Film

Hungerjahre
von Jutta Brückner
DE 1979 | 114 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 4
21.09.1980

Diskussion
Podium: Jutta Brückner
Moderation: Heinz Trenczak
Protokoll: Ursula Bessen

Protokoll

Die Vielfalt der angesprochenen Fragen läßt sich auf folgende Aspekte zurückführen.
die Wirkung des Films
das Thema und die besondere Form „Hungerjahre”, ein Frauenfilm: „Auslöser” für eine Grundsatzdiskussion Anmerkungen zu Produktionsbedingungen.
Anfangs herrschte längeres Schweigen.
Die Zuschauer waren sehr betroffen.
Ein Teilnehmer: „Der Film hat unverstellt auf mich gewirkt.” Viele betonten, daß sie eigene Erfahrungen in diesem Film wiedergefunden hätten. Es war ein Wiedererkennen von tausend Kleinigkeiten” (z. B. das schamhafte. sich-Ausziehen der Mutter, die Art,w1e ihre Hände die Bettdecke glattstreichen; Man hat dies alles selbst erlebt!”
Aber nicht nur Teilnehmer, für die die im Film dargestellte Zeit die Zeit ihrer Jugend war fühlten sich so stark angesprochen, auch Jugendliche konnten sich sehr mit der Hauptdarstellerin identifizieren, sahen in dem Film einen Großteil ihrer heutigen Themen behandelt.
Ein Teilnehmer (der als Drogenberater Einsicht in heutige Familienstrukturen hat) bemerkte, daß er mit Erschrecken festgestellt habe, welch eine Ähnlichkeit zwischen der dargestellten „historischen” und der heutigen Familie immer noch bestehe.
Die Autorin erwähnte, daß selbst „über deutsche Verhältnisse hinaus” der Film besonders bei Frauen eine starke Wirkung erzielt hätte.(z.B. in Ägypten). Sie sei erstaunt über diese Art der Resonanz, da sie Menschen in einer ganz. bestimmten historischen Sitaution dargestellt habe.
– Ein Grund für die identifizierende Wahrnehmung mag in der Konstruktion des Films liegen. Die Autorin: „Der Film ist nach dem Modell einer Psychoanalyse gebaut” (etwas später schränkt sie ein, daß dies jedoch nicht „im streng klinischen Sinne” gemeint sei.) Am Anfang stehe der Versuch,sich zu erinnern, der nun einsetzende Prozeß (drei Jahre) führe dahin, das alte Bild von sich zu vernichten. Diese drei (Entwicklungs-) Stadien bildeten sich im Film als drei Teile ab. Im dritten Teil sei die Stimme der sicherinnernden wieder da.
Die Schlußszene des Films wurde unterschiedlich aufgenommen und problematisiert: Einmal wurde sie konkret als Selbstmord Ursulas verstanden („Warum denn dieser dramatischer Schluß”) zum anderen in ihrer symbolischen Bedeutung (dies entspricht dem Verständnis der Autorin.) Die Symbolik werde doch sehr deutlich durch das Bild: Verbrennen der eigenen Fotografie; durch den letzten Kommentar: „Wer etwas ausrichten will, muß zuerst etwas hinrichten”.
Ein Einwand gegen diese Symbolik war daß in einem Analyseprozeß das alte’Bild von sich selbst nicht zerstört, sondern integriert werden müsse.
Von einem Teilnehmer wurde die Wahrscheinlichkeit der symbolischen Interpretation des Schlusses angezweifelt („Rezeption für Eingeweihte”).
Die Darstellung der politischen Situation, die Verknüpfung der individuellen Biografie mit sozialpolitischen Verhältnissen, der Ideologie der Zeit wurde als besonders differenziert vermittelt empfunden. So sei z. B. der Mann in der Familie kein Unterdrücker dennoch sähe man, daß die Gesellschaft von Männern beherrscht werde. Die Einblendungen der politischen Zeitdokumente gäben Aufschluß darüber, warum die Familie nicht anders sein könne als sie dort gezeigt werde. Die Autorin ergänzte, aus welchen Gründen sie die dokumentarisch-politischen Bilder eingeblendet habe. Es seien „weit historische Blitze” ohne Verbindung zum Alltagsleben. Durch die jeweilige Themenwahl (einschneidende politische Ereignisse) sollten sie das für die fünfziger Jahre typische ahistorische Denken ausdrücken.
– Auf der individuellen Ebene handelt es sich um eine Mutter – Tochter-Beziehung. Diese Beziehung wird aus der Perspektive der Tochter dargestellt: das Prüde der Mutter, überhaupt ihre kleinbürgerlichen Verhaltensweisen und Einstellungen. Aber auch hier werde über rein Individuelles hinausgegangen. An drei Stellen des Films werde deutlich, warum die Mutter so geworden sei.
Die enge Mutterbindung der Tochter ihr zwiespältiges Erleben sei sehr eindrücklich und sensibel dargestellt. Als besonders gelungen wurde die Szene empfunden, in der die Tochter sagt: „Ich bin Dir überhaupt nicht ähnlich” in der Hoffnung, daß es so sei. Die Tochter wolle anders sein glaube aber die Mutter nicht verlieren zu können und passe sich (äußerlich) an.
Auffällig war (und es wurde in der Diskussion selbst thematisiert) daß es hauptsächlich Männer waren, die betonten, wie sehr sie sich mit der Hauptdarstellerin identifizieren könnten (dies sei nicht nur ein Merkmal der Diskussion, bemerkte J. Brückner.) Vermutet wurde, daß bei Männern die Verdrängung ähnlich gelagerter Probleme größer sei und sie deshalb so besonders stark betroffen seien.
– An diesem Punkt entzündete sich eine Diskussion, die zeitweise von der Auseinandersetztwg mit dem Film abwich und zur Grundsatzdiskussion über Mann und Frau wurde.
Besonders Frauen reagierten auf Beiträge, die das spezifische Frauenproblem des Films zu einem aUgemein menschlichen machen wollten empfindlich. (Alle Beiträge, die den geschlechtsspezifischen Unterschied einebnen wollten, kamen von Männern, z. B.: der Unterschied zwischen Mann und Frau sei gar nicht so groß es ginge mehr um ein allgemein menschliches Problem. Das zeige auch der Grad ihrer Betroffenheit).
Einige Frauen sprachen den Männern ab, diesen Konflikt der Mutter – Tochterbeziehung nachvollziehen zu können. Dies ginge nicht da sie über diese Erfahrung nicht verfügten. Em Großteil der Männer fühlte sich daraufhin von den „Feministinnen” in die Opposition gedrängt bzw. abgelehnt
J. Brückner versuchte, erklärend in diese Kontroverse einzugreifen, indem sie folgendes erörterte: man könne den Film nicht „allgemein-menschlich” einebnen. In den kleinbürgerlichen Familien der fünfziger Jahre hätten Mädchen zum ersten Mal Bildungsmöglichkeiten erhalten, die eine größere intellektuelle Entwicklung ermöglichten als bisher und die Hoffnung nach Selbständigkeit weckten (z. B. Berufsausübung). Gleichzeitig seien alte Normen intakt geblieben (Rolle der Frau: passiv, gehorsam etc.). Mädchen. bzw. Frauen seien zwischen zwei Forderungen, die sich ausschlossen, hin und her gezogen worden. Dieser Konflikt, der an Ursula gezeigt werde sei ein typischer weiblicher Lebenslauf der fünfziger Jahre. Gesellschaftlich standen keine befriedigende Lösungsmöglichkeiten für Frauen bereit. (Für die Fluchtwünsche stehe unter anderem die Sequenz mit dem Algerier).
Real war es in den fünfziger Jahren so, daß Frauen oft glaubten, ihre Probleme durch eine Heirat im Ausland lösen zu können. Auch das für diese Zeit typische Intellektualisieren des Selbstmordes sei hier einzuordnen.
Die Heftigkeit der Männer während der Diskussion wurde noch einmal thematisiert. Warum argumentierten die meisten Männer so geschlechtsneutral? Jutta Brückner sprach über ihre Schwierigkeiten beim Drehen mit Männern.
Auf bestimmte Aspekte der weiblichen Sozialisation scheinen Männer mit Abwehr zu reagieren. Sie tabuisieren oder rationalisieren. (Z. B. die Szene, die die Menstruation behandelt, ebenso die Badewannen-Szene, in der die Mutter sich wäscht, bereiteten beim Drehen Schwierigkeiten mit dem Kameramann.) Ein Mann im Publikum formulierte die Parallellität der männlichen Reaktion: Kameramann, der die Optik vom Körper der Frau ins „Allgemein-Menschliche hochziehen wollte” (= Gesicht der Frau) und die Männerinder Diskussion, die die „Optik” ins Allgemein-Menschliche zögen.
Gegen Ende wurde zunehmend die Diskussion selbst zum Gegenstand. Auffällig war, daß im Gegensatz zum Film, das Mann – Frau – Problem soziologisch und historisch eingeebnet wurde. Ein Beitrag eines Teilnehmers: Die Unterdrückung von Mann und Frau könne man nicht nur in der „horizontalen Opposition”, sondern müsse sie auch in der „vertikalen” diskutieren. Dieses Problem konnte nicht weiter ausdiskutiert werden.
Abschließend gab J. Brückner noch einige Informationen über die Produktionsbedingungen. Der Film sei überkapitalisiert gewesen: 500,000,– DM. Vom ZDF mitfinanziert, die Dreharbeiten hätten 24 – 25 Tage gedauert. (Drei bis vier Jahre habe sie gebraucht, sich dem Thema zu nähern.)