Film

Nakskov 1:50
von Matilda Mester
DK/DE 2022 | 90 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 46
8.11.2022

Diskussion
Podium: Matilda Mester, Bruno Derksen
Moderation: Alexander Scholz
Protokoll: Johanna-Yasirra Kluhs

Synopse

Eine blühende Modellstadt: Schule, Fußgängerzone, Hafen, Fabrik – Nakskov hat eins von allem. Heute scheint der Supermarkt als sozialer Treffpunkt übrig geblieben – auf den ersten Blick. Denn die einst roteste Stadt Dänemarks ist durchwirkt von Netzwerken: der Ruderclub der Werft, das Zuckermuseum, eine verzweigte Geschichte zwischen Arbeiterstolz und Zwangsarbeit. In einer Werkstatt bauen betagte Männer ihre Fabrik als Miniatur nach, sprechen über eine Stadt als Muster.

 

Protokoll

Dieses Protokoll beginnt vor dem Film, da wo der Blick eingestellt wird. Da wo im Vorhinein gerungen wird um mögliche Sichtweisen auf das scheinbare Nichts. Wie kann im Abbild dessen was ist, sichtbar werden, was man dahinter ahnt? Im Falle von Nakskov will Matilda Mester eine glatte Realität als Modell für soziale und politische Bewegung, sozialistische Veränderung, ja vielleicht sogar eine stille Revolution deuten. Sie sagt: „Ich will Teil sein einer deutschen Tradition des politischen Films.“ Und: „Im dänischen kann man sehr gut schimpfen. Aber die deutsche Sprache macht immer so lange Sätze. Deswegen mussten wir die Schimpfwörter leider aus den Untertiteln kürzen. Das müsst ihr euch also imaginieren.“ Ich denke: Interessant. Das ist doch so ein bisschen wie im Modell – das ist bestenfalls sauber. Das Unschöne, Unsaubere, Unpassende wird hier selten mit abgebildet. Es funktioniert. Widerhaken müssen imaginiert und herbeizitiert werden. Das was stört, schafft es nicht in die Übersetzung.

„Nakskov 1:50“ beginnt mit einer Reise ins Archiv. In körnigen Bildern fliegen wir über die Stadt. Die Stadt scheint pastellfarben, übersichtlich, hier ist alles an seinem Platz. Aber die Bildqualität ist schlecht. Matilda Mester sagt später, dass sie froh ist, im lokalen Archiv nur DVDs mit schlechter Abtastung gefunden zu haben. Sie mag die sichtbare Lücke zwischen Originalmaterial und Digitalisat. (Nun, nach Ende ihrer Arbeit, hat das Archiv Geld bekommen für eine bessere Digitalisierung.)

Ein Aldimarkt und der Parkplatz. Dahinter eine Fabrik.

Als Matilda Mester zum ersten Mal (zufällig) in Nakskov landet, sieht sie: Hier passiert nicht mehr viel, die Einkaufsstraßen sind zu, und es gibt nur wenige Leute auf den Straßen. Es gibt drei bis vier große Supermärkte, um die herum zirkulieren die Menschen. Der audiovisuelle Reiz, die Choreografien der Autos und der Menschen interessieren sie. Sie landet dann noch zufällig in einem Antiquariat. Und lernt dort alte Werftarbeiter kennen. Die Werft sieht man natürlich auch sofort, wenn man in die Stadt kommt. Was seltsam ist, wie präsent sie ist, da scho mehr als 20 Jahre geschlossen. Und natürlich fällt die Zuckerfabrik auf. Die gibt es noch. Und von der wird schon ein Modell gebaut, das ständig im Zuckermuseum der Stadt ausgestellt wird. Die komische Überschaubarkeit der Stadt.

Matilda Mester bleibt also hängen beim Offensichtlichen. Diesen alten Herren aus der Zuckerfabrik, die als Rentner ehrenamtlich zwei Mal in der Woche an dem Modell ihres Arbeitsplatzes im Maßstab 1:50 basteln. Und bei den Herren von der Werft, die das Antiquariat führen. Der Blick schweift hier auf ein durchhängendes selbstgebautes Regal – darin zu finden: Lokalgeschichte. Es sei eine bewusste Entscheidung gewesen, die Stadt nicht zu erzählen, wie sie heute ist. Sondern die Vergangenheit der Stadt durch die Männer zu erzählen, die ihr begegnet sind. Aus der sozialistischen Utopie wird die „kleine Stadt mit den intakten Netzwerken“. Und Mester wird von einem Verein zum nächsten geleitet. Dadurch sei der Film auch ästhetisch begrenzt: Er spielt ausschließlich in geschlossenen Räumen, in der Nacht, es gibt kaum Aussichten. Und damit illustriert alles die durchdeklinierte Gesellschaftsordnung mit ihren klaren Hierarchien, in der alles seinen Platz hat. Die verrenteten Männer leben in einer Art Blase, sind nicht von der jetzigen Situation der Stadt berührt – Nakskov existiert da als vorgestellte Stadt, eine Stadt der 60er. Das ist ein bisschen wie in Duisburg, sagt Bruno Derksen, dass man immer irgendwie auch durch die Vergangenheit läuft, die Geschichte scheint irgendwie nicht weiter zu gehen. In der Gegenwart kann nur Stehengebliebenes porträtiert werden. Und in beiden Fällen wisse man: Es ist nicht einzigartig, was dort passiert (ist).

Mester legt Auswege an. Eine zeitgenössische Komponistin stattet den Film mit einer Soundspur aus, die auf klassische Instrumente verzichtet, die ihren eigenen Rhythmus hat, die eigenwillige Beziehungen mit den Geräuschen der Maschinen eingeht. Sie bricht den Rahmen. Das Männerporträt wird mit Frauen-Stimmen von außen konfrontiert. Und im Schnitt habe sie verstanden, dass die intituitive Auswahl der Anekdoten der Gesprächspartner doch einem Prinzip folgte: In deren Humor werden anarchische Impulse angedeutet – subtile Statements gegen die durchhierarchisierte Gesellschaft.

Wie kann aus der Realität ein Modell entstehen? Was ist die 50, wenn Nakskov die 1 ist?

Die Männer gehen in die Fabrik, um ein Detail für die Konstruktion des Modells zu verifizieren. Sie zeigen es den Filmemacher:innen. Die Kamera folgt der deutenden Hand, wir sehen nicht das, was gezeigt wird. Mit einem Herren auf dem Schnürboden der Werft. Er hat hier in den 60er Jahren seine Lehre gemacht. Und gelernt, Konstruktionsmodelle von Schiffen zu zeichnen. Erst ganz klein ins Buch. Dann im Originalmaßstab auf dem Boden. Mit dem Besen in der Hand legt er die Zeichnungen frei.

Bruno Derksen sagt: „Wir haben etwas gesucht in den Gesprächen – aber nicht gefunden. Man hat immer vermutet, man bekommt noch mehr raus, aber es geht dann nicht weiter. Es bleibt bei den Anekdoten. Da war immer eine Lücke. Wo bin ich hier? Wer sind die? Warum reden die, was sie reden? Warum verklären sie? Was geschieht da eigentlich?“ Es muss etwas erzählt werden, das nicht erzählt wird. Matilda Mester meint, am Anfang habe sie vor allem das Potential der Leute interessiert. Es habe ihr Mut und Hoffnung gemacht: Wozu brauchen wir denn den Kapitalisten – wir wissen doch alles selber! Wir brauchen keine Chefs, wir können den Laden selber schmeißen.“ Wie allerdings diese scheinbare Utopie eingebunden sei in globale Ungerechtigkeiten und Ausbeutungsverhältnisse sei erst klar geworden mit der nachträglichen Recherche. Mit der Stadt erscheinen die Hintergründe. Aber bleiben doch irgendwie unverbunden. Matilda Mester entscheidet sich dafür, eine Off-Stimme zu sprechen. Um etwas hinter der Realität liegendes in den Film einzubringen und ihre eigene Haltung. Es sollte kein Film über die Nostalgie über den Wohlfahrtsstaat werden. Sie will auch nicht die allgemeine Stimmung wiederholen, die die Realität als verlorenes Paradies empfindet. Und so spricht sie über die Schifffahrt und den dänischen Kolonialismus, über ungelernte Frauen, die in der örtlichen Hundefutter- und  Frühstücksgetreidefabrik OTA arbeiten und auf den Zuckerrübenfeldern, die irgendwann das importierte Zuckerrohr aus den Kolonien ergänzen. Was sie nicht wollte: Frauen im Zusammenhang mit reproduktiver Arbeit erzählen. Und soziologisch arbeiten.

Im Grunde sei die Motivation für den Film ganz banal: Es gehe um ihr eigenes Interesse, die Welt zu verstehen. Aber die Welt ist groß und wo fängt man aber an? Karl Marx helfe ihr, die Welt zu denken. Und dieses Denken fängt an mit Begriffen an – damit, dass man ein Modell macht aus der Welt. Die Welt ist ein unendlicher Fluss aus Zeit, Geräuschen, Licht, der unverständlich ist – im Film kann man in diese Welt eintauchen, in eine wort- und begriffslose Welt. Worte und Begriffe machen dann ein Modell daraus, sie vereinfachen. Und so können wir politische und Machtverhältnisse verstehen. Zum Beispiel Nakskov als einst roteste Stadt Dänemarks.

„Das heißt, du wolltest eine Reibung herstellen mit der großen Geschichte?“ „Gute Interpretation.“

Es wird von einer romantischen Annäherung zwischen Mann und Frau erzählt. Er zu ihr: „Bevor wir uns füreinander entscheiden können, musst du nach Feierabend zum Werkstor kommen, sonst kannst du nicht verstehen, wo wir hier sind (wer ich bin).“