Film

Wenn’s Leben beginnt
von Gabriel Monthaler, Samira Fux
AT 2021 | 28 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 46
12.11.2022

Diskussion
Podium: Gabriel Monthaler, Samira Fux
Moderation: Betty Schiel
Protokoll: Johanna-Yasirra Kluhs

Synopse

Am Mittag, wenn’s Leben in der Stadt beginnt, macht Hermi Feierabend und fährt zurück ins Wiener Umland. Ihr Laden läuft schlecht, „aber arm ist sie nicht“, und das obwohl sich die Dinge um sie herum verflüchtigen. Der Schäferhund ist tot und interessante Männer gab’s eh noch nie. Zuhause ist das Interieur verstaubt, die Konserve schon halb leergegessen und das Nachbarschaftsverhältnis lässt zu wünschen übrig.

Protokoll

„Super, früher wurde ja Kette geraucht hier im Diskussionssaal – find ich gut, dass wir jetzt wenigstens einen Film besprechen, der in einem Tabakwarenladen spielt.“

Morgens, 10:45h. Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn hier jetzt alle rauchen würden. Nach diesem Film über eine Trafik-Inhaberin aus Wien kurz vor dem Ruhestand. Nicht nur ihr Leben klingt aus, auch die Geschäfte im Laden. Und soziale Beziehungen scheint sie nur zu den beiden Filmemacher:innen zu unterhalten. Und zu den seltenen Kund:innen, die den Laden betreten. Die Stimmung im Film ist eigenartig. Irgendwas ist unbequem und das überträgt sich in den Saal des Josephshauses, in dem wir uns treffen nach diesem Guten-Morgen-Film, der über das Ende eines Lebens erzählt und aber doch „Wenn’s Leben beginnt“ heißt. Da geht es schon los mit den Widersprüchen.

Ist hier ein prekäres Leben porträtiert worden?

Oder hat der Film jemanden als prekären Menschen ausgestellt?

Haben die Nachwuchs-Filmemacher:innen jemanden für ihre Karriere missbraucht?

Oder halten sie uns durch ihren vorbehaltlosen Umgang mit dem porträtierten Menschen unsere Vorstellungen von einem guten oder scheiternden Leben als eigene Projektionen vor Augen?

In unterschiedlichen Rahmungen und Begründungen stehen diese Fragen, auch als Statements formuliert, im Raum. Interessant dabei, dass die Aufregung vor allem im Plenum liegt. Es geht ums Ganze: Nämlich die Moral des Dokumentarfilms. Und auch: Die eigene Vorstellung vom Normalen. Es scheint kaum möglich, sich auf die Protagonistin des Films zunächst mal als eine vieler unterschiedlichen Figuren unseres Zusammenlebens zu beziehen. Ihr Leben wird als tragisch bewertet, als prekär. Viel diskutiert wird auch über eine vom Publikum diagnostizierte Alkoholabhängigkeit der Protagonistin. Übergriffig, finde ich. Was gibt uns das Recht, sie zu pathologisieren und persönliche Informationen von den Filmemacher:innen zu erfragen?

Die sagen: „Durch die Beziehung, die da entstanden ist, lässt man sich aufeinander ein. Und man versucht dann, das was emotional stattfindet, auch auf eine Bildebene zu übersetzen. Wir wollten aber auch nicht eine Grenze überschreiten, wo es zu tief geht, wo es zu sehr in die Privatsphäre eindringt.“ Ich bin beeindruckt von der Gelassenheit und Klarheit der Filmemacher:innen. Sie sprechen über ihr Verhältnis zur Protagonistin Hermi und wie die filmische Zusammenarbeit mit ihr vor allem darin bestand, sich ihr zu widmen. Sich auf ihr Tempo, ihren Tagesablauf, ihr Redebedürfnis einzulassen. Und vor allem: Ihr Leben und ihr Handeln nicht zu bewerten. Aber: Kann ein Film neutral sein?

Publikum 1: „Mir war euer Blick auf sie manchmal unangenehm. Die Hände, beim Rauchen, Essen, Trinken. Also, ich weiß nicht, ob sie sich so sehen will. Das Grading ist auch entsättigt. Das hat so einen abgenutzten Look. Auch dadurch, dass ihr euch im ersten Drittel so auf den Alkohol konzentriert, kommen mir Fragen: Ist das gefährlich, mit ihr Auto zu fahren? Wie riecht’s da in dem Laden?“

Gabriel: „Ach, das war keine Gefahr, sie hat das voll kontrolliert.“

Publikum 1: „Aber der Film erzählt das nicht!“

Samira: „Für mich passt die Auswahl.“

Publikum 2: „Das sind doch alles eure eigenen Projektionen!“

Publikum 3: „Ich habe viel über den Schnitt nachgedacht. Hände. Dann altes Geschirr und Pfannen. Das ist doch bewusst gesteuert. Ihr produziert da einen Blick in dem Moment. Das ist kein neutraler Blick. Oder ein nüchterner Blick. Diese Idee der Prekarität entsteht dadurch. Wir interpretieren nicht rein, was wir wollen oder nicht wollen. Hier passiert was anderes.“

Publikum 4: „Klar produziert der Schnitt eine Provokation. Aber es ist ja mir freigestellt, wie ich das zueinander ins Verhältnis setze. Der Blick für mich war ein liebevoller. Ich finde vor allem interessant, dass die Lesarten so unterschiedlich sind. Es ging ja überhaupt viel um Leugnung. Dass die Existenz dieser Menschen und solcher Lebensentwürfe geleugnet wird. Dass sie ihren Alkoholismus leugnet. War das ein Thema für euch? Wie geleugnet wird.“

Samira: „Sie agiert ja sehenden Auges. Sie wurde ja deswegen geräumt, weil sie die Miete nicht gezahlt hat. Sie ist stur, sie hat ihren Willen. Es passiert ihr nicht einfach.“

Betty: „Das ist ein anspruchsvolles Sujet, eine anspruchsvolle Protagonistin. Weil sie in prekären Verhältnissen lebt. Wie setzt man sich selbst dazu ins Verhältnis? Wie setzt man das ins Bild?“

Samira: „Was meinst du mit prekär? Sie ist Hausbesitzerin, das Haus ist groß. Sie hat keine Kinder, keine Familie. Naja, ok, das ist vielleicht prekär. Sie hat die Trafik, kann sie aufrecht erhalten, auch wenn sie keinen Gewinn abschöpft. Sie hat ein Auto. Von der materiellen Seite her ist es nicht prekär. Selbst wenn die Trafik geräumt wird, kann sie halt den ganzen Tag zu Hause sein und es gibt auch einen großen Garten.“

Publikum 5: „Prekär ist, dass es kein soziales Kapital gibt. Dieses Leben, das keine gesellschaftliche Anerkennung erfährt. Ich musste an Hito Steyerls Tutorial „How not be seen“ denken: Weiblich gelesen und 40 werden. Das zeigt sich für mich in dieser Kamerafahrt in den Himmel – wie eine Fahrt ins Jenseits nach dem Ende des Jobs. Ich mochte auch die Einstellung dieser Zigarette, die noch brennt und man hört noch ihre Stimme, aber der Körper ist schon weg.“

Samira: „Wenn man sich einen Familienstammbaum anguckt, dann geht da ein Ast zu Ende. Sie hat keine Kinder, sie verbraucht einfach alles. Sie gibt nichts weiter. Ich habe mich dann gefragt: Soll ich das bewerten? Das braucht meine Bewertung nicht. Es sind alles Lebensrealitäten, die existieren.“

Publikum 6: „Ich bin vom Duisburger Laienpublikum. Gestern Abend hatte ich eine Diskussion mit Journalist:innen und Kurator:innen hier beim Festival. Und als ich gesagt habe, dass ich mir diesen Film heute anschauen will, hat jemand von ihnen gesagt: „Um Gottes Willen, diese schreckliche Frau, der ist ja nicht zu ertragen, dieser Film.“ Also, das hat mich geschockt. (Peinliches Schweigen im Raum.) Aber diese Ambivalenz zwischen Sympathie und Antipathie. Das was jemand Unwohlsein genannt hat. Das habe ich auch gespürt. Zum Beispiel, wenn man jedes Zungengeräusch von ihr hört. Dann fühlt man sich abgestoßen.“

Gabriel: „Aber ich hätte es auch unehrlich gefunden, dass nicht zu zeigen. Es ist eben sehr leise, wenn man bei ihr ist und man hört dann Vieles viel mehr als in anderen Situationen, mit anderen Menschen. So lebt sie, so arbeitet sie. Ich bewerte ihre Art und Weise, wie sie den Alltag meistert, nicht.“

Es macht misstrauisch, dass die Filmemacher:innen so wenig werten. Viele denken wohl, dass sie ihre eigene Machtposition nicht erkennen und also ihre Protagonistin ausbeuten, weil sie kein richtiges Genre für ihr Leben finden. Es ist ein Problem, dass keine Tragödie erzählt wird.

Samira: „Wir haben uns schwer getan, mit dem Anfang. Irgendwann haben wir dann entschieden, dass wir so anfangen, wie wir selbst hingefahren sind und sie auch immer zu sich fährt. Dieses Burgenland da ist so ein bisschen wie so Western-Städte. Alles ist versperrt nach außen hin. Das Leben findet hinten statt, zum Hof und Garten. Bevor wir am Ende auf einer Tafel schreiben, dass sie nach dem Drehschluss ihren Laden verloren hat, kommt ja noch eine lange Aufnahme vom Himmel.“

Betty: „Als ob ihr am Ende nochmal ein gutes Gefühl haben wollt, dass es eine Freiheit gibt, etwas Schönes.“

Samira: „Ja, aber das hat auch etwas mit ihrem Leben zu tun. Heimkommen, ausspannen, auch wenn es bedeutet, dass sie in der Küche sitzt und trinkt. Sie sitzt dann am Küchenfenster und schaut hinaus. Mit einem grauen bewölkten Himmel würde man ihr nicht gerecht. Wir haben sie als humorvolle, positive Person kennengelernt. Wir wollten auch, dass ihr das entspricht.“