Film

Vera
von Tizza Covi, Rainer Frimmel
AT 2022 | 115 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 46
11.11.2022

Diskussion
Podium: Rainer Frimmel
Moderation: Dominik Kamalzadeh
Protokoll: Maxi Braun

Synopse

Vera trägt am liebsten Cowboyhut. Dabei spendet der prominente Geist ihres Vaters, Italowestern-Berühmtheit Giuliano Gemma, ihr schon genug Schatten. Erst wenn sein Name fällt, werden ihre Fähigkeiten als Schauspielerin bei Castings gewürdigt. Seine Schönheit degradiert sie zum Bild. Doch Vera spielt sich frei und freundet sich mit einem Kind an, das gerne Filme schaut, dem die Stories aber wichtiger sind als die Stars.

Protokoll

„Es ist doch nur ein Film!“. Wie oft ich diesen Satz gehört habe. Seit meiner Infizierung mit dem Kinovirus sagen ihn Menschen zu mir, wenn ich zu sehr „mitgehe“. Mit dem Film, den Figuren, der Handlung. Sobald mich eine Narration packt, stürze ich mich hinein und vergesse, einen Film zu sehen. Die damit verbundenen Impulse habe ich zu domestizieren gelernt. Schließlich will im Kino niemand, dass ich die Leinwand wüst beschimpfe oder schluchzend weine. Aber in mir, da tobt es.

Das gilt auch für das Kinoerlebnis „Vera“. Allein dieser Name! In slawischen Sprachen bedeutet er Glaube oder Zuversicht, im Lateinischen Wahrheit. Beides passt. In der Diskussion überlegt eine Frau laut und an Regisseur Rainer Frimmel gerichtet, warum seine Schilderungen mit ihrem Filmerleben so gar nicht korrespondieren: „Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, ob das ein Reenactment ist. Ich war verunsichert und ständig auf Spurensuche danach, was das für ein Film ist“. Wow. Derweil die Frau schon reflektierte, fieberte ich noch mit Vera. Meine anfängliche Skepsis aufgrund ihrer äußeren Erscheinung – lange blonde Extension, künstliche Fingernägel, ein stark plastisch-chirurgisch malträtiertes Gesicht – weicht schnell großer Sympathie. Sie liebt wie ich Filme und kann aus dem Stegreif Tony Montanas Monolog aus „Scarface“ rezitieren. Dafür ist vermutlich auch ihr Vater, die Italo-Western-Ikone Giuliano Gemma verantwortlich, in dessen Schatten sie noch immer steht. Das veranschaulicht ein unangenehm kippendes Casting: „Ich mache Kostümfilme. Sie haben ein zu…modernes Gesicht“, drückt sich der castende Regisseur vordergründig respektvoll, hintergründig beleidigend aus. Vera bringt ziemlich geschickt ihren Vater ins Spiel und schwupps steht der Regisseur wie eine Schmeißfliege neben ihr und will ein Erinnerungsfoto.

Vera hat außerdem ein gutes Herz. Als ihr Fahrer Walter einen Unfall verursacht, bei dem sich der 8-jährige Manuel den Arm bricht, scheint es ihr fast aus der Brust zu platzen. Sie freundet sich mit Manuel und dessen alleinerziehenden Vater Daniel an. Der arbeitet in der Peripherie als Mechaniker in einer Werkstatt für Stuntfahrzeuge und kämpft ums Überleben. Stopp. In diesem Moment schaltet sich tatsächlich mein Gehirn ein und erinnert sich, im Screening eines Dokumentarfilmfestivals zu sitzen. Ein zufällig von der Rückbank gefilmter Unfall? Ein Stuntwagenmechaniker? Aber schon stürzt sich Vera mit Inbrunst in diese präker-familiäre Konstellation, mit soviel Güte und rührender Naivität, dass ich den Gedanken ziehen lasse.

Meine Annäherung an sie verläuft ähnlich wie die von Regisseurin Tizza Covi, wie Frimmel aufklärt. Auch seine Frau habe sich, nachdem sie Vera durch Zufall besser kennengelernt habe, vor ihren eigenen Vorurteilen erschrocken. Sie sei schnell fasziniert gewesen, habe ihr unbedingt ein Drehbuch auf den Leib schreiben wollen. Was ist hier Fiktion, was Dokumentarisch? Frimmel sieht darin keinen Widerspruch. „Wir wollen Dinge dokumentarisch festhalten. Aber alle in diesem Film spielen eine fiktionale Rolle“. Ihre Methode bestehe darin, so Frimmel weiter, biografische Begebenheiten zu nutzen. Vera ist Giuliano Gemmas Tochter, die im Film gezeigten Super 8-Aufnahmen entstammen ihrem Familienarchiv und Asia Argento ist tatsächlich ihre beste Freundin. „Wir proben Szenen nicht und wiederholen sie nicht, die Dialoge sind improvisiert. Manchmal arbeiten wir aber länger an ihnen und für den Schnitt wechseln wir manchmal die Objektive“, führt Frimmel die Methode weiter aus.

Ich bin noch ganz im Film gefangen und denke daran, wie Vera herausfindet, dass Daniel ein Versicherungsbetrüger ist, der dafür auch noch seinen Sohn missbraucht. Covi hat auf einer Zugfahrt einen Mann kennengelernt, der ihr ausführlich eine ähnliche Masche schilderte, die dann in den Film einfloß. Aber ist das schon dokumentarisch, wenn Inspiration aus dem eigenen Leben kommt? Auch Kamalzadeh, der anfangs zögert, den Konflikt zwischen Dokumentation und Fiktion aufzumachen, ist jetzt verwirrt. „Also in Venedig hat Vera doch erzählt, ihr sei das so passiert mit dem Versicherungsbetrüger?“ Frimmel korrigiert, sie sei von einem Mann betäubt und ausgeraubt worden, aber eben nicht von einem Versicherungsbetrüger mit Kind. Frimmel scheint das Umkreisen des Konflikts, was nun echt ist und was nicht, zu langweilen: „Das Dokumentarische interessiert mich nicht. Und was ist schon eine wahre Geschichte?“

Spannender ist ohnehin die Frage, die eine Frau zu Beginn stellt „Finden Sie, ihr Film ist feministisch?“. Frimmel glaubt das, Vera erscheine als „starke Frau, die sehr zerbrechlich ist und trotzdem ihren Weg geht“. Ich denke daran, wie sie von ihrem Verlobten ausgenommen wird. An den plastischen Chirurgen, der mit ihr wie mit einem Kleinkind spricht. Und an Daniel, der sich nicht nur als Betrüger entpuppt, sondern Vera ein fettes Veilchen verpasst und sie am Ende ausraubt. Die Frage lässt auch die Zuschauerinnen nicht los und sie Frimmel nicht vom Haken. „Wo ist der emanzipatorischer Effekt, den sie in der Szene auf dem Friedhof behaupten?“. Sie spielt auf eine grandiose Szene an, in der Vera mit Asia Argento ein Grab besucht, in dem laut Grabinschrift „Goethes Sohn“ liegt (ein paar Meter weiter liegt „Die Frau von…“ begraben) und sie über ihre Rolle als Töchter berühmter Männer reflektieren. Weitere Diskutantinnen überlegen „Ist es ein selbst ermächtigendes Bild von ihr? Oder stülpen sie es ihr nur über?“; hinterfragen, ob das Rekurrieren auf real erlebte Traumata die Gewalt, die Vera erlebt habe, nicht reproduziere? Frimmel will darauf nicht eingehen. Neben dem Dokumentarischen scheint ihn auch das Emanzipatorische nicht zu interessieren. Darauf zu beharren, diese Frau habe wohl kaum für sich selbst entscheiden können, wirkt aber auch nicht wie ein sonderlich feministischer Move.

Es ließe sich noch viel über Schönheitsideale, den Konflikt zwischen Zentrum und Pasolini-eskem Vorort oder der Inszenierung von Vera als Westernheldin sagen. Aber es ist spät und Frimmel erklärt einer Zuschauerin abschließend: „Man soll einen Film auf sich wirken lassen. Ohne Erklärungen und nicht zu viel darüber nachdenken“. Diese Handlungempfehlung wiederum, dürfte dann hier in Duisburg bei der Filmwoche niemanden interessieren.