Petra Palmer

Distanzmontage: Der soziale Raum und Architektur im Film

Mit Gebäuden ist es wie mit Filmen, manche fühlen sich behaglich an, andere evozieren Beklemmungen und erdrücken schier. Zuweilen fühlt man sich in ihnen verloren – in den Filmen wie in den Gebäuden –, aber genauso gut können sie überwältigen. Welchen Einfluss hat die Architektur auf den sozialen Raum und wie machen Filme dies sichtbar? Während einige Filme die Faszination für die Architektur von Gebäuden zeigen, konstruieren andere in der speziellen Weise, wie sie den Raum zeigen, selbst einen sozialen Raum.

Der soziale Raum gilt als symbolische Ordnung des Systems, in dem Akteure oder Gruppen von Akteuren in ihrer relationalen Stellung verortet sind. So beschreibt ihn Bourdieu in seinem Vortrag „Sozialer Raum und Klasse“. Durchdrungen von ungleichen Machtverhältnissen ist dieser soziale Raum in Felder aufgeteilt, auf denen unterschiedliche Interessenkämpfe miteinander ausgetragen werden. Insofern ist der Blick auf den sozialen Raum aus seiner Sicht immer auch Klassenfrage. Die Stadt als sozialer Raum ist in der Architektur Teil dieser Ordnung. Architektur integriert in ihrer Ausformung verschiedene Disziplinen und Praktiken und ist auch in politische und ökonomische Machtstrukturen eingebunden. Der soziale Raum ist nach Bourdieu zunächst ein symbolischer Raum, der sich in einem materiellen Raum realisiert. Henri Lefebvre beschreibt diesen Prozess als dynamisches Geschehen, das stets neue soziale Praktiken hervorbringt, die immer wieder neu verhandelt werden müssen. Insofern können sowohl Architektur als auch Film als Formen sozialer Praxis verstanden werden, deren symbolischer Raum den materiellen Raum formen und neu hervorbringen kann.

In der Protokollsammlung der Duisburger Filmwoche findet man unter den Schlagwörtern Architektur und Stadt zahlreiche Filme, die sich damit auseinandersetzen, wie Menschen den sozialen (materiellen) Raum, der ihnen quasi auf- und zugeteilt wurde, formen und zurückzugewinnen versuchen. Und es gibt Filme, die den Blick auf die Architektur der Moderne als eine Form einer Utopie zeigen.
Ist die Art und Weise, wie Raum im Film konstruiert wird, auf die Stadt als sozialen Raum übertragbar? Welche politischen Ordnungen werden in der Architektur, der sich die Filme nähern, sichtbar?
Die Architektur der Moderne kam in der Vergangenheit und kommt oftmals noch in der Gegenwart mit einer utopischen Vision daher und ist nicht frei von ideologischen Konzepten. Wie eignen sich die Menschen den sozialen Raum an oder besser: Wie wird aus einem materiellen ein sozialer Raum?

Beyond Metabolism von Stefanie Gaus, Volker Sattel

In den Filmen „Naksvov 1:50“ (2022) von Matilda Mester und „Japan – Big Lagoon Village“ (2021) von Stefanie Gaus geht es um künstlich geschaffenen Raum. Sie thematisieren einen gewissen Widerstand derjenigen, denen ein „Raum“ zugewiesen wurde. Die Filme „Il Palazzo“ (2006) von Katharina Copony und „Beyond Metabolism“ (2014) von Stefanie Gaus und Volker Sattel widmen sich dagegen zunächst dem materiellen Raum selbst: Architektur, die sich als futuristische Vision der Moderne, als Repräsentations- und Wohnhaus, präsentiert. Bei Copony und Gaus/Sattel werden zwei Bauten der Moderne, ihre Funktionen und ihre Symbolkraft auf unterschiedliche Weise gezeigt. In „Beyond Metabolism“ hat das Gebäude vor allem seit dem Kyoto-Protokoll eine gewisse Symbolfunktion und wird auch filmisch anders erschlossen als der „Palazzo“. Inwiefern gibt Architektur vor, wie der soziale Raum sich bildet und was sind die Grundlagen dafür, ihn nach eigenem Ermessen neu zu gestalten?

Il Corviale in „Il Palazzo“, umgangssprachlich auch das Monster genannt, ist eines der längsten Gebäude der Welt (935m). Süd-westlich von Rom gebaut, wurden Menschen aus der römischen Innenstadt hierhin „umgesiedelt“. Zum Zeitpunkt der Umsiedelung war der Komplex noch nicht fertig und wurde auch nie fertigstellt. Es ist ein Gebäude mit ca. 8000 Einwohnern, so groß wie ein Dorf. In seiner brutalistischen Erscheinung erhält es eine Aufmerksamkeit, die mehr an der Architektur interessiert ist als an dem, was dort passiert. Diese Form des vertikalen Bauens geht auf Le Corbusier zurück. Mit seiner Cité Radieuse in Marseille hat er das erste vertikale Hausdorf – die Wohnmaschinen – geschaffen. Stadtraum ist Kapital, es wird in der Stadt gearbeitet oder der Raum wird teuer vermietet, steht er leer, ist er Spekulationsobjekt.

„Il Palazzo“ zeigt und erzählt aus dem Off die Versuche der Bewohner, sich das Gebäude anzueignen – was nicht so richtig zu gelingen scheint und auch nicht vorgesehen ist. Möglichkeiten des Freiraums wurden bei der Planung praktisch ausgeschlossen. Nebenbei hat man auch das Klima Roms verändert: Der Poniente – der Wind, der vom Mittelmeer kam – wird praktisch durch das Gebäude umgeleitet. Demnächst wird es umgebaut, wahrscheinlich müssen die Bewohner dann wieder umgesiedelt werden, weil sie sich die sanierten Wohnungen nicht mehr leisten können. Die Kamera wandert wie eine Besucher:in durch das Gebäude, bleibt aber immer auf Distanz zu den wenigen Personen, die man sieht, und an manchen Stellen bleibt sie interessiert stehen, als gäbe es etwas von besonderem Interesse zu sehen. Dennoch scheinen es eher die ermutigenden Situationen zu sein, die wir sehen, wie den Tanzclub und den Senior:innentreff.

Il Palazzo von Katharina Copony

Nur der Zustand des Hauses und ein paar abgebrannte Autos bezeugen die raue Realität des Ortes und aus dem Off hören wir Geschichten, die diese abbilden. Wohnmaschinen scheinen nicht zu funktionieren oder liegt es nur daran, dass sich hier niemand für die Menschen, die dort angesiedelt wurden, interessiert? Ich werde zwischendurch den Eindruck nicht los, dass der Blick auf das gescheiterte Objekt zu harmlos bleibt und eine Ästhetisierung von Armut und Neugierde auf das deplaziert erscheinende Objekt inmitten der Landschaft vermittelt.

Beyond Metabolism“ ist ein anderes Beispiel für eine visionäre Vorstellung von repräsentativer Architektur. Es geht um das Internationale Congress Center in Kyoto, das aufgrund des Kyoto-Protokolls in die Geschichte eingegangen ist. Ähnlich wie übrigens das ICC in Berlin hat man hier den Eindruck, ein Raumschiff sei gelandet. Die Vorstellungen von Zukunft und Architektur der Zukunft erinnern oft an Science-Fiction-Filme, in denen Gebäude oder auch Transportmittel wie Fremdkörper mit einem Eigenleben erscheinen. Innen vermittelt vor allem der Kongresssaal eine Aura heiliger Stätten, wirkt eher wie eine Kirche. Das Kongresscenter ist genauso ein Fremdkörper in der Landschaft, wie Il Corviale, dennoch gilt es als ein besonders gelungenes Bauwerk. Der Film zeigt Archivmaterial des Architekten und verdeutlicht die funktionalen Überlegungen, die der Konstruktion vorausgingen.

Welche Vorstellungen von Zukunft fließen in den Bau von Mega-Cities ein und welcher Platz wird den Bewohner:innen eingeräumt? Il Corviale fällt unter die gescheiterten Utopien der Stadt der Zukunft, während das ICC in Kyoto nicht nur politische, sondern auch architektonische Symbolkraft ausstrahlt. Aber auch hier gibt es ganz klare Hierarchien – die Menschen, die die Kongresse übersetzen, bleiben mehr oder weniger in ihren Übersetzerkabinen. Die Übersetzer:innen rücken durch die Anordnung der Übersetzerkabinen, in denen das Gesagte der Konferenz in eine fluide Form des Austauschs gebracht wird, fast unsichtbar in den Hintergrund. Dabei ist es gerade ihre Aufgabe und Leistung, die in der Übersetzung so wichtig ist und auf die sich die Beteiligten stützen und auf die sie vertrauen müssen.

Beyond Metabolism von Stefanie Gaus, Volker Sattel

An anderer Stelle sehen wir das Reinigungspersonal, das in den leeren Räumlichkeiten putzt und Stühle rückt und fast klein und verloren erscheint. Die An- und Abwesenheiten sind klar geregelt und spiegeln deutlich gesellschaftliche Hierarchien und politische Ordnungen. Wie könnte eine Architektur aussehen, in denen diese Art von Funktionsbauten, während sie nicht für Konferenzen genutzt werden, auch der Öffentlichkeit zur Verfügung stünden als eine Art Agora? Ein Platz für die Aushandlung über den sozialen Raum muss in der Öffentlichkeit sein. Deshalb: Fragen um die Verteilung von Raum beschäftigen mich immer wieder, wenn es um von Steuergeldern finanzierte repräsentative Bauten geht.

In „Nakskov 1:50“, versucht Matilda Mester das Modell einer Stadt zu rekonstruieren, deren soziale Infrastruktur vorbildlich ist. Nakskov war die sozialistische Vorzeigestadt Dänemarks, in der sich zahlreiche Netzwerke bildeten, die Gewerkschaft war stark, es gab Schulen und Medizin für alle. Es geht um eine Stadt und um den Ort, an dem es Arbeit gab. Arbeit strukturiert auch die Gesellschaftsordnung, und die Architektur ist dieser Ordnung ebenfalls unterworfen. Matilda Mester geht dem nach, was aus dieser Stadt geworden ist, die in sich abgeschlossen zumindest mal gut funktionierte. Im Protokoll ist nachzulesen, wie ie Regisseurin im Filmgespräch einräumt, dass die globalen Abhängigkeiten der Industrie erst später deutlich wurden. Es bleibt also im Prinzip bei einem Modell, das innerhalb der eigenen Grenzen zeitweilig gut funktionierte, aber in dem Moment, als die Nachfrage der Produkte aufhörte, sein Zentrum verlor.

In „Japan – Big Lagoon Village“ hören wir Stimmen, die erzählen, wie sie an diesen Ort kamen. Menschen aus unterschiedlichen Gegenden Japans siedelten sich hier in Ogata-mura an, beziehungsweise konnten sich bewerben. Die Regierung hat ihnen das Land zur Verfügung gestellt und sie mussten gewisse Voraussetzungen erfüllen, um sich dort ansiedeln zu dürfen. Es sollte eine Modellstadt der mechanischen Landwirtschaft werden. Wir hören das, was sich Bewohner:innen „erkämpft“ haben, wie sie sich in dem kontrollierten Raum, der ihnen zu Verfügung gestellt wurde, einrichteten und wie sie sich erfolgreich gegen die Auflagen der Politik gewehrt haben. Ogata-mura gilt in Japan als ein Dorf mit rebellischem Geist – in der kollektiv orientierten Gesellschaft Japans ordnet man sich sonst eher dem Gemeinschaftsinteresse unter.

Japan – Big Lagoon Village von Stefanie Gaus

Ogata-mura und Nakskov waren und sind retrospektiv erfolgreiche Modelle für die Partizipation der Bürger:innen. Dennoch steht auch hier die Arbeit als Faktor des sozialen Raums im Mittelpunkt und die Funktion der Produktion von Waren, der Wohlstand garantiert. In Gemeinschaften haben sich die Bewohner:innen erfolgreich mit den Abhängigkeiten arrangiert und als Gesellschaft selbst reguliert, aber was kommt danach? Wie könnten autarke Räume entstehen, die die Bewohner:innen selbst gestalten und regulieren?

Gemeinschaften und soziale Räume, die sich selbst regulieren, wird unterstellt, dass sie nicht so effizient im kapitalistischen Sinne sind, dabei aber nachhaltiger funktionieren. Wie könnten neue Modelle aussehen und wie könnten alte Modelle Ausgangspunkt für einen neuen sozialen Raum sein? Wie könnte Mitbestimmung aussehen? „Wem gehört die Stadt? – Bürger in Bewegung“ (2014) von Anna Ditges scheint zunächst ein gelungenes Beispiel zu zeigen, denn hier dürfen alle mitreden. Dennoch werden am Ende nicht alle zufrieden sein.

Wem gehört die Stadt – Bürger in Bewegung von Anna Ditges, © Anna Ditges

Sehr deutlich ist hier, in Köln-Ehrenfeld, dass die Bürger:innen eine andere Vorstellung von den Bedingungen haben, unter denen sie leben wollen, als diejenigen, die dort nicht leben oder arbeiten. Aber eigentlich geht es am Ende immer um wirtschaftliche und politische Interessen. In „Wem gehört die Stadt“ wird auch sehr deutlich, wie eingespielt Institutionen und ihre Funktionäre sind, wenn es darum geht, Situationen auszusitzen. Eine Bürgerbeteiligung ist zeitaufwendig und oftmals nicht erfolgreich. Das alles im Alltag unterzubringen kann durchaus zermürbend sein.

Von Architektur geht immer eine gewisse Faszination aus, so dass der Kunstwerkstatus die Funktionalität des Bauwerks im sozialen Raum überschattet. In der überhöhten Darstellung der Architektur in Filmen steht die Ästhetik im Vordergrund und weniger die Widersprüchlichkeit zwischen politischer und sozialer Funktionalität. Die symbolische Repräsentation der Architektur von politischen Gebäuden hat Vorrang vor der Funktionalität vom sozialem Raum für „alle“. Dieser Widersprüchlichkeit und dem Mangel von Architektur und der Verhandlung derselben wird zu wenig Aufmerksamkeit gegeben.

Das gilt für den dokumentarischen und fiktionalen Film gleichermaßen. Bei allen in diesem Text erwähnten Filmen sind die Klassenfrage und die politischen Machtverhältnisse ebenso deutlich, wie die Faszination für die Architektur. Filme zeigen Vorstellungen von Zukunft, konstruieren symbolische Räume und machen Strukturen sichtbar. Aber genauso gut können Filme diese auch manifestieren. Gleichzeitig fehlen jedoch gesamtgesellschaftlich die Utopien für den sozialen Raum. Wie kann Film mehr der Verhandlungsort für Experimente und Diskurs um den sozialen Raum sein, bevor er in der Realität scheitert?

Petra Palmer ist freie Filmkuratorin, Moderatorin und Mitglied des künstlerischen Leitungskollektivs der Woche der Kritik Berlin, Programmberaterin beim Internationalen Filmfestival Mannheim Heidelberg und dem Kurzfilmfestival Interfilm – Berlin und arbeitet für den Bundesverband Filmschnitt Editor e.V. (BFS)