Ich war nicht dabei, als Tizza Covis und Rainer Frimmels Film „Vera“ 2022 bei der 46. Duisburger Filmwoche präsentiert und anschließend mit einem Teil des Regieduos und dem Publikum besprochen wurde. Eine Idee, wie der Abend verlaufen sein könnte, vermittelte sich mir durch das online zugängliche Gesprächsprotokoll, in dem die diskutierte Grenzziehung zwischen Dokumentarfilm und inszenierter Fiktion ebenso festgehalten ist wie die Frage, inwieweit man es mit einem feministischen Film zu tun habe.1
Nachdem ich Vera wenige Wochen zuvor bei der Viennale in Wien gesehen hatte (die in ihrem Programm seit 2018 keine Gattungsunterscheidungen zwischen Spiel- und Dokumentarfilm mehr zieht) und mich in einem – wenn auch teilweise dokumentarisch gedrehten – Spielfilm wähnte, dessen Drehbuch aus der Lebensrealität der titelgebenden Hauptdarstellerin schöpfte, waren beide Diskurse, vor allem ersterer, für mich gerade im Kontext der Duisburger Filmwoche durchaus nachvollziehbar. Weitaus mehr Irritation als die Tatsache, dass der Film bei der Filmwoche gezeigt wurde, löste eine mir von einer in Duisburg anwesenden Person zugetragene Anekdote aus dem Publikumsgespräch aus, in dem eine Zuseherin Frimmel mit folgender Wortmeldung konfrontierte: „Ist ja schön, dass sie sich gut dargestellt fühlt, aber vielleicht kann Vera ja gar nicht beurteilen, ob der Film sie schlecht darstellt. Wir hingegen schon.“
Das Gefühl, das sich bei mir während der Rezeption des Films sowie im darauffolgenden Publikumsgespräch in Wien einstellte, in dem Vera Gemma und die Regisseur:innen über gemeinsame Arbeitsprozesse sprachen und Gemma ihre Dankbarkeit kundtat, sich endlich erkannt und verstanden zu fühlen, lässt sich mit dem erhobenen Vorwurf nicht in Einklang bringen. Vielleicht ist es der Zuschauerin nicht gelungen, ihre Vorbehalte gegenüber Veras äußerer Erscheinung – ihren wasserstoffblonden Extensions, ihrem durch „Schönheits“-OPs deformierten Gesicht und ihrem extravaganten Kleidungsstil – im Verlauf des Films zu hinterfragen.
Dass sie einer Frau, die, wenn auch im Schatten ihres Vaters, im Showbusiness groß geworden ist, unzählige Castings und Auftritte in fragwürdigen TV-Formaten hinter sich hat, die nötige Medienerfahrung sowie intellektuelle als auch emotionale Fähigkeit abspricht, beurteilen zu können, wie sie dargestellt wird, überschreitet aber das vertretbare Maß an Fürsorge. Ich empfand die Äußerung als Anmaßung – weniger gegenüber den Filmschaffenden, in deren Arbeiten ich bislang immer eine humanistische Haltung aufzuspüren glaubte, der nichts ferner liegt als eine Bloßstellung, Be- oder gar Abwertung der Personen, die sich vor ihre Kamera begeben. Sondern vor allem gegenüber der in Duisburg nicht anwesenden Protagonistin Vera Gemma, die, im Gegensatz zu Frimmel, keine Chance hatte, sich zu diesem Bild, das der Film angeblich von ihr entworfen hat, in irgendeiner Weise zu verhalten.
In Zeiten von postkolonialen, feministischen und verstärkt identitätspolitischen Diskursen stellen sich Fragen nach den Situiertheiten innerhalb gesellschaftlicher Gefüge nochmal mit Vehemenz – wer spricht aus welcher Position heraus, wer wird gehört, wer spricht für oder über wen? Nicht erst seit der Kreimeier-Wildenhahn-Debatte, die sich 1979 nach dem Duisburg-Screening von Helga Reidemeisters „Von wegen ‚Schicksal‘“ entzündete, sind dies auch Fragen des Dokumentarischen, die immer wieder gestellt und teilweise hitzig debattiert wurden und werden – insbesondere, wenn die Filme Personen und sozialen Phänomenen Sichtbarkeit verleihen (wollen), die innerhalb der Gesellschaft und jenseits der stigmatisierenden Repräsentationsformen in Fernsehdokumentationen oder im Reality-TV keine oder kaum Sichtbarkeit erlangen: prekäre Existenzen, die nicht Teil der sogenannten Mehrheitsgesellschaft sind, Marginalisierte, Ausgestoßene.
In der an und für sich relevanten, weil für das Machtgefüge Dokumentarfilm zentralen Sensibilität, die die aktuellen Diskurse auch (und erneut) an diesen herantragen, stellt sich die Frage, wann die Sorge, die man den Verhältnissen zwischen Filmemacher:innen und Protagonist:innen entgegenbringt, produktiv ist, und wann sie gegenüber den Menschen vor der Kamera übergriffig und paternalistisch ist, weil sie ihnen eine eigene Instanz abspricht. Diese Frage ist nicht generell zu beantworten, vielleicht kann sie aber produktiv werden, indem man sich dem Dokumentarfilm als Konstellation nähert: Zum einen als Konstellation innerhalb des Films, zwischen Filmenden und Gefilmten, in der es einen Unterschied macht, ob etwa ein weißer Mann oder eine BIPoC-Frau hinter der Kamera steht und ob der Blick sich auf medienerfahrene Personen richtet oder etwa auf sozial Marginalisierte. Zum anderen aber auch als Konstellation nach dem Film, im Austausch über das Gesehene, in der sich die Frage stellt, wer mit wem und über wen spricht. Und schließlich auch als Konstellation von Rezeptionserfahrung, Filmgespräch und zum Beispiel der Verschriftlichung des Diskurses in Form von Kritiken oder Diskussionsprotokollen. Diese Konstellationen sind weitaus mehr als bloß eine weitere Fußnote des Films – sie beeinflussen mein Nachdenken, meine Einschätzungen und Urteile über das Gesehene, halten es in Bewegung.
„Von wegen ‚Schicksal‘“ habe ich im Rahmen einer In-Person-Reihe zu Helga Reidemeister im Österreichischen Filmmuseum gesehen. Ich war vom erlebten Familienalltag mitgenommen, vor allem von der Esstisch-Szene, die der Filmemacherin in Duisburg und in Folge den „Vorwurf des Voyeurismus und der Verletzung der Menschenwürde“ einbrachte, und ich war beeindruckt – davon, wie der gesellschaftsanalytische Film mir in aller Schonungslosigkeit eine Lebenswirklichkeit nahebringt, über die üblicherweise niemand spricht, von Reidemeisters Herangehensweise, vom Mut der Protagonistin.
Dass die alleinerziehende und medienunerfahrene Mutter, deren sozialer Status sich durch die Sichtbarmachung der Zustände nicht änderte, den Film später bereute, wurde mir erst durch das Gesprächsprotokoll zum 1990 in Duisburg aufgeführten Halbstünder „Hätte ich mein Herz sprechen lassen, hätte ich den Film nicht gemacht …“ bewusst. An meiner Wertschätzung für die Sichtbarmachung des alltäglichen Miteinanders der Arbeiterinnenfamilie mit all ihren Ambivalenzen hat sich dadurch nichts geändert – dennoch habe ich mich davor wie auch danach gefragt, wie Irenes Sohn Bully den Film und seine Mitwirkung wohl bewertet.
Ebenso erging es mir mit Daniel, dem kleinen Sohn der Protagonistin Claudia in „Jetzt oder morgen“, Lisa Webers einfühlsamer Langzeitbeobachtung einer jungen Mutter ohne Schulabschluss und Job, die gemeinsam mit ihrem Kind, ihrer arbeitslosen Mutter und ihrem Bruder in einer Wiener Sozialbauwohnung im Stillstand verweilt, während sie darauf wartet, dass ihr Leben beginnt. Immer wieder markiert Weber nicht nur ihre Anwesenheit als Filmemacherin und ihre ästhetischen Eingriffe in die Wirklichkeit der Familie, sie zeigt sich auch in ihrer zugewandten Verantwortung gegenüber den Gefilmten, indem sie als tröstender, helfender und auch frustrierter Mensch in Kontakt mit ihnen tritt, die vertraute Beziehung mit ihren Protagonist:innen sicht- und spürbar macht.
Reidemeisters und Webers Filme weisen in eine Richtung, die der Dokumentarfilm vielleicht vermehrt einschlagen müsste. Es scheint mir heutzutage zeitgemäßer und den Protagonist:innen gegenüber angebrachter, die Bedingungen, unter denen Filme entstehen, als Konstellationen im Film auch reflektierbar zu machen. Ein Hauch mehr Cinéma vérité, der nie nur die Welt, sondern die Bedingungen ihrer Sichtbarmachung zeigt, ein Hauch weniger Direct Cinema, das daran glaubt, man könne einfach so etwas einfangen. Ein Film, der eben diese Entstehungsbedingungen mitdenkt und aufzeigt, ist Maria Petschnigs 2021 in Duisburg mit dem ARTE-Dokumentarfilmpreis ausgezeichneter „Uncomfortably Comfortable“.
Das experimentelle Videoporträt des wohnungslosen Afroamerikaners Marc Thompson, der auf den Straßen Brooklyns in seinem Auto lebt, ist nicht nur eine Annäherung an ein der Filmemacherin vollkommen fremdes Leben, sondern auch eine permanente prozesshafte Aushandlung des kollaborativen Projekts und Reflexion des hierarchischen Gefälles zwischen der weißen Künstlerin und dem Schwarzen mittellosen Porträtierten, dem der Film fast ausnahmslos das Wort überlässt.
Dass die Zeit des Wildenhahn’schen Dogmas der reinen Beobachtung zunehmend problematischer scheint, offenbart sich etwa in den Diskussionen rund um zwei Filme der 46. Filmwoche, die den Modus des Hervorbringens von Realität nicht sichtbar machen. „Es geht ums Ganze: Nämlich die Moral des Dokumentarfilms“, heißt es im Protokoll zu „Wenn’s Leben beginnt“ von Gabriel Monthaler und Samira Fux, dem Porträt einer sozial isolierten Wiener Trafikantin, das nicht nur durch seine der Protagonistin teilweise unangenehm zu Leibe rückenden Kamera, sondern auch in der Empörung der Diskutant:innen an die explosive Debatte um „Das Block“ von Stefan Kolbe und Chris Wright erinnert. „Mir war euer Blick auf sie manchmal unangenehm. Die Hände, beim Rauchen, Essen, trinken. Also, ich weiß nicht, ob sie sich so sehen will.“ Der entscheidende Unterschied zu „Das Block“ scheint mir die Naivität der – im Gegensatz zu Kolbe/Wright – auf allen Ebenen unsichtbar bleibenden jungen Filmschaffenden, die weder die Asymmetrie des Verhältnisses zwischen ihnen und der vereinsamten und, das legt der Film nah, alkoholkranken Frau noch ihren filmischen Blick auf sie zu reflektieren scheinen, der, wie in der Diskussion angemerkt wurde, eben nicht, wie von den Regisseur:innen behauptet, wertfrei sei, sondern „diese Idee der Prekarität“ (bewusst oder unbewusst) erst produziere.
Kritik für den Umgang mit und für das Bild, das sein Film von seinen Protagonist:innen entstehen lässt, wurde auch an Thomas Fürhapter im Duisburg-Gespräch über „Zusammenleben“ herangetragen, in dem er den Kamerablick mit Penetranz auf die Gesichter der nach Herkunftsland kategorisierten und gruppierten Teilnehmer:innen von Integrationskursen der Stadt Wien richtet. Von Protagonist:innen zu sprechen, scheint mir bei diesem Film nicht wirklich angemessen, eher handelt es sich um Repräsentanten unterschiedlicher Kulturen, die Fürhapter für einen Film benutzt, bei dem sich mir nicht wirklich erschließt, was er eigentlich erzählen will: Weder scheint er sich für die Personen vor der Kamera aufrichtig zu interessieren – der Vorwurf aus dem Publikum, „dass man nicht mehr über deren Leben erfährt. Es wird auf die Personen geschaut, aber sie bekommen keine Möglichkeit, selbst zu sprechen“, drängt sich geradezu auf – noch gelingt es ihm, die Strukturen der Institution sichtbar zu machen.
Frappierend sind auch die im Protokoll festgehaltenen Eingeständnisse des Regisseurs, sich die Erlaubnis, die Personen filmen zu dürfen, unmittelbar vor oder bereits im Kursraum eingeholt zu haben – ich versuche mir vorzustellen, wie schwer es Menschen, die an einem Integrationskurs teilnehmen, um im Umgang mit einer ihnen erstmal fremden Umwelt Sicherheit zu bekommen, fallen dürfte, eine solch überfallartige Forderung abzulehnen.
Im Protokoll hagelt es Kritik – daran, dass Fürhapter seine Situiertheit im Film nicht reflektiert, dass er beim Dreh keine Ahnung hatte, was überhaupt gesprochen wurde, dass der Film eine reine Montage-Konstruktion sei, dessen Struktur in keiner Weise hinterfragt wird. Einer von vielen Gründen, warum man als Zuseher:in das Bedürfnis bekommt, für die hier ausgestellten Personen Partei ergreifen zu müssen, ist Fürhapters Anmerkung – wie bei Vera wurde mir auch diese Anekdote von in Duisburg Anwesenden mündlich überliefert –, dass seine „Protagonist:innen“ den Film noch nicht gesehen haben. In diesem Fall scheint mir die in anderem Kontext paternalistisch anmutende Behauptung, dass die Gefilmten gar nicht selbst beurteilen können, ob sie gut oder schlecht dargestellt wurden, als berechtigte Sorge.
Am Ende kann hier nicht eine Regel stehen, wie es richtig zu machen wäre und wie auf gar keinen Fall. Mit jedem Film tun sich neue Fragen auf, mit jedem Text zu einem Film, jedem Protokoll eines Gesprächs neue Perspektiven. Aber vielleicht zielt genau diese Einsicht nochmal darauf, dass wir uns zunehmend in diskursiven Strukturen bewegen, die als Konstellationen zu denken sind – und es deswegen auch für den Dokumentarfilm ein Weg sein könnte, die von ihm in seinen Bildern hergestellten Konstellationen so sichtbar zu machen, dass wir sie sehen und verhandeln können. Für den Kontext Duisburg könnte das vielleicht auch heißen, dass die eiserne Regel, immer nur die Filmemacher:innen statt auch die Protagonist:innen zum Gespräch einzuladen, in manchen Fällen eher einem unguten Machtgefüge zuspielt, als ihm konstellativ entgegen zu wirken.
Michelle Koch ist freiberufliche Redakteurin, Autorin und Programmgestalterin. Wissenschaftliche und journalistische Beiträge in zahlreichen Publikationen, zuletzt Herausgabe von „Österreich real. Dokumentarfilm 1981–2021“ (mit Alejandro Bachmann, Wien 2022).
1 Alle Protokolle sind bei Erstnennung der Filmtitel verlinkt.