Film

Marathon in New York
von Jens-Uwe Scheffler
DE 1980 | 98 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 4
21.09.1980

Diskussion
Podium: Jens-Uwe Scheffler, Max H. Rehbein
Moderation: Wilhelm Roth
Protokoll: Paul Hofmann

Protokoll

Obwohl wegen Dreharbeiten in den USA keiner der Autoren bei der Duisburger Diskussion anwesend sein konnte, schlug W. Roth dennoch einen Meinungsaustausch über diesen Film vor, da er ihn für „exemplarisch für gewisse Entwicklungen im deutschen Fernsehen” halte. Als zusätzliche Information las er einige Passagen aus einem Aufsatz von Dieter Meichsner (Rehbeins Produzent) „Über Max Rehbein” vor, in dem die Entwicklung von Rehbeins Arbeitsweise vor dem Hintergrund seiner Biografie erläutert wird. Wesentliche Momente seiner Methode: „. . fundamentale Recherche, aus deren Ergebnissen sich allmählich Absicht, Figuren, Struktur und Ablauf der Story entfalten”, Suche nach Menschen, „an denen sich die gedachte Geschichte sinnfällig veranschaulichen” lasse, Erforschung der Mitwirkenden im Hinblick auf ihr Verhalten zur Story und zur Mitarbeit am Film. Diese Form der Dokumentation nennt Meichsner dann, verwandt dem epischen Journalismus, ein „Docu-Drama”.
Gleich die erste Wortmeldung bezog sich auf das Vorgehen bei dieser Diskussion ohne Autoren. Man solle die Gedanken der Diskussion als Resolution an Rehbein schicken, „um ihm die hier bestehende ablehnende Meinung” auch mitzuteilen. Jutta Uhl verwies zudem auf einen Artikel von Klaus Simon, in dem mehr Aufmerksamkeit für Dokumentarfilme in der Art dieses Films gefordert wird. Der Film habe daher eine wichtige Funktion in der Auseinandersetzung um den Dokumentarfilm.
Ein Mitarbeiter des NDR, dessen Dokumentarfilm- Etat Max Rehbein und sein Team fast vollständig beanspruchen: „Ich fühle mich bei diesen Statuskämpfen am Sender unterlegen.”
Roth leitete dann zur Diskussion der offensichtlich vorhandenen Einwände der Anwesenden am Film über.
Der Brillanz der Produkte dieses Profis könne sich so schnell niemand entziehen, meinte J. Uhl. Dagegen wurde gehalten profihaftes Handwerk, Brillanz und Manipulation seien noch keine Argumente gegen den Film. Klaus Wildenhahn lieferte ergänzende Informationen zur Arbeitsweise ’vor Ort’: bei den Aufnahmen selbst sei wohl das Team mit Regisseur Scheffler anwesend, Rehbein trete nur ab und zu auf, seine Funktion seien Recherche und Autorenschaft, Auch der Schnitt sei wesentlich Aufgabe von Scheffler. Zahlreiche Diskutanten kritisierten die Kommentare: Es wurde Uneinigkeit zwischen Bild und Ton einerseits und Rehbeins Text andererseits festgestellt. Die Texte wurden, soweit es nicht um Sachvermittlung ging, als pathetisch, sentimental, emphatisch, in jedem Fall schlecht formuliert beurteilt. Einige Textstellen wurden sogar denunzierend erlebt. W. Roth: „Eine erste Feststellung am Film ist es also, daß der Text eine (in den Bildern nicht vorhandene) Bedeutung über die Bilder legt.”
J. Uhl plädierte dafür, die Machart des Films zu analysieren und fragte, was denn mit den ‚kleinen Leuten’ im Film geschehe?
Der Wortmeldung, hier werde offensichtich erstmals eine bestimmte Diskussionsrichtung vorgegeben, wurde entgegengehalten, daß die Mehrheit der Anwesenden offenbar kritisch der Frage nachgehen wolle, ob und warum dies ein schlechter Film sei, was weder mit Voreingenommenheit noch der Abwesenheit der Autoren zu tun habe.
Eine Zuschauerin: „Da habe ich einen anderen Film gesehen. Mich haben die Männerfiguren erschüttert, die Ausweglosigkeit betroffen gemacht.”
Eva Hoffmann: „Während mir die Bilder während der ersten Rolle des Films keinen Eindruck von den vielen Personen vermitteln konnten, suggerierte mir der Kommentar ein völlig davon losgelöstes Bild der Menschen. . . . Später konnte ich den Film nur noch als Spielfilm begreifen, weshalb ich ihn nicht als Bereicherung der Diskussion um den Dokumentarfilm verstehen kann.”
W. Roth wies auf die Tendenz der Fernsehproduzenten hin, solche (hochgelobten) Filme als beispielhafte Dokumentarfilme hinzustellen.
Peter Krieg lehnte die sektiererische Abgrenzung von Dokumentarfilm ab, die eine Einengung des Dokumentarfilmbegriffs darstelle. Seiner Ansicht nach sei dies kein Spielfilm, denn „Inszenierungen und Rekonstruktionen haben eine lange Tradition im Dokumentarfilm”. In dem gezeigten „Marathon des Lebens” sei die Hektik keine künstliche, sondern seiner Erfahrung nach eine besonders der Stadt New York adäquate, die Personen keine Kunstfiguren. Beeindruckt habe ihn, wie viele Aussagen die Methode über das Leben in den USA, über das Eingespanntsein jedes Einzelnen in dieses System, über das Getriebenwerden möglich gemacht habe.
Schlecht dagegen ist nach Kriegs Ansicht neben den Kommentaren vor allem Rehbeins Habitus des „Kopfjägers” bei Annäherung an Themen und Menschen (Verweis auf Rehbeins Dritte-Welt-Filme). J. Uhl ergänzte, Rehbein reproduziere ohne Problematisierung das USA-Stereotyp von den Verlierern und Gewinnern und benutze ihrer Ansicht nach zur Bestätigung des von ihm akzeptierten Systems die ‚kleinen Leute’, ordne sie ungefragt diesem System zu. Von den Widersprüchen der Menschen mit diesem System erfahre der Zuschauer dagegen nichts. Darin sah J. Uhl eine gefährliche Tendenz der Fernsehdokumentation, eine Einzelmeinung über andere Menschen zu stülpen. Nicht die Methode erzeuge dieses-Bild. Eher schon die verkürzenden Übersetzungen und die emphatische Synchronisation der O-Töne, meinte ein Zuschauer.
Dagegen: „Ich hab ihn ganz anders erlebt. Man bekommt doch aus einem Film das heraus, was man hineintut.” Der Autor billige das System gar nicht, ironisiere vielmehr das Gewinner-Verlierer-Schema. Ihm scheine es, daß an diesem Film ein deutlich kritischerer Maßstab angelegt werde.
Trevor Peters entgegnete, einem Dokumentarfilm müsse ein ehrliches Vorgehen zugrundeliegen, er müsse in sich glaubwürdig sein. Er wisse nicht, was er an diesem Film glaube sollen, der so raffiniert verkauft werde.
Eine Zuschauerin: Die Haltung, eine bestimmte Realität scheinbar objektiv darzustellen, müsse scheitern; Realität werde nur bestätigt, das sei reaktionär.
Angela Haardt: Durch die immer wieder eingeführte „Faszination des Großen” bleibe die Schuld am Scheitern bei den Leuten, die wirklichen Ursachen blieben ungenannt.
Joseph Schwellensattl wertete Rehbeins Methode, Menschen zu vergessen, sobald sie keine Story mehr lieferten, als widerlich, eine Methode der Werbung.
In der folgenden Wortmeldung äußerte sich nochmals der Ärger über kostspielige Produktionen dieser Art, die „20 bis 30 wichtige Dokumentationen wie die aus Südafrika („Ich spreche von mir – Ich bin Afrika”) verhindern würden. Fosco Dubini nannte die Haltung des Filmemachers gegenüber seinen Protagonisten zynisch. Die Leute würden vorgeführt; Journalisten wie Rehbein können keine persönlichen Beziehungen zu Menschen mehr herstellen.
P. Krieg berichtete dann über eigene Erlebnisse mit der Arbeitsweise Rehbeins, bei der er die besagte Kopfjägermentalität ausmache. Als Rehbein in Guatemala einen Barfußarzt nicht in seinem Sinne für eine Folge von „Pioniere und Abenteuer” stilisieren konnte, flog das Team noch am gleichen Tag weiter und suchte sich ein anderes Thema in Kolumbien. Dann verwies Krieg auf Ivens’ Chinafilme, die nach der gleichen inszenierenden Methode hergestellt seien, jedoch den entscheidenden Unterschied einer völlig anderen Haltung zu den Menschen aufwiesen. Rehbeins Marathon-Film erscheine dagegen wie eine Zigarettenwerbung. Kriegs Bemühen, die ungewandte Methode vor Rehbeins Interpretation zu schützen, unterstützten weitere Teilnehmer.
Ein anderer Zuschauer verglich das Niveau des Films mit einer illustrierten Reportage. dennoch sei das Ergebnis möglicherweise der Situation in New York angemessen. Er verstand die Metapher Marathonlauf als stilisierte Realität. Gerade in dieser Metapher sah dagegen jemand einen billig aufgebauten Schicksalsmythos.
Karl Saurer: Für Rehbein ist New York offensichtlich ein „absolutes Wirrsal”. Da läßt die Metapher Marathon bis hin zur Werbedramaturgie viele ästhetische Mittel zu.
Weniger die Methode als die Menschen vor dem Macher retten zu müssen, war nun J. Uhls Eindruck. An die Befürworter des Films, die von ironischer Distanz sprachen, richtete sie die Frage, wie man sich selbst fühlen würde bei der ‚Ironie’: „Er (der Wäschefahrer) hat immer eine Ausrede zur Hand.”?
Auf die Frage, ob die gezeigten Personen den Film (vorab) gesehen hätten, vermutete W. Roth, sie hätten sicher ein Honorar erhalten.
J. Uhl: „Viele haben wohl Mühe, den Film kritisch zu sehen, weil ja durch die Stärke der Leute selbst, tatsächlich einiges zu erfahren ist.”
N. Gladitz: „Ich sah einen der besten Gruselfilme. . . . Der Kommentar erinnerte mich an Schnapp-Ede” (XY-Zimmermann). Der Film erschien ihr jedoch schon fast als Satire. Sie erinnerte aber auch daran, daß etliche sich fortschrittlich gebende Filmemacher in der Behandlung der Menschen in ihren Filmen zuweilen auch keine Rücksicht kennen würden. Eine Zuschauerio berichtete von ihren Erfahrungen mit der Geringschätzung ‚stiller’ Filme an den Sendeanstalten im Gegensatz zum ‚Höher-Schneller-Größer’ des Rehbein-Films.
Dietrich Schubert widersprach N. Gla-Gladitz: „Vom Endprodukt werden die Leute schweinisch behandelt.” Er verwies auf spekulative Szenen wie die der Operation.
Heinz Trenczak war dann doch bemüht, Methode und Film in der Frage zusammenzufügen, wie jemand die Methode anwende und kam zum Ergebnis der unredlichen Affekthascherei, der spektakulären Verzerrung.
Trevor Peters äußerte abschließend sein Erstaunen, daß zwar der Kommentar kritisiert werde, die Machart des Films aber diskutabel sein solle.
Denn gerade die raffiniert verpackten Klischees seien es, die den Film verkaufen sollten.