6.11.2001: In Duisburg wird Normalität verhandelt. Im gleichnamigen Programm, das sich aus 11 Videominiaturen zusammensetzt, untersucht Hito Steyerl die schrittweise Normalisierung von Rassismus in der deutschen Gesellschaft. Im Gespräch ortet die Filmemacherin ein „Problem der Bildfindung für die Struktur von Gewalt“. Als bedeutender Aspekt habe sich im Zuge des Projekts die Wiederholung etabliert. Stets von neuem gibt es Anschläge auf das Grab von Heinz Galinski bis zur Zerstörung der Grabplatte. Erst die serielle Gewalt wird zur strukturellen Gewalt: Serialität ist demnach der Motor der Normalisierung.
Im Gespräch wird die Frage aufgeworfen: „Wer sind Sie und aus welcher Position betrachten Sie Deutschland?“ – Eine Formulierung, die irgendwo nach Vorwurf schmeckt. Natürlich: Wer sich mit dem Alltag strukturell-rassistischer Gewalt auseinandersetzt, muss notgedrungen eine Nestbeschmutzerin sein. Andererseits ist die Frage der Positionierung, der Haltung von jeher eine zentrale in Duisburg: Sie wird moralisch problematisiert, hinterfragt und kritisiert – und wo sie scheinbar fehlt, wird sie rückwirkend eingefordert. Dabei kann sich Haltung in den unterschiedlichsten Bereichen eines Films, langen Einstellungen und kleinsten Details manifestieren. Das macht sie als Diskursbegriff so spannend, wobei sie sich letzten Endes „leichter als filmische Methode denn als politische Forderung besprechen lässt“ (so Judith Klinger 1992 im Protokoll zum Filmgespräch von Thomas Heises Stau – Jetzt geht’s los). Dem Vorwurf des „moralischen Untertons“ in Normalität 1–11 entgegnet Hito Steyerl damit, dass es ihr wichtig gewesen sei, ihre eigene politische Positionierung auch mittels persönlichen Auftretens in ihre Videoarbeit einzuschreiben. Sie sei selbst Teil dieses Normalisierungsprozesses, dessen Strukturen sie über 10 Jahre untersucht hat.
Zum Zeitpunkt dieses Gesprächs sind vier der insgesamt zehn Mordopfer des NSU bereits tot. Bis zur Gründung der erfolglosen SoKo Bosporus vergehen noch vier Jahre, in denen weitere drei Menschen ermordet werden. Es begann am 9. September 2000: Enver Şimşek wird an seinem Blumenstand erschossen, an einer Straße, die durch einen malerischen kleinen Laubwald führt. Dort setzt der Film Spuren (R.: Aysun Bademsoy, 2020) ein. Ali Toy kehrt jeden Samstag zu diesem Tatort zurück, um zu kontrollieren, ob die an einem Baum angebrachte Erinnerungsplakette noch da ist – und um Blumen zu verkaufen. Er erzählt von seiner persönlichen Erinnerungsarbeit, er zeigt Zeitungsausschnitte, die er gesammelt hat. Mit dem Ermordeten verbindet ihn die Liebe zur Flora. Unweit des Tatorts hat er verschiedene Obstbäume gepflanzt, die einen Radweg säumen: Hier der Apfel, da die Kirsche, dort die Walnuss. Die Bäume tragen mittlerweile Früchte, die Ali Toy stolz präsentiert. Diese Bäume sollen, so sagt er, der Seele Envers Schatten spenden. Jeden Samstag gießt er sie mit dem Restewasser, das zuvor die Schnittblumen frisch hielt.
Spuren ist filmische Kollaboration: Kein Verhör von außen, sondern ein gemeinsames Besprechen. Ein Lokalaugenschein darüber, was bleibt. Wie der Film erkennen lässt, trafen die Anschläge zwar Einzelne, aber sie galten allen: ihren Familien, ihren sozialen Netzwerken, ihren Religionen. Rassismus: ein willkürliches Über-Den-Kamm-Scheren verschiedener Menschen auf Basis einer Zuschreibung, die einerseits sofort als fadenscheinig entlarvt werden kann und die andererseits so tief verwurzelt ist in den Strukturen bzw. Funktionsweisen von Gesellschaft. In einem Kommentar macht die Filmemacherin das deutlich, wenn sie von ihrer eigenen Betroffenheit erzählt. Als sie damals von den Morden in der Zeitung gelesen hatte, war ihr sofort klar, dass diese auch ihren Vater oder ihre Brüder hätten treffen können. Eine Erkenntnis, die den Ermittlungsteams bis zuletzt erspart bleiben soll. Jene Strukturen, die für Gerechtigkeit sorgen sollen, reihen sich nahtlos ein und knüpfen an die Anschläge an, indem sie die Klaviatur rassistischer Vorurteile durchdeklinieren. Die Ermordeten und ihre Familien werden krimineller Aktivitäten verdächtigt, sie sollen Drogen gehandelt, Waren geschmuggelt oder Geld gewaschen und so zu ihrer Ermordung beigetragen haben.
Spuren konzentriert sich vollkommen auf die offenen Wunden, schenkt den Gedanken der Überlebenden Gehör, gibt der Trauer und der Empörung den nötigen Raum. Es ist ein politischer Film im Versuch, Privatsphären wiederherzustellen, die doppelt zertrümmert worden sind – zunächst von den Morden und in Folge dessen von reißerischen Schlagzeilen und falschen Verdächtigungen. Dabei wird Normalität auch hier zum Motiv. Zunächst die Unmöglichkeit, zu einer Normalität, einem „normalen“ Alltag zurückzukehren. Dann aber auch die Normalisierung dieser Unmöglichkeit: Wer immigriert, arbeitet sich ab an der Differenz zwischen einem Ist- und einem Soll-Zustand. Im Politikjargon wird dies Assimilation genannt – eine Anpassung: Funktioniert nicht lückenlos, es bleibt immer ein Rest. Im Falle der Protagonist:innen in Spuren wurde diese Differenz um ein Vielfaches multipliziert. Visualisiert wird diese Diskrepanz in den Einstellungen auf den Fahrten zwischen den unterschiedlichen Tatorten: Am Zugfenster vorbeiziehende Kulturlandschaft oder ein Autobahnkreuz, Sinnbilder des banalen Alltags, konterkariert durch einen Kommentar, der sie unheimlich und unwirtlich wirken lässt. Es geht um Menschen, die dieses Land zu ihrer Heimat machen wollten – und die daran gehindert wurden.
Was bleibt, muss bewahrt werden, weil „das Vergessen der Vernichtung Teil der Vernichtung selbst [ist]“ (Jean Baudrillard). Für die NSU-Opfer werden Denkmäler errichtet. Ein wichtiger Schritt. Wir erinnern uns an Revision (R.: Philip Scheffner, 2012), ein Film, der versucht, strukturelle Rassismen historisch zu dekonstruieren. 1992 werden zwei rumänische Grenzgänger von Jägern erschossen. Im Film wird dieser Fall wieder aufgerollt. Auch hier gerät der Tatort ins Blickfeld, auch hier ist es ein banaler Ort: ein Maisfeld mit Windrädern. Die Windräder sind in Revision ein wichtiges Motiv. Sie sollen Denkmäler sein, nicht nur für Eudache Calderar und Grigore Velcu, sondern für alle Grenztoten (vgl. Protokoll von Nadine Voß zu Revision, 6.11.2012). Spuren dokumentiert die Denkmalwerdung, zeigt zugleich aber die Diskrepanz auf zwischen dieser offiziellen Form der Anerkennung und der Enttäuschung über die mangelnde Aufklärung und die zu milden Strafmaße im Rahmen des Prozesses. Damit wird der Film selbst zum Denkmal, macht ein Stück Erinnerungspolitik.
4.11.2011: Der NSU enttarnt sich selbst. Was viele bereits ahnen, wird nun von den Verantwortlichen selbst bestätigt: Nicht die migrantisch-kriminelle Unterwelt, sondern der nationalsozialistische Untergrund hat die Morde begangen. In der Woche darauf kreisen die Filmgespräche der Duisburger Filmwoche 35 unter dem Motto „Stoffe“ um die Themen von Migration, Fremdsein und Abschiebung. Dabei unterbleiben „Vergleiche mit den sogenannten aktuellen Ereignissen“ (so Judith Keilbach im Protokoll zu Normalität 1–11, 6.11.2001). Tatsächlich wurde in Duisburg nur zweimal explizit bzw. nachweislich über den NSU gesprochen: Einmal im Rahmen des Filmgesprächs zu Der NSU-Prozess – Das Protokoll des ersten Jahres (R.: Soleen Yusef, 2014) und einmal 2017 im 3Sat-Extra-Gespräch zwischen Thomas Heise und Matthias Dell. Vielleicht ist das auch besser so. Vielleicht sollten wir aufhören, besessen zu sein von den Täter:innen und stattdessen weiter Räume des Zuhörens öffnen, in denen die Stimmen der Ränder und des Minoritären zu Wort kommen. Stimmen, von denen wir erkennen sollten, dass sie aus der Mitte der Gesellschaft sprechen, dass sie auch über uns sprechen, die wir daran scheitern, gute bzw. bessere Verbündete zu sein.