Film

Fortschritt im Tal der Ahnungslosen
von Florian Kunert
DE 2019 | 67 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 43
05.11.2019

Diskussion
Podium: Florian Kunert
Moderation: Alejandro Bachmann
Protokoll: Eva Königshofen

Synopse

Ein märchenhafter Ort: In einem ostsächsischen Tal fahren syrische Asylbewerber zu gestrigen Heimatliedern Trabbi und hissen leise kichernd DDR-Flaggen. Währenddessen sinnen ältere Herren in den Industrieruinen des Kombinats „Fortschritt“ mit widersprüchlicher Nostalgie ihrer Vergangenheit im Arbeiter- und Bauernstaat nach. Der Filmemacher bringt diese Orte und Menschen in Kontakt. Ein Deutsch-Orientierungskurs für alle Beteiligten.

Protokoll

Neben mir höre ich schon aufgebrachtes Flüstern, bevor die Diskussion überhaupt begonnen hat. Und in der kommenden Stunde bestätigt sich mir der ja durchaus lobenswerte Ruf der Filmwoche als Austragungsort heftiger Debatten.

Vorne: Regisseur Florian Kunert und Alejandro Bachmann, der das Gespräch mit seiner persönlichen Seherfahrung einleitet. Auch nach dreimaligem Anschauen hinterließe der Film immer noch Verwirrung bei ihm, was ihn nach der Intention des dramaturgischen Konzepts fragen lässt, das er als „verschiedene Fäden, die nicht zu einem Bild zusammengefügt werden“ beschreibt. Allein die erste Szene, in der drei Männer mit einem Trabbi in die Reste des Forschritt-Werks im ehemaligen „Tal der Ahnunglosen“ fahren, sei zunächst nicht als dokumentarische markiert, sondern könnte auch der Beginn eines Spielfilms sein. Kunert legt seinen persönlichen Bezug dar; es handele sich um den Trabbi seines Onkels, der früher im Werk gearbeitet hat, dass die wenn auch „makabre Leichtigkeit“ der Szene ihm als passende Einleitung erscheine, bevor in Zwischentiteln die Ausgangslage des „Experiments“ beschrieben wird. In diesem sollen geflüchtete Personen aus Syrien auf ehemalige Mitarbeiter*innen des Werkes treffen, um sich durch Reenactment von Werksarbeit, aber auch DDR-Ritualen, wie z. B. dem morgendlichen Schulappell, gemeinsam der Vergangenheit der DDR annähern. Bevor er angefangen habe, mehr zu den Fortschritt-Werken zu recherchieren, waren Lieder aus der DDR ein Ausgangspunkt des Films, die er im Archiv von Neustadt gefunden habe, das Kunert im Verlauf des Gesprächs konsequent seine Heimatstadt nennt. Ob man nun den Heimatbegriff gänzlich ablehnt oder nicht – an dieser Stelle markiert Kunert zwar das Privilegien-Gefälle zwischen ihm und seinen Darsteller*innen, er markiert es aber meines Erachtens eher aus Versehen. Diese vermeintliche Kleinigkeit scheint mir rückwirkend als durchaus erwähnenswert, weil Kunert sich im Laufe der Diskussion mehrfach als sehr unachtsam in seinem Sprachgebrauch zeigt, spricht von „den Anderen“ und von „gemeinsamer Rassismuserfahrung“.

Aber zurück zum Anfang des Gesprächs. Alejandro Bachmann erkundigt sich nach der Situierung des Regisseurs und den Unterschieden im Verhältnis zu den syrischen Geflüchteten und den ehemaligen Arbeiter*innen aus der DDR. Die geflüchteten Personen seien seine „Recherchepartner“ gewesen, antwortet Kunert, und dass er sich mit ihnen gemeinsam auf Augenhöhe der DDR-Geschichte habe nähern wollen. Er habe sie als Protagonisten gewählt, weil es ihm neben dem Fortschritt-Werk wesentlich um die Thematisierung der Pegida-Demonstrationen von 2015 gegangen sei, die sich an der sogenannten „Flüchtlingswelle“ aufgehangen haben. Es wäre keine „Überzeugungsarbeit“ nötig gewesen, so Kunert, die syrischen Männer hätten sich gerade in der „Limbophase“ – wie er es nennt – befunden, seien also erst vor kurzer Zeit in Deutschland angekommen und entsprechend noch arbeitslos gewesen. Ein wesentliches Anliegen des Films sei es, über die eingefahrenen Narrative über geflüchtete Personen, aber auch die DDR hinauszudenken.

Im Folgenden erkundigt Bachmann sich danach, wie die Arbeit bezüglich der performativen Anordnungen, das Nachspielen von Werksarbeit, aber auch von Kriegserfahrungen der syrischen Männer, genau aussah. Diese ließe sich am besten als Erinnerungsarbeit bezeichnen, entgegnet Kunert, ihn interessiere der Moment, wenn Personen durch die Situation des Reenactments in das Unbewusste der Sprache vordringen, also nicht mehr genau über ihre Wortwahl nachdächten. Genau diese Momente habe er filmisch beobachten wollen, die „instinktive Sprache und Körpersprache“, um Erkenntnis über die Menschen und deren Erinnerungsprozesse zu gewinnen. Diese Erinnerungsarbeit habe auch in den langen Diskussionen stattgefunden, wie es sie beispielsweise nach der spontan entstandenen Kriegsszene in der Ruine des Fortschritt-Werks gegeben habe, bei der die syrischen Männer mit Holzleisten als Waffen eine Erschießung nachspielen – eine der fragwürdigsten Szenen des Films. „Things got out of hand,“ – nimmt Kunert seine eigene, von Bachmann aus einem Interview zitierte Rede wieder auf, und ergänzt: „Things got out of hand, but nobody got hurt.“ – Und an dieser Stelle frage ich mich mit der Vehemenz, für die während des Protokollierens eben so Platz ist, wie er sich denn da eigentlich so sicher sein kann. Einfach, weil ich es mir ehrlich gesagt kaum vorstellen kann, wie so eine „safe“, eine verletzungsfreie Arbeit, die die Subjektivität gelebter Erfahrung berücksichtigt, im Rahmen dieses Filmexperiments überhaupt leistbar sein kann. Und so bin ich fast dankbar, dass Stefan Kolbe an dieser Stelle wütend reinruft, warum man von der gemeinsamen Reflexionsarbeit denn im Film so gar nichts sehen würde, was Kunert sich dabei gedacht habe. Der Film sei „so leer, eine nette provokante Idee, aber so grottenschlecht geschnitten, und dass es sich da in Anbetracht der Relevanz des Themas um eine gefährliche Naivität handele.“ Und als Kolbe sich auch nach mehreren Aufforderungen „wieder herunterzukommen“ kaum beruhigen kann, sich erneut lautstärkemäßig im Ton vergreift und damit ein Diskussionsverhalten zeigt, das zwar irgendwie sogar gesprächsfördernd, aber, wie ich finde, dennoch unangemessen ist, bin ich trotzdem davon beeindruckt, dass seine Wut vor allem aus dem falschen Umgang mit dem so wichtigen Thema zu resultieren scheint.

Bachmann gelingt es, das Gespräch wieder ein wenig zu ordnen. Er betont, die Zusammenarbeit mit den syrischen Männern hätte ihm bei aller Kritik sehr gut gefallen. Und Kunert bejaht, er habe in der Zusammenarbeit häufig vergessen, dass es sich um Flüchtlinge handele. Und dass der Vergleich der syrischen Geflüchteten und ehemaligen DDR-Bewohner*innen „sinnlos“ sei, als Gedankenmodell aber spannend, denn wie der Film ja auch gezeigt habe, hätten sich die Personen durchaus etwas zu sagen. An dieser Stelle bittet Serpil Turhan um Mitspracherecht des Publikums und sagt, der Umgang mit den jungen Männern, ihre Inszenierung bzw. Instrumentalisierung, habe sie an die Muppet Show erinnert. Und eine andere Person ergänzt, „Muppet Show“ ließe sich auch auf die Darstellung der älteren Menschen aus der ehemaligen DDR ausweiten, die Erinnerungsarbeit im Film bliebe weitestgehend unsichtbar, sodass es eher zu einer „Reproduktion der Herrschaftsverhältnisse“ käme. Kunert kontert mit einer offenen Gegenfrage ans Publikum, ob die „Ethik am Set“ denn im Film sichtbar sein müsse, denn im Fall seines Filmes würde ihn das zwingen, die Form zu verlassen. (Aufgebrachter Zwischenruf: „Niemand braucht diese Form!“) Schließlich meldet sich Kommissionsmitglied Luc Schaedler zu Wort. Er habe den Film mit ausgewählt, weil er eine gelungene Beschäftigung mit dem Verlust von Heimat darstelle, weshalb es legitim und sinnvoll sei, die syrischen Männer zu inszenieren, das sei keine „Muppet Show“, sondern Teil der Kollaboration. – Applaus –

Zuletzt meldet sich Frédéric Jaeger zu Wort. Die Übergriffigkeit der drängenden Nachfragen des Regisseurs sei an vielen Stellen des Filmes durchaus sichtbar, man habe gemerkt, wie sehr Kunert eher an Herstellung von Situationen als an deren Beobachtung interessiert gewesen sei. Diese Übergriffigkeit bleibe sehr unterkomplex, was der Genese des Films entsprechend darauf hindeuten würde, dass es sich um ein klar gescheitertes Experiment handele. „Sollen wir das so stehen lassen?“, fragt Kunert und fügt hinzu, dass während der Entstehung des Filmes immer deutlicher geworden sei, dass für eine umfassendere Positionierung seines Regisseur-Ichs darin kein Platz ist, was schade sei, denn er habe viel zu sagen. (Zwei Personen neben mir verlassen daraufhin den Raum.)

Dass Kunert viel zu sagen hat, hat sich heute Abend gezeigt, dass er sich dabei im Verlauf des Gesprächs in Uneindeutigkeiten verstrickt, ist vielleicht noch als nervöse Konsequenz der doch sehr aggressiven Stimmung zu entschuldigen. Dass er allerdings nicht schon geübter darin ist, seinen Film gegen Anfeindungen zu behaupten (denn nach eigener Aussage gab es vergleichbare Situationen schon öfter), verwundert mich dann doch sehr.