Ein Film des Programms der df44 heißt Oeconomia von Carmen Losmann. Es ist ein erstaunlicher Film, denn er entblößt ganz souverän, dass unser Verständnis von Volkswirtschaft, Finanzwirtschaft und Ökonomie eben nur das eines Spiel ist. Dass es um psychologische Effekte viel mehr geht als um Wertschöpfung. Dass wir Geld erfinden, um neues zu erschaffen. Fachleute zocken in der Fußgängerzone Monopoly und legen sich ihre eigenen Regeln zurecht. Der Film könnte auch „Utopia“ heißen, allerdings ist er dafür zu wahrhaftig. Oeconomia entblößt zugleich, wie wir uns unsere Feindbilder ebenso wie in einem Spiel zurechtlegen – einem Rollenspiel. Mit „unsere“ sei hier die Duisburg-Filterbubble gemeint, die sich politisch und ökonomisch zum großen Teil in Übereinstimmung begegnet. Unsere Feindbilder: die Kapitalisten, die Schonungslosen, die Skrupellosen, die Formatgierigen, die Kommerzbüttel, die ignoranten Redakteure, Produzenten und Filmförderer. Unsere uneingestandene, etwas paternalistische Haltung: Sie sind gar nicht alle aktiv böse. Sie verstehen in Wahrheit nur selber viel zu wenig von dem System, das sie aufrecht erhalten. Oeconomia geht mit dieser Haltung offen um. Unterstellt explizit: So ganz habt „ihr“ das auch nicht verstanden.
Feindbilder sind Schablonen für Bekanntes. Die Welt gerät schon immer aus den Fugen beziehungsweise war sie noch nie in den Fugen, unterstellen sie. Dafür sind Feindbilder gut. Feel-good-Feinbilder. In Duisburg kommt der Typ „visionärer Macher“, wie er in Oeconomia auftritt, nicht gut an.
Henners Traum von Klaus Stern lief im Jahr 2008. Hier sehen wir den Lokalpolitiker Henner Sattler, der den großen Traum hat, seine Provinz Hofgeismar berühmt zu machen mit einem Ferienresort, mit PR und mit der Hilfe von Roland Koch – wir sprachen von Feindbildern.
Protokollausschnitt Henners Traum
Es gibt in Duisburg keine Sympathien für einen konservativen Finanzinvestor oder einen bauernschlauen Lokalpolitiker. Von ihnen wird so sehr erwartet, die ihnen zugedachte Rolle zu erfüllen, dass im Protokoll nicht mehr als die wenig überraschende Bestätigung dieser Erwartung notiert wird. Der Größenwahn, der öffentliches Geld verpulvert, indem riesige Flughäfen, Bahnhöfe und Prestigehäuserzeilen errichtet werden, er wird verteufelt. Sympathien gibt es eher für Künstlerinnen und Künstler, die mit Bild, Ton und Schnitt ihr Innerstes nach außen tragen, die dann Verbindungen herstellen zur Filmgeschichte, zur Menschheitshistorie oder zu persönlichen Lebensgeschichten. Das ist doch auch Größenwahn. Wie kommt man darauf, dass man einen Film machen sollte? Also, warum man den selber machen sollte und nicht jemand anderes? Wahnsinn.
In meiner Zeit in der Kommission der Filmwoche hörte ich oft das geflügelte Wort: „Um solche Leute kümmert sich nur noch die Polizei, das Sozialamt und der Dokumentarfilm“. Das Zitat wird verschiedenen Menschen zugeschrieben, von wem es ursprünglich stammt ist egal. Wir sind ja alle Duisburg. Doch wovon spricht dieses Zitat? Es spricht von Filmen, die im Hochhausblock passieren, die in kalten Nächten auf kaputten osteuropäischen Straßen herumziehen, Filme, die die übelsten, traurigsten und ärmsten Gestalten dokumentieren. Menschen ohne Geld, ohne Haus, ohne Gesundheit und ohne Perspektive in unserer durchökonomisierten Gesellschaft. An diese Menschen wird die Erwartung der Selbstbloßstellung anders gerichtet: Statt wie bei den Feindbildern zu hoffen, dass sie diese erwartungsgemäß vollführen, müssen die Schwachen unbedingt vor der Bloßstellung bewahrt werden. Denn sie sind die Menschen, die vermeintlich von den Feindbildern erschaffen wurden, aus Rücksichtslosigkeit und Eigensinn. Unweigerlich geht es dann in den entsprechenden Diskussionen um Verantwortung auf Seiten der Filmemacherinnen. Rosa Hannah Ziegler dokumentierte zehn Jahre nach Klaus Sterns Film über Henner Sattler eine niedersächsische Familie in prekären Verhältnissen. Wie darf man das? Welche Haltung ist angebracht?
Protokollausschnitt Familienleben
Beim Zeigen sozial Schwacher scheint es zu dieser Haltung allerdings eine Alternative zu geben: Stefan Kolbe und Chris Wright portraitieren in ihrem Film Das Block 2007 vier Menschen aus unteren Schichten in ihrem Häuserblock. Wenn man im Protokoll nachliest, scheint man das Komplement zu Rosa Hannah Zieglers Herangehensweise zu finden:
Protokollausschnitt Das Block
Die Nähe stößt auf viel Kritik im Publikum, von Peinlichkeitsgefühlen wird geredet und ein Diskutant sagt, er habe an manchen Stellen wegblicken müssen. Kolbe und Wright erklären, sie hätten das Gefühl gehabt, dass diese Nähe bei diesen vier Menschen möglich gewesen wäre. Gerade die Fragmentierung, die, so Kolbe, vor allen Dingen durch den Schnitt zustande kommt, würde den Abstand schaffen, denn sie macht eine soziale Einordnung unmöglich. Außerdem habe beim Dreh die Kamera den Abstand gehabt und nicht sie selbst. Dem Vorwurf des Voyeurimus begegnen die Autoren durch die Feststellung, dass dieser ja immer etwas mit geheimen Beobachtungen aus der Ferne zu tun habe. Und trotzdem, einige Diskutanten hätten sich mehr Totalen gewünscht, die extreme Nähe wird u.a. als „dermatologische Inspektion“ empfunden.
Nähe und Peinlichkeiten wecken bei Teilen des Publikums den Wunsch nach den Totalen, die Familienleben gewährt. Abstand kommt in Das Block in der Fragmentierung der Bilder, statt in ihrer Ausrichtung aufs nachsichtige Verstehen und Erklären zustande. Das sorgt dann zwar bei den einen reflexhaft für den Vorwurf des „Slumtourismus“, andere wissen allerdings zu schätzen, dass die Filmemacher „sich nicht oberflächlich, kurz, eben touristisch in dem Block aufhalten. Im Gegenteil, sie waren so dicht an den Menschen und ihren Biographien dran, dass das Publikum zum Nach-denken, zum Weiterdenken gezwungen wird.“ Menschen ohne Schablonen zu betrachten kann schmerzhaft sein.
Armut und Ausschlachtung auf der einen Seite, Ökonomie und Bauernschläue auf der anderen Seite. Dazwischen liegt etwas, das wir Arbeit nennen. Auch etwas, das in Duisburg von Geburt an analysiert wird. Duisburg, Ruhrgebiet, Bergbau, „Glück auf“ und so. Zwischen den gut eingeübten Feindbildern und denen der Abgehängten, um die sich nur noch Dokumentarfilmer kümmern – sei es wohlmeinend oder konfrontativ – steht nicht etwa die Authentizität, sondern das breite Angebot an Rollenbildern der Arbeitswelt. Vom Klarinette spielenden Kumpel bis zum ehrgeizigen Architekten. Ökonomische Rollenerwartungen sind keine Sache von ganz Reichen und ganz Armen, sondern auch derer dazwischen. Bei ihnen ist die Sache nur moralisch scheinbar weniger kompliziert. 1997 zeigt Harun Farocki einen Film über Menschen im Bewerbungstraining für Lohnarbeit: Die Bewerbung.
Protokollausschnitt Die Bewerbung
Während in Oeconomia das Brettspiel dafür sorgt, dass die Akteure bestimmte Rollen in der wirtschaftlichen Ordnung spielen, wird es bei Farocki an den Personen konkret: Ihre Identität wird auf den Arbeitsmarkt hin modelliert.
Was ist, was war Arbeit in Duisburg? Michael Glawoggers Film Workingman’s Death wird 2005 in Abwesenheit des Regisseurs gezeigt aber nicht weniger kontrovers diskutiert. Es geht dabei um die Schwelle von vermeintlich authentisch zeigbarer Ökonomie, ihrer Ästhetisierung und der Einsicht, dass diese längst von Rollen und Bildern überformt ist.
Protokollausschnitt Workingmen’s Death
Sorgt die Ästhetisierung dafür, dass man die Rollenbilder als solche wahrnimmt und damit vielleicht sogar als künstliche begreift? Oder führt sie nur zu – potentiell reaktionärer – Nostalgie? Sicher scheint, dass beim Portrait schuftender Arbeiter und prekärer Lebensverhältnisse die Sorge der Duisburger zumeist darin besteht, dass ein Opferbild übererfüllt wird. Auf die Gefahr hin, es vor lauter Sorge besser zu wissen als die vermeintlichen Opfer selbst. Sobald diese einem zu nahe kommen, wird es potenziell unangenehm. Bei den Eliten des Neoliberalismus scheint es dagegen okay, wenn sie ihre Feindbilder erfüllen. Die Distanz zu ihnen ist sowieso schon groß genug.
Wie soll unter diesen Voraussetzungen das, was wir Arbeit nennen, vorgeführt werden? Wie sollen die Zusammenhänge der Ökonomie, der unterschiedlichen Abhängigkeiten „gezeigt“ werden? Sollen sie das überhaupt? Und warum sollte man sich dann auch noch mit der filmischen Umsetzung eines anderen Menschen beschäftigen? Oeconomia entscheidet sich dazu, intensiv zu erklären und Menschen beim Aus-der-Rolle-Fallen zu zeigen. Wenn sie tatsächlich nicht mehr so ganz verstehen, was sie da tun, aber diesen Eindruck halbwegs menschlich zu kaschieren versuchen.
Sich mit Menschen wirklich zu beschäftigen, ist anstrengend, wenn man es ernst meint. Bei Fremden klingeln, wie Kolbe und Wright in Das Block, erfordert Mut. Sich zum temporären filmischen Familienmitglied machen, wie Rosa Hannah Zielger, erfordert Kraft und Empathie. Wenn man den Schritt aus der eigenen Bubble wagt und es einem gelingt, nicht nur zu reden, weil man sich gerne selber reden hört. Wenn man sich in die Rezeption, die Diskussion und in die Relation begibt. Ins Offene. Weil es Training ist, es ist Sport für die Geisteshaltung. Und es ist das Einzige das hilft, um weiter zu machen. Wenn alles verschwindet, kann man sich noch immer in das Vorhandene verlieren und noch tiefer hineinbegeben. So wie in das Protokollarchiv der Duisburger Filmwoche, dem Fitnessstudio für die Geisteshaltung.
Protokollausschnitt Hans im Glück