Fabian Tietke

Blätterteig

Heiligabend auf St. Pauli von Klaus Wildenhahn. „Der funktioniert“, so Farocki, „auch wegen des Personals. Aber kurzum, man kommt mit der Wirklichkeit nicht aus.“

Schichten sind gleichermaßen Ablagerungen und Ordnungen, Schichten der Duisburger Filmwoche zumal. Die Diskussionen nach den Filmen der Filmwoche sind Katalysatoren einer spontanen Sortierung, die Protokolle fungieren als erste verfestigte Form. Mit den Jahren lagern sich darauf weitere Diskussionsprozesse ab, die Fäden wieder aufgreifen, abreißen lassen oder neue knüpfen. Nicht selten sind diese verknüpft mit Personen. Als Verkörperung von Positionen hinsichtlich der Ästhetik des Dokumentarischen, als Repräsentanten der sozialen Hierarchien inner- und außerhalb der Diskussionen der Filmwoche. Ihrer zeitlichen Grenzen zum Trotz leben Festivals von Kontinuität. Besucher:innen kommen wieder, greifen über Festivaljahrgänge hinweg Themen auf.

1993 läuft Claas Danielsens Im Grenzgebiet auf der 17. Duisburger Filmwoche. Das Protokoll zur Diskussion von Torsten Alisch notiert hinter einer Erwähnung des Namens Klaus Wildenhahn in Klammern „Beobachten, nicht Interviewen“. Der Name des Dokumentarfilmers Klaus Wildenhahn, prominentester Vertreter des direct cinema in Deutschland, NDR-Redakteur und wiederholtes Mitglied der Auswahlkommission der Filmwoche, war längst zur Chiffre geworden für eine ästhetische Position. 2004 stichelt Harun Farocki in der Diskussion nach seinem eigenen Film Nicht ohne Risiko gegen einen Film von Wildenhahn „man kommt mit der Wirklichkeit nicht aus.“ Klaus Wildenhahns Ästhetik des Dokumentarischen ist ein wiederkehrender Topos in den Protokollen der Duisburger Filmwoche quer durch die Jahrzehnte. Verbunden wird sein Name mit einer Position, die für sich in Anspruch nimmt, aus einer zurückhaltenden Position das Gezeigte zu seinem Recht kommen zu lassen.

Zwischen Cola und Flipchart: Anwalt des Kapitals in Farockis Nicht ohne Risiko

Folgt man den Referenzen auf diese Diskussion durch die Festivaljahrgänge, landet man am Anfang der Geschichte der Filmwoche; landet man bei einer Debatte, die zum Schlagwort Kreimeier-Wildenhahn-Debatte geronnen ist. Das Schlagwort bezeichnet eine Debatte um die Frage der Positionierung des:der Filmemacher:in und eine Kontroverse ob und wie diese:r in das Geschehen vor der Kamera eingreifen darf. Ausgangspunkt der Debatte ist die Diskussion nach der Vorführung von Helga Reidemeisters Von wegen ‚Schicksal‘ auf der Filmwoche 1979. Der Film ist der zweite, den Reidemeister gemeinsam mit ihrer Protagonistin gedreht hat und zeigt die Emanzipation von Irene Rakowitz.

Im Nachgang zu diesem dritten Festivaljahrgang schreibt Klaus Kreimeier eine Bilanz für die Frankfurter Rundschau: „nicht von ungefähr setzte sich der mit Abstand radikalste, mutigste Dokumentarfilm der Woche, Helga Reidemeisters Von wegen Schicksal‘, rüden Anwürfen aus, weil er die Konflikte in einer zerrütteten proletarischen Familie in ihrer unerträglichen Spannung vor Augen führt – und weil die Autorin nicht davor zurückschreckte, in die Verhältnisse vor der Kamera einzugreifen.“ Wildenhahn reagiert mit einer 18 Seiten langen Replik, die Kreimeiers Kritik an der Zurückhaltung ihrerseits als „unduldsame[s] Gebaren im Gewand der kritischen Rhetorik“ kritisiert. In Kreimeiers Unterstützung der Involviertheit glaubt er die „fehlgeleitete Dialektik von Bildungsbürgern“ zu erkennen, „die den politisch nicht bewältigten Konflikt im ästhetischen Produkt zu lösen trachten“. Klassenkonflikte werden zu ästhetischem Schichtkäse.

Ästhetisch lösen, was politisch unbewältigt bleibt? Von wegen Schicksal ist 1979 Ausgangspunkt einer Debatte um Klassenbilder und dokumentarische Ethik © DFF

Vorgeschichte. Im Februar 1974 ist der niederländische Filmemacher Joris Ivens zwei Tage lang in West-Berlin zu Gast. In einer Diskussion mit Studierenden der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin in diesen Tagen werden Fragen der politischen Positionierung von Filmemacherinnen und Filmemachern in seltener Deutlichkeit thematisiert. Qua Anstellungsverhältnis an der dffb nehmen sowohl Wildenhahn als auch Kreimeier an der Diskussion teil. Während die Studierenden Maoismus-affine Filme von Ivens wie seinen China-Zyklus schätzen, erntet der eher poetische Kurzfilm La Seine a rencontré Paris Kritik. Von heute aus gesehen eher kryptisch rekurriert Wildenhahn auf diese Episode in seiner Replik. Sie dient ihm als Beispiel für eine ideologisierte Diskussion über Filmästhetik. Kreimeier wiederum hatte den Filmen der Filmwoche in seinem Festivalbericht vorgeworfen eine „sehnsüchtige Sucht nach einer verlorenen Identität“ zu haben und „eine mehr gewünschte als tatsächlich vorhandene Nähe zu den Erniedrigten und Beleidigten – eben zum ‚Volk‘“ zu pflegen. Mit Blick von heute steckt in der Kreimeier-Wildenhahn-Debatte also eine Debatte um Populismus und allzu offensichtliche Politik im Dokumentarfilm.

Noch ein anderer politischer Aspekt steckt in dieser Debatte. Kreimeier notiert relativ zu Beginn seines Rückblicks in der FR: „Schon 1978, im zweiten Jahr, wurde deutlich, daß die Duisburger Filmwoche einen anderen Weg der Filmpräsentation und -rezeption einzuschlagen im Begriff war als andere Festivals. […] Mit Ausdauer wurde über Filminhalte, weniger über Formen diskutiert.“ Kreimeier bringt diese Ausrichtung in Verbindung, die auf der Filmwoche Filme auf die Verwendbarkeit für die Medienarbeit in ihren jeweiligen Organisationen prüften. Im Nachgang des Festivals habe sich ein Arbeitskreis Gewerkschaft und Film gegründet. Er schließt diesen Teil ab mit dem Satz: „Das Gespräch zwischen Medienleuten einerseits und Arbeitern und Angestellten andererseits kommt, wenn auch mühevoll in Gang.“ Die habituellen Klüfte zwischen Schichten erwiesen sich auch auf der Filmwoche als tief.

Bilder von vermeintlich Bekanntem: Tonerde in 3 Schichten Arbeit von Christina Schäfer

Einer der Filme, bei denen solche Begegnungen zwischen sozialen Schichten in der Diskussion tatsächlich stattgefunden zu haben scheint, ist die zu Dietrich Schuberts … mein Vater war Bergmann. Eine ganze Reihe der Arbeiter und Bergmänner, die an dem Film mitgewirkt haben, beteiligte sich dem Protokoll zufolge rege an der Diskussion zum Film. Doch das Protokoll zu Schuberts Film bildet eine Ausnahme. In keinem anderen Protokoll wird die Präsenz einer größeren Anzahl von Arbeitern und deren aktive Teilnahme an einer Diskussion dokumentiert. Dagegen finden sich unzählige Diskussionen über den Umgang mit der Darstellung von Arbeit, Arbeitskämpfen und Arbeiterkultur (das generische Maskulin dürfte hier kein Zufall sein). In der Diskussion zu Nur auf Druck des politischen Pöbels vom Medienzentrum Ruhr auf der Filmwoche 1984 findet sich der berechtigte Einwurf: „Pim von der MOB hielt es allerdings für ‚stinklangweilig‘, Studenten über Arbeiter reden zu hören so, wie Studenten Arbeit sich vorstellten.“ Selbst Werner Ružičkas Einwurf zum realen Verhalten bei Arbeitergesangsvereinen in die Diskussion zu Rainer Komers 480 Tonnen bis Viertel vor zehn – Bei den Hafenarbeitern in Duisburg-Hochfeld 1981 bildet in ihrer berichteten Begegnung mit realer Arbeiter:innenkultur die Ausnahme. In den wenigen Jahren vom Ende der 1970er-Jahre bis Mitte der 1980er wurde aus dem Reden mit Arbeiter:innen wieder ein Reden über Arbeiter:innen. Die Arbeiterfixierung der 1970er Jahre war verflogen.

In den folgenden Jahren tauchen subalterne Schichten nur mehr als Sujet auf oder als antizipierte Rezipient:innen. In der Diskussion zu Barbara Teufels Zeitgeister von 1991 findet sich im Protokoll von Lothar Leininger ein Hinweis auf einen „kurz aufglimmende[n] Disput über schichtenspezifische Ästhetik“. Christine Schäfer gibt 2017 zu Protokoll, dass sie schon vor der Produktion ihres Films 3 Schichten Arbeit bei der Filmakademie Baden-Württemberg auf Vorbehalte stieß: „So eine Art Film kennt man schon.“

Das Bild des Arbeiters, verwoben in soziologische Konzepte. Zum Beispiel im Gespräch zu Nikolaus Geyrhalters Über die Jahre © NGF

Die Teilnahme von Arbeiter:innen an den Diskussionen der Filmwoche ist – wenn man den Protokollen folgt – immer eine Ausnahme geblieben. Die politische Strahlkraft des Schlagworts „Arbeiter“ hat bei der Filmwoche ebenso nachgelassen wie in der Gesellschaft insgesamt. Mit Blick auf die Filme, die diskutiert wurden, fällt aber auch auf: die Filme, in denen Klassenfragen aufgeworfen werden, ähneln einander, thematisieren auch nach Jahrzehnten Streiks, Arbeitslosigkeit und Fabriken. Selbst bei Filmen, die Themenbereiche bearbeitet haben, die solche Diskussionen nahelegen würden, tauchen Arbeiter:innen als Reflexionspunkt in der Gegenwart nur noch selten auf, das lässt sich beispielsweise an den Diskussionen zu Nikolaus Geyrhalters Über die Jahre oder Bernd Schochs Olanda nachvollziehen. Das Konzept sozialer Schichten ist in den Diskussionen der Duisburger Filmwoche soziologischer geworden und weniger direkt politisch.