 noch durch den Kalten Krieg blockiert, aber es stand schon auf dem Sprung. In unseren Zeitungen steht mittlerweile, daß es die Bewohner des Amazonaswalds sind, also solche Leute, wie wir sie gleich im Film sehen werden, die wir in Ruhe lassen sollten, damit der Wald und seine Weltgegend nicht gefährdet werden, weil nur die langfristigen Bewohner dieses Waldes wissen, wie man mit ihm und seiner Artenvielfalt umgeht, aber auch, wie man Feuer legt, die größere Feuer verhindern und die Fruchtbarkeit der Flora und Fauna fördern – zugunsten des Amazonas, des Weltklimas und damit auch unserer Welt. 

Das Ruhrgebiet hingegen hat sich zu großen Teilen in eine Parklandschaft verwandelt,  und die Industrialisierung ist zu einer Bildlandschaft geworden, zu „Industriekultur“ und „Industriedenkmälern“. Für alle unter uns, die nach dem Film geboren wurden, ist das eine Selbstverständlichkeit, für alle, die damals so alt waren wie die nachher Geborenen heute, ist das immer noch ein echter Schock, und die Erfahrung einer radikalen Verwandlung, die man kaum begreifen konnte.

Ich selbst komme vom unteren Niederrhein, knapp vor der Grenze zu den Niederlanden, und ich kann mich noch erinnern, wie man als Kind mit dem Auto auf Duisburg zufuhr und sich vor uns eine riesige Glocke aus Staub und Ruß emporwölbte, die aus immer grösser werdenden Schornsteinen in das gebrochene Licht der Sonne emporstieg, eine diffuse Wolkenglocke, in die man nach wenigen Kilometern mit dem Auto eintauchen würde wie in eine leicht benebelte Tagesdämmerung, durch die man bei geschlossenen Fenstern durchfahren konnte, bis man wieder an der frischen Luft war und die Rußspuren am Auto bewunderte, die nach der vorübergehenden Benebelung getrocknet waren. Das ist lange her, und wie man so schön sagt, schon so lange her, „daß es nicht mehr wahr ist“. Aber es war einmal die Basis dieser Gesellschaft oder sagen wir, ihrer Wirtschaftsform. Und mit den Folgen dieser Wirtschaftsform haben wir immer noch zu kämpfen, und zwar mittlerweile weltweit und als Weltgemeinschaft. 

Denn die Industrialisierung des Ruhrgebiets hat sich nur geographisch verlagert und findet anderswo statt, und zwar dort, wo die Lieferketten herkommen, deren Peripherie wir geworden sind. Daher würde ich den Diskussionsbeitrag von 1986 heute anders aufgreifen:

„Metall bezeichne, meinte W. Ruzicka bezogen auf „Naua Huni’s“ Bilder vom Ruhrgebiet, in der Tat eine selbst bereits archaische Form von Arbeit, die im Niedergang sich befinde; womöglich seien inzwischen Menschen an Bildschirmarbeitsplätzen ein zeitgemäßes Bild.“

Protokoll zum Film bei der Duisburger Filmwoche, 1986

Werner Ruzicka durfte das sagen, schließlich war er nicht nur der Leiter der Duisburger Filmwoche, sondern von 1978-82 Mitarbeiter am dokumentarischen Langzeit-Projekt „Prosper / Ebel – Eine Zeche und ihre Siedlung“, und zwar als Regisseur und Produktionsleiter. Daß ein Bild, und dann auch noch ein Klischeebild vom Ruhrgebiet eine solche Rolle in einem Film spielte, musste ihn ja ein wenig, wie sagt man so schön, anzipfen. Sein Einspruch in allen Ehren, trotzdem meine Anmerkung:

Metallverarbeitung und Bildschirmarbeitsplätze haben sich in der Globalisierung verbunden, beide sind mittlerweile eine archaische Form von Arbeit und so modern wie damals oder heute. Metallverarbeitung ist archaisch, aber sie hat kein Ende. Und wenn wir schon technologisch argumentieren:

Der Film von Barbara Keifenheim und Patrick Deshayes wurde als vielleicht erster Film überhaupt ausschließlich auf der Basis von Solarenergie gedreht. Stromleitungen gab es nicht, Batterien wären schnell unbrauchbar gewesen, ein Stromgenerator wäre vielleicht Anlaß zum Streit geworden, nämlich wer ihn nutzen darf und warum. Nur die Solarzellen blieben übrig, damals eine Pioniertechnologie. Das Filmemachen war unter den gegebenen Umständen ein archaischer Vorgang und durch die Solarzellen zugleich von übermorgen.

Wie wir diese Welt sehen und wie wir diese Welt datieren – archaisch, modern, damals und heute, zeitgemäß und unzeitgemäß – zwischen dem Ruhrgebiet und der Industrialisierung,  die immer noch die Grundlage unseres Reichtums ist, und dem Amazonaswald, der damals als Sehnsuchtsort und als Tropenholz-Reserve erschien, dann aber als ökologisches Wunder und unverzichtbare „Lunge“ der Erdatmosphäre, und jetzt als letztes Bollwerk vor dem Untergang der Welt, davon hängt einiges ab. Es ist eine Frage von Projektionen, zum Teil auch von Simulationen. Werden uns die Bewohner der letzten Urwälder dieser Welt überleben? Das ist nicht ausgeschlossen, solange es noch Wälder gibt. 

Aber war der Amazonaswald überhaupt ein Urwald? fragen heute die Archäologen. Ist der Amazonaswald vielmehr das Resultat des Zusammenbruchs von Gartenstädten und ausgiebiger Gartenwirtschaft, also eine verwilderte Parklandschaft, die sich in eine geschlossene Zirkulation der Stoffe und des Nahrungskreislaufs verwandelt hat, in eine Glocke, in der alle organischen Stoffe in anorganische und wiederum in organische verwandelt werden?

Die Bewohner des Amazonas und die Bewohner des Ruhrgebiets wären gar keine absoluten Gegensätze, und das wären sie auch 1986 nicht gewesen, sondern beide Gruppen von Weltbewohnern wären dann die Nachfahren eines großen ökologischen Umbruchs gewesen, eines jahrhundertelangen „Boom and Bust“. 

Und die Lebensform der Amazonasbewohner wäre nicht die einer archaischen Zeit, sondern eine perfekt angepasste Lebensbewältigung, die den ökologischen Zusammenbruch einer anderen Gesellschaftsordnung hinter sich hatte, also das, was uns noch in einem größeren Maßstab bevorstehen könnte. Das Ruhrgebiet verwandelt sich in eine Parklandschaft, und der Amazonaswald entstand zumindest in Teilen aus dem Areal von Gartenstädten. Könnten einige findige Ökologen und Gartenbau-Experten der Zukunft das Ruhrgebiet in einen Urwald verwandeln? Das würde auch von selbst geschehen, wenn alle Bewohner des Ruhrgebiets eine Generation lang Urlaub nehmen würden. Solange es noch Wälder gibt, und das rapide Wachstum einer verwilderten Natur.

Was können wir vom Amazonas lernen, mit oder ohne einen Urwald namens „Ruhrgebiet“? Wenn wir den Amazonaswald so dringend brauchen, und wenn wir von der Lebenskompetenz seiner Bewohner sogar abhängig geworden sind, wie sehen diese Bewohner die Welt, und wie sehen sie uns?

Der Film von Barbara Keifenheim und Patrick Deshayes gibt uns eine Chance, die Welt von zwei Seiten aus zu sehen: Wir sehen Leute, die allem Anschein nach „unsere Welt“ von außen sehen. Aber ist das nicht eine Illusion? Wie können sie unsere Welt sehen, wenn sie nie dort gewesen sind? Aber gilt das nicht auch für uns? Wir sehen eine Welt im Film, und dann haben wir sie gesehen?

Das Erstaunliche ist, daß die Huni Kuin in dem Moment, wo sie Duisburg sehen, sagen: das kennen wir schon. Und zwar aus unseren Träumen, oder aus unseren Visionen, aus den Bildern, die unsere Drogen hervorrufen. Aber warum sind wir darüber so erstaunt? Sollten wir nicht davon ausgehen, daß das überall so ist? Wir machen das ja auch, und wissen, vermutlich, genau so wenig, oder nichts. Ist das soviel anders als wenn wir einen Film über den Amazonas und seine Bewohner sehen und schon Bescheid wissen, ohne jemals da gewesen zu sein? Oder daß wir den Fernseher anmachen und sofort sagen: „Das kennen wir schon!“

Woher kommt die Fähigkeit, auf Anhieb zu sagen: „Das kenne ich schon!“? Muss man viele Bilder von einer Sache gesehen haben, um das zu sagen, oder wenige? Das scheint gar keinen Unterschied zu machen. Muss man konservativ oder offen für Neues sein? Auch das scheint ziemlich egal zu sein. Sind wir auf das Wiedererkennen programmiert oder geeicht? Aber wie? 

Hier kann man Unterschiede feststellen. Bei den Huni Kuin entstehen die Bilder, die man halluziniert, aus jahrelanger Übung. Die Quelle aller Muster ist, so wird von vielen Amazonasbewohnern gesagt, die „Haut der Anakonda“. Sie müssen sich das nur plastisch vorstellen, diese Haut schillert in allen Farben und in allen Mustern. Da kommen die Muster her, sagen die Huni Kuin und andere. Da kommen vor allem die Muster her, die von den Frauen gestaltet werden.

Wenn man diese Muster kennt, kann man Visionen strukturieren und mit äußeren Mustern verbinden, aber man weiß auch, wie brüchig Bilder sind. So wie man bei Mustern auf einem Teppich oder einem Ornament sieht, daß Vordergrund und Hintergrund sich abwechseln, je nachdem wie man blickt und wohin man blickt, so baut sich die Welt der Muster auf: Sie können gestaltet, aber nicht beherrscht werden.

Unsere Bilderwelt hingegen enthält eine wahre Bilderflut, und jeder Film, jeder Gang zum Kiosk,  jedes Fernseh-Zapping, jede Google- Bildersuche ist eine Bilderflut. Aber diese Bilderflut zerlegt sich in unserer Erinnerung in flackernde Schlaglichter, in persönliche Foto-Erinnerungen, und in Bilder, die wir wiedererkennen. Und in diesen Bildern sehen wir die Außenwelt und erkennen ihre Gegenstände. Das ist unser Training, und es fällt schwer, es abzubauen. 

Auch die Indigenen dieses Films sehen in den Filmbildern eine Bestätigung dessen, was sie schon immer wussten und sehen konnten. Sie sehen aber auch die Filmbilder selbst als das, was sie sind, als „Visionen“ oder „Halluzinationen“. Was sind Halluzinationen oder Visionen? Daß wir oder andere Bilder wahrnehmen, die nicht auf einem äußeren Gesichtseindruck, nicht auf Sinneseindrücken beruhen, sagen wir. Für solche Vorgänge haben wir in unserer Kultur im Prinzip zwei Erklärungen, eine philosophische und eine psychologische. Und dann ergibt sich noch eine dritte, wenn man sie verbindet.

Die eine Erklärung stammt von Platon, und die meisten von Ihnen werden Sie kennen: Es ist Platons Höhlengleichnis. In der Höhle unserer Alltagswirklichkeit sehen wir nur die Schatten an der Wand, die von einem großen Feuerschein projiziert werden; die Menschen oder die Wesen, von denen diese Schatten stammen, sehen wir nicht.  

Die äußere Welt ist daher eine Art Trug, der auf „Urbildern“ beruht, die ewig sind und unvergänglich, und erst die Wahrheit der Welt offenlegen, indem wir sie befragen. Dafür sorgt dann die Philosophie, durch Begriffe, durch sorgfältige Befragungen von Begriffen, aber auch durch Gleichnisse wie das Höhlengleichnis. Die Philosophie ist ein Anti-Kino: von den Projektionen zu den „Urbildern“, oder zu den in Schatten verwandelten Menschen.

Dann gibt es aber noch eine ganz andere Höhle, in die wir zur Erklärung gehen können. Wenn man Menschen in das Dunkel einer Höhle sperrt und sie dort drei Tage ohne Tageslicht schlafen lässt, dann wachen sie spätestens am dritten Tag mit Halluzinationen auf, sie sehen Bewegungen, Schlangenlinien und auch echte Schlangen und andere Wesen vor sich, in 3D und in leuchtenden Farben. Diese Bilder tragen wir in uns, sie kommen dann zum Ausbruch, wir können uns nicht mehr gegen sie wehren. Die „Sensorische Verarmung“, also das Abschalten der äußeren Sinneseindrücke führt dazu, daß die inneren Bilder in uns Amok laufen und uns von außen erscheinen, obwohl da nichts ist. Auch die Geschichten, die uns die Leute von ihren Halluzinationen erzählen, können wir nicht nachvollziehen: Wir sehen die Schlangen nicht, vor denen sie sich fürchten.

Die Projektion unserer Vorstellungsbilder erklären wir mit diesen beiden Theorie-Angeboten. Einzeln, oder kombiniert: 

Platons Höhle

und / oder

Die Höhlenexperimente zur Erzeugung von Halluzinationen.

Einmal muss es eine Realität „hinter“ unseren Erscheinungen geben, die wir begrifflich erfassen sollen, oder etwas „Typisches“, das fixiert wird, während die Erscheinungen wechseln. Andererseits können wir Erscheinungen ohne Realität und ohne äußere Vorlage hervorrufen, ohne daß etwas anderes dahinter ist, außer uns selbst, in einem Zustand, der uns außer uns geraten lässt. Wenn man diese beiden Höhlen besucht, wo findet man dann die Huni Kuin?

Sie stehen ganz woanders, denn sie erkennen die Urbilder ihrer Kultur in flüchtigen „inneren Bildern“, und sie sagen nicht, daß diese Bilder etwas anderes sind als flüchtige Halluzinationsbilder. Aber sie sind für alle da, auch in Form der Textilmuster. Es ist so, als würde Platons Höhlengleichnis gegen den Strich gelesen: Die flackernden Schatten sind die Urbilder. Es ist aber auch so, als würde das Höhlen-Experiment umgedreht: Die Inneren Bilder sind keine subjektiven Bilder, die aus fehlender Visualität entstehen. Die Visionen haben denselben Bezug auf die Außenwelt wie die Geschichten, die man sich über die reale Außenwelt erzählt. Oder wie die Bilder in einem Film.

Die Huni Kuin sagen: die Welt der Weißen, das ist die Welt unserer Visionen. Oder eine Welt unserer Visionen. Sagen sie dadurch nicht auch: die Welt der Weißen ist für uns nur eine Welt unserer Projektionen? Wir wissen, wie unwirklich die Welt dort draußen ist?

Visionen, das sind in diesem Film die Bilder von Duisburg. Bilder aus flüssigem Feuer und Licht, aus durchscheinenden Stoffen und Schemen, aus changierenden Bewegungsmustern, die in Personen übergehen, die mit dem Feuer und der Schmelze hantieren. Aber aus dieser Welt kommen die härtesten Stoffe, kommen Stahl und Eisen. Die Bilder, in denen wir den Halluzinationen am nächsten kommen, das sind die Bilder von der Zeche, vom Hochofen. Da, wo auch noch das Härteste flüssig wird, und aus dem flüssig gewordenen Stoff aus Feuer und Licht Metall wird, das härteste Metall.

Das Härteste und das Flüchtigste, der solideste Gegenstand und die Metamorphosen gehören zusammen. Das sagt dieser Film. Nein, das sagen die Huni Kuin, und der Film zeigt es, er zeigt das Bild, in dem sie zusammenkommen. Diese Auffassung fehlt uns, wir können sie nicht üben, und wir können sie nur auf diese Weise, mithilfe dieses Films von Barbara Keifenheim nachvollziehen. Indem wir die Huni Kuin sehen, die sich Bilder von Gegenständen anschauen, die wir gut zu kennen glauben. Die Visionen selber können wir nicht sehen, wir können nur beobachten, daß sie unsere Welt einschließen. 

Ich hatte es schon gesagt: Mittlerweile wissen wir, daß wir den Amazonaswald brauchen, und daß wir die Bewohner des Amazonas brauchen, um unsere Welt zu retten, und mit „unsere Welt“ meine ich unsere ganz egoistische Welt, die Welt des Metalls. Wir sind vom Amazonas abhängig, damit wir uns nicht endgültig mit unserem Feuer und unserer Metallschmiedekunst selbst abfackeln, mit unserer Energiegewinnung und unseren härtesten Stoffen.

Das Wort „Anthropozän“ klingt so vertrauenswürdig, als würden wir dort auf andere Menschen treffen, und mit denen könnten wir uns dann schon einigen, was zu tun ist, weil die Welt uns gehört. Aber der Anthropozän ist in Wirklichkeit ein „Pyrozän“, eine Brandstiftung, die mit der Industrialisierung begonnen hat und neben den Unterirdischen Wäldern der fossilen Brennstoffe auch die überirdischen verfeuert. Die Amazonasbewohner sind für uns der unbegriffene Stoff geworden, der die Welt noch zusammenhält. Man stelle sich vor: 

Wir sind auf die Halluzinationen von Leuten angewiesen, die vor uns zum Teil schon seit Jahrhunderten auf der Flucht sind, die von uns nichts wissen wollen, oder nur das wissen wollen, was sie uns abverlangen. Wenn alle diese Leute auf einen Schlag auf unsere Seite wechseln und zu Holzfällern werden, die den Amazonas für uns abholzen, statt sich ihren Visionen hinzugeben, dann ist die ganze Welt verloren. Soweit ist es schon gekommen. Ganz ohne die Haut der Anakonda und nur durch technokratische Berechnungen allein können wir den Klimawandel nicht aufhalten. 

Allem Anschein nach brauchen wir dafür die Visionen der anderen, also die Visionen von Duisburg, die Visionen der Staatsfeinde, oder die Erfahrung einer Welt, in der die Weißen und die Halluzinationen in einem einzigen Wort und in einer einzigen Wirklichkeit oder Unwirklichkeit und Wiedererkennbarkeit zusammenfallen.

Vielleicht schauen wir uns jetzt einfach den Film von 1986 an, um herauszufinden, wieviele Projektionen dieser Film verträgt, und wie viele Visionen wir vertragen, und wieviel wir wiederkennen können, von damals, von heute und von übermorgen. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und uns allen das, was wir immer brauchen können: eine gute Projektion!