Vielleicht würde man „Bloßstellen“ anklicken im Schlagwortkatalog der gesammelten Duisburger Filmwochen-Protokolle auf der Suche nach Referenz im Archiv nach der Sichtung von Jan Soldats neuem Film Wohnhaft Erdgeschoss. Weil: Da ist gleich im ersten Bild des Films dieser Mann, Heiko, in voller Blöße, neben einem vergilbten Bett mit einer Mulde, an der Wand das Bild eines Schauspielers, der aus dem Winkel nicht zu erkennen ist (wenn ich raten sollen müsste: Jürgen Frohriep?), und dann fragt dieser Mann, Heiko in die Kamera: „Kann ich?“ – und pinkelt auf das Bett, in die Mulde.
Über „Bloßstellen“ gelangt man im Protokult-Stock etwa zur Diskussion über den Dokumentarfilm Draußen von Johanna Sunder-Plassmann und Tama Tobias-Macht aus dem Jahr 2018. Eine Inszenierung von vier Männern, die seit langem auf der Straße leben und deren hartes Los der Film durch einen Überschuss an Darstellung symbolisch zu kompensieren versucht. Draußen bannt seine obdachlosen Protagonisten in „Tableaux vivants“, in denen die Leben auf Objekte reduziert und die improvisierten Behausungen als „kreativ“ wertgeschätzt werden.
Ohne dabei mitzubekommen, dass diese scheinbar wohlmeinende Investition ins Visuelle die fremden Leben auf ungute Weise musealisiert, wenn das, was das Leben auf der Straße an Anforderungen mit sich bringt, unter bürgerlichen Vorstellungen wie „Kreativität“ verhandelt wird. Draußen wäre also ein Beispiel dafür, welche Aktivität an der falschen Stelle der unausgesprochenen Vorwurf des „Bloßstellens“ produziert: Aus vorauseilender Sorge, Tristesse oder was auch immer zu zeigen beim Blick auf Obdachlosigkeit, werden die Menschen in Kunst gepackt, damit es ihnen wenigstens im Film ein bisschen besser geht. Oder genauer: den Filmemacherinnen? Dem von beiden antizipierten Publikum?
Wie schief der Ansatz ist, macht jedenfalls schon die Stelle im Protokoll sichtbar, in der die Arbeitsweise von Sunder-Plassmann und Tobias-Macht wiedergegeben wird: „Etwa ein Jahr lang begleiteten sie bereits drei der Protagonisten ohne Kamera, führten intensive Gespräche und konnten auf diese Weise nach und nach das Vertrauen zu ihnen aufbauen. Diese langfristige Vorbereitung ermöglichte es auch, die konkreten Filmarbeiten zu fokussieren und auf etwa 16 Drehtage zu reduzieren. Diese Reduktion war den Autorinnen wichtig, da die Dreharbeiten aufgrund der Inszenierungen mit großem technischem und personellem Aufwand verbunden waren und sie deshalb ihr zeitliches Eingreifen in den Alltag der Menschen möglichst geringhalten wollten.“
Mit Blick auf Wohnhaft Erdgeschoss klingen solche Überlegungen wie Nachrichten aus einer anderen Galaxie. Denn das ohne Fördergeld und Sender entstehende Werk von Jan Soldat schöpft seine Freiheit gerade daraus, mit Schnickschnack gar nicht erst kalkulieren zu müssen. Es ist, was es ist. Hinter der nüchternen Ankündigung „JAN SOLDAT zeigt“, die jedem der seit einigen Jahren in wechselnden Häufigkeiten entstehenden Erkundungen von Räumen des Intimen vorangeht, folgt nichts, was sich anders besser beschreiben ließe: Jan Soldat zeigt Leben, für die es kaum Formen der Repräsentation gibt über die Bildern in den Dating-Portalen hinaus, über die der Regisseur auf sie stößt.
Es kommt einem etwas nahe in Wohnhaft Erdgeschoss, das es in der medialen Welt eigentlich nicht gibt – oder nur als Verachtung von „Unterschicht“ zur kathartischen Beömmelei vermeintlich besserer Stände: Armut und Einsamkeit. Kategorien wie „Kreativität“, „Geschmack“ oder „Scham“ helfen einem in diesem Umfeld nicht weiter, wobei der Reflex, sich gegen die Blöße von Heiko (der nicht der einzige Mann ist, der vor Soldats Kamera am liebsten nackt rumsitzt) zu schützen mit Begriffen der Abwehr im ersten Moment nachvollziehbar scheint: Man muss die Nüchternheit, mit der der Filmemacher dahingeht, wo es nicht so geschmackvoll aussieht wie am Abendbrottisch der gutsituierten Kernfamilie, als solche erst begreifen. Es ist, was es ist.
Wenn der 51-jährige Heiko seine 1990 abgebrochene Erwerbsbiografie (Blechumformer, Hausmeister und Heizer) mit Verweis auf den Untergang der DDR kommentiert („Wär’ die Wende nicht gekommen, hätte ich noch Arbeit“), böte sich ein mögliches Stichwort auf der Suche nach einfachen Erklärungen an. „Ostdeutschland“ führt als Schlagwort zu 15 Einträgen, unter anderen zu Angelika Nguyens Wendeklassiker Bruderland ist abgebrannt über die Perspektive der vietnamesischen „Vertragsarbeiter“ auf die Renationalisierung um 1990 zu verlinken. Und zu Geschichten aus den ersten 15 Jahren nach 1990, Dokumente des Abgewickeltseins. Unter „DDR“, 54 Einträge, sind vor allem die Filme der Duisburg-Darlings Thomas Heise, Gerd Kroske und Volker Koepp abgelegt.
Eine Verbindungslinie eröffnet sich über Technik des Glücks von Stefan Kolbe und Chris Wright von 2003, weil die beiden Filmemacher vier Jahre später Das Block folgen ließen – ein Film über vier Menschen, die einsam in einem Neubau genannten Plattenbaublock leben. Der Film spielt in Sachsen-Anhalt, woher Heiko stammt, was seinem Mansfelder Dialekt anzuhören ist (Sound einer Region, die wiederum die Filme von Mario Schneider geprägt hat, der 2012 mit MansFeld in Duisburg zu Gast war und ansonsten in Leipzig).
Über Das Block wurde seinerzeit hitzig diskutiert, wie das Protokoll erinnert, „geringe Distanz“ und „Peinlichkeit“ sind ebenso wie der Vorwurf des „Slumtourismus“ Begriffe, die in einem Gespräch zu Wohnhaft Erdgeschoss fallen könnten.
Wobei es Unterschiede zwischen dem dokumentarischen Zugriff von Kolbe/Wright und Soldat gibt: Bei Kolbe/Wright geht es ums Werden noch in der Stagnation, Jan Soldat dokumentiert dagegen, schon aus budgetären Gründen, das Gewordensein. Er fragt drauf los, so wie er einfach schneidet, wo etwas nicht passt – durch die prekären Bilder hindurch, die am Anfang der Begegnung stehen: den Präsentations- und Zeigepraxen seiner Protagonisten, die sich an eine spezifische Internetkommunikation richten, für die die Bildschirme das eigentliche Fenster zur Welt sind (das richtige, echte Fenster vermattet im Rücken des Manns am Schreibtisch). Der Film rekonstruiert die analogen sozialen Kontexte, aus denen Heiko kommt (und vor deren Hintergrund das „Bettnässen“ auf Kindheitserfahrungen lesbar wird) – das gewalttätige Verhältnis zum Vater und das distanzierte zur Mutter in Hettstedt. Mit der wird zwar laufend telefoniert, aber gesehen hat man sich 12 Jahre nicht, weil das Geld nicht für die Zugfahrt reicht (oder die Vorstellung, dafür zu sparen).
Die Rekonstruktionsarbeit geht so weit, dass der Film Heiko die Reise an den Ort der Kindheit schließlich ermöglicht. Der reale Betrag mag läppisch sein, aber an dem Umstand, dass der Film damit ein sentimentales (die kaputten Häuser der Familie) wie auch absurd-bezeichnendes Projekt des Ausbruchs aus dem Alltag als Ankunft in alten Mustern ermöglicht (die Mutter treibt nach über einem Jahrzehnt des einander Nicht-Gesehen-Habens beim kurzen Treff für die Kamera auf der Straße vor ihrer Wohnung vor allem um, dass Heiko einen Bart trägt), ließe sich darüber streiten, wie stark ein Dokumentarfilmemacher zum Beobachten bestimmt ist oder eingreifen kann in die Handlungen, die er filmt.
Und das würde zum diskussionsreichsten Film aus der Geschichte der Filmwoche führen, Helga Reidemeisters Film Von wegen „Schicksal“ von 1979. Der stand bekanntlich am Beginn der legendären Kreimeier-Wildenhahn-Kontroverse darüber, was ein Dokumentarfilm soll. Hat aber womöglich auch deshalb für Furore gesagt, weil er mit Irene Rakowitz eine Figur zeigte, die sich zu emanzipieren versucht in einer repressiven, gewalttätigen Welt. Das würde man über Heiko so nicht sagen, und doch haftet der Figur in manchen Momenten doch eine eigentümliche Idee von Freiheit an im Winkel ihres Verlorenseins, bei der man nicht recht weiß, ob das permanente Nacktsein Verwahrlosung, Bequemlichkeit oder eine Natürlichkeit zweiter Ordnung bedeutet. Eine Blöße geben kann Heiko sich jedenfalls nicht, denn er ist ja bloß.