„Es muss die Grenze gefilmt werden, jedoch unter der Bedingung, dass sie überwunden wird: vom Regisseur in der einen, von der realen Person in der anderen Richtung. […] Die Grenze kann lediglich als zurückweichende wahrgenommen werden, wenn man nicht mehr weiß wo sie verläuft.“
Mit diesem Zitat aus Gilles Deleuzes Kino-Büchern eröffnet Brigitta Kuster ihren Text „Die Grenze Filmen“ im Sammelband der transnationalistisch und ethnografisch arbeitenden Transit Migration Forschungsgruppe zu verschiedenen Perspektiven auf Migration in Europa. Bilder, die im Kontext von „Migration“ und Flucht entstehen, so Kuster, befördern Ästhetiken, Repräsentationen, bedienen Metaphern und Stereotypen, welche letztlich die Grenze verfestigen und ihr so einen topografischen Status zuweist, den es televisuell „zu überblicken“ gelte. Deleuzes Satz vom Filmen der Grenze wird bei Kuster umgedeutet zu einer filmisch-politischen Praxis, zu einem Begleiten der Passage, zum Infragestellen von Topografien der Grenze mit seinen Lagern und Blickregimen und führt zu einem ethnografischen, empathischen, kooperativen, Begleiten von Undocumented Migrants jenseits von geltendem Recht oder visueller Ökonomien des Stereotyps oder aktualistischen Nachrichtenwerten. Dokumentieren hat im Kontext dieser Migrationsforschung immer auch den Aspekt einer gouvernementalen Kontrolle über das dokumentierte Subjekt: als „Identifizierung“, als Herkunftsnachweis oder als Zuweisung zu einem fixem Dies- oder Jenseits der Grenze. Das Undokumentierte klandestiner Migration steht zum Thema der Filmwoche in einem Widerspruch.
Selten war die deutschsprachige Öffentlichkeit so gut über die Topografien von Flüchtlingsbewegungen informiert – sei es über die Auslagerung des europäischen Grenzregimes in die Türkei, in das Mittelmeer oder jüngst in das autokratische Belarus. Den Verlust der Unschuld des Fernsehens in der Fluchtgeschichte seit 2015, markiert der Tritt der Kamerafrau an der serbisch-ungarischen Grenze 2015, der seinerseits gut dokumentiert ist. Zu einem Zeitpunkt, an dem – nur sechs Jahre nach Donald Trumps anmaßendem Pitch einer 3000 Kilometer langen Border Wall im Süden der USA – von einer Möglichkeit eines europäischen Grenzzauns die Rede ist, bietet auch die Filmwoche Bilder außerhalb populistischer Politiken, televisueller Ökonomien und extrastaatlicher Lenkungslogiken an. Doch was sind die adäquaten Darstellungsformen von Migration außerhalb der gouvernementalen Formen von Fernsehen sowie den Drohnen und der Satellitenüberwachung von Frontex? Wie sich ein Bild machen von individuellen Erfahrungen von Flucht, von Rassismen und buchstäblichen Grenzerfahrungen?
Als Forum, auf dem nicht nur dokumentarisches Filmemachen als Kunstform, sondern dokumentarische Bildlichkeit per se verhandelt wird, bietet die Duisburger Filmwoche seit 40 Jahren einen Diskursraum, der neben der Verfahren ihrer Filmemacher:innen auch hegemoniale Bilderproduktion befragt. Auf Protokult sind die mitunter per OCR gescannten Originalprotokolle als dokumentarische Verfahren und Fragestellungen verschlagwortet: Sei es als Reenactment, als Bildproduktion, als Erfahrung von durchreister Landschaft oder als Verhältnis dokumentarischen Filmemachens zum Fernsehen. Hier lässt sich nicht nur eine Selbstreflexion dokumentarischen Filmemachens über die eigene Bildproduktion nachverfolgen, sondern auch die jeweils aktuellen medialen Bilderwelten, zu denen sich die Filmemacher:innen in Beziehung setzen.
Auf der Filmwoche 2021 ist Brigitta Kuster am Freitagmorgen im Gespräch mit Philipp Scheffner. Dessen Film „Revison“ von 2012 versucht, gewisser Umstände, die 1992 zum Tod zweier rumänischer Männer nahe der deutsch-polnischen Grenze führten, habhaft zu werden. Eudache Calderar und Grigore Velc waren von zwei Jägern in einem später als solchen deklarierten Jagdunfall (und daher ohne juristische Konsequenz) an der noch Außengrenze zu Polen getötet worden. Wenngleich, oder gerade weil die Umstände dieser Tode im Unklaren sind und den Angehörigen nicht kommuniziert wurden, nähert sich Scheffner mit seiner Koautorin Merle Kröger mit den Mitteln des Dokumentarischen. Zu dokumentieren gilt es, was nicht adäquat dokumentiert ist: Weder in Polizeiberichten noch in Korrespondenz der deutschen Gerichtsbarkeit mit den Angehörigen der beiden Rumänen „auf dem Weg von Rumänien nach Deutschland.“ Scheffner und Kröger zeigen nun nicht nur die zuvor unsichtbaren Angehörigen in Rumänien, sondern auch die Landschaften dieser im Umbruch begriffenen Grenze: Sowohl Polen als auch Rumänien sind mittlerweile Mitglieder der EU, die Grenze ist also eine Art grüne Grenze geworden: Die Mais- und Weizenfelder der ehemaligen Außengrenze sind mittlerweile mit Windrädern bestückt. Nadine Voß‘ Protokoll zu Revision vermerkt: „Ein anderes Sprechen, ein anderer Raum für die Versionen und Erzählungen, die in einer juristischen Sackgasse verlaufen sind, soll bereitgestellt werden.“
Intensiv wie kaum eine andere Filmemacher:in hat Ursula Biemann das Verhältnis von hegemonialer und künstlerischer Bilderproduktion im Kontext von Migration, Globalisierung und Trafficing erkundet. Das Protokoll zu Ursula Biemanns „Remote Sensing“ von 2001 dokumentiert die Ungewohntheit der verwendeten Satellitenbilder der geografischen Informationssysteme, die (fünf Jahre vor Google Maps) noch den Feldern des Militärs und der Forensik zugeordnet waren. Biemanns Gegenstand ist das globalisierte Sex-Trafficing in Form einer unsichtbaren Schattenwirtschaft, in der militärisches und Geoinformations-Material mit Talking Heads betroffener Frauen in Splitscreens montiert ist. Damit stellt sich die Frage nach der Darstellbarkeit von unsichtbaren und abstrakten Gegenständen wie Globalisierung oder die Bewegungen von Migrationsströmen – aus welchen Beweggründen auch immer sie erfolgen mögen.
Lebhaft mag manche Filmwochenbesucher:in aus den letzten Jahren die Diskussion zu Florian Kunerts „Fortschritt im Tal der Ahnungslosen“ in Erinnerung sein, in der über die Form des Reenactments von (migrantischer) Erinnerung gestritten wurde. Im Protokoll ist von Anfeindungen, Aufgebrachtheit, den Saal verlassenden Zuhörer:innen und allgemein von dem „lobenswerte[n] Ruf der Filmwoche als Austragungsort heftiger Debatten“ die Rede. Kunert hatte die Arbeitsorte ehemalige DDR-Arbeiter:innen besucht und für deren Begegnung mit geflüchtete Personen aus Syrien gesorgt, um sich durch Reenactment von Werksarbeit, aber auch von DDR-Ritualen (wie etwa dem morgendlichen Schulappell) gemeinsam der Vergangenheit dieses Landstrichs anzunähern. Dort schwingt auch eine historische Wandlung von Topografie mit: den im Verfall begriffenen Werken des von westlichen Fernsehen nicht erreichbaren „Tal der Ahnungslosen“, dessen schwache Infrastruktur, billiger Baugrund und Leerstände es 40 Jahre später zum idealen Ort für die (temporäre) Ansiedelung der Geflüchteten macht. Die Diskutant:innen von 2019 fanden diesen Anspruch jedoch nicht abgebildet: Von einer „Muppet-Show“ war die Rede, die die Geflüchteten und gleichsam die ehemaligen DDR-Arbeiter:inner als Objekte dokumentarischen Bauchredens inszeniere. Als Mithörer der Diskussion ist mir Stefan Kolbes im Protokoll dokumentierter Zwischenruf „Niemand braucht diese Form!“ noch im Ohr. Kolbe (gemeinsam mit Chris Wright) wird auf der Filmwoche 2021 selbst mit ganz anderen Puppen hantieren.
Wie die in den Duisburger Protokollen dokumentierten Filmdiskussionen zeigen, stehen Migration und Erfahrungen von Rassismus in direkter Beziehung zu ihrer Repräsentation. Das – zumeist weiße – Filmemachen des deutschsprachigen Dokumentarfilms ist, so dokumentieren es die Protokolle, immer wieder auf diese Repräsentationen und den Umgang mit seinen Protagonist:innen befragt worden. Von hier aus – und unter Rückbezug auf die Bildproduktionen in den letzten 20 Jahren Filmwoche – lohnt sich auch ein Blick auf die Filme des aktuellen Programms: In „Uncomfortably Comfortable“ begegnet Maria Petschnigs schwarzer und wohnungsloser Protagonist im Stadtraum Brooklyns immer wieder Rassismen und Ausgrenzung durch Wohnungslosigkeit. Petschnig tritt mit ihrem Protagonisten in einen Dialog, der in Gesprächen, Fragebögen und Textnachrichten auf einem Handybildschirm dokumentiert ist. Ergebnis dieser kommunikativen Auseinandersetzung über den zu entstehenden Film ist ein Protagonist, der gleichsam durch die Narration navigiert, die Bildausschnitte mitbestimmt. Anders als die statischen Bilder der Landschaft in „Revision“ und Biemanns Found Footage in „Remote Sensing“ taucht die mobile Kamera in die Stadtlandschaft und heterogene Räume ein, in denen sich der wohnungslose Marc Thompson orientiert. Auffällig ist auch der Einsatz von Handkamera in „Arrival Points“ von Rheim Alkadhi. Er versteht sich als eine Art topografische, archäologische und ethnografische Field Work, in der die Landschaften des Mittelmeeres – angefangen bei dem durch eine Bombenexplosion zerstörten Beiruter Hafen, über die Strände europäischer Inseln als Ziel von illegalisierten Migrant:innen bis hin zum Flüchtlingslager Moria auf Lesbos – gleichsam nacherfahren werden. „Augusts Orte“ schließlich von Valérie Pelet kontrastiert die visuelle Postkartenidylle touristischer Orte in warmen Farben und langsamen Schwenks mit einem Voice over über die Politiken des Schengenraums und individuellen Migrationsgeschichten. Es wird auch Aufgabe der Duisburger Diskussionen sein herauszufinden, in welchen Formen der Bildproduktion und sich ändernden Ansprüchen an Repräsentation sich die beschleunigte Globalisierung niederschlägt.