Dokumentarfilme arbeiten mit Musik – als emotionale Leitspur, als irritierende Reibung, als Schlüssel für eine neue Wahrnehmung der Bilder. Musik kann Widerstände hervorrufen, wenn sie uns zu sehr lenkt, Hingabe ermöglichen, wenn wir uns von ihr tragen lassen, Reflexion in Gang setzen, wenn wir mit ihr etwas verbinden. Die Autor:innen Fabian Tietke und Julia Zutavern laden ein zu einer kursorisch-historischen Schau. Sie machen ein Angebot zum Zuhören und Perspektiven Öffnen: In Filmen aus der Geschichte der Duisburger Filmwoche und darüber hinaus wird spürbar, wie Musik eingesetzt wird und welche Bedeutungen und Wirkungen dadurch im Dokumentarfilm entstehen.
Protokoll
Schummriges Licht im Saal, das Diskussionspodium von seiner täglichen Position leicht entrückt im Hintergrund. Ein Freihandmikrofon liegend, eines im Stativ steckend. Zwei Wasserflaschen dahinter, ein Theatersetting – wird jemand singen? Alexander Scholz stellt sich vor die Bühne, führt das liegende Mikrofon zum Mund und begrüßt mit einem sonor-jovialen „Hellooo“ das gefüllte Auditorium. Die Idee zu einem Schwerpunkt zur Musik sei ihm und seinem Team aus einem „Gefühl des Vermissens beim Sichten“ entstanden – im vorletzten Jahr galt dieses Vermissen dem Beobachten und jetzt eben der Musik abseits ihrer klaren Funktionalisierung im Dokumentarfilm. Julia Zutavern und Fabian Tietke, die den folgenden interaktiven Vortrag vorbereitet haben, übernehmen und starten mit einem Clip aus Sabine Herpichs Film EIN BILD VON ALEKSANDER DUGALO. Wir sehen Vorarbeiten zum Malgrund – wir hören Bleistifte auf einer Wand Kratzen und Hände Striche zu Zylindern zeichnen.
Es entwickelt sich von hier an ein Ping-Pong zwischen Filmclips und Anekdoten aus den Duisburger Protokollen, bei dem sich Zutavern und Tietke abwechseln. Tietke schärft uns eingangs mit Geschichten zu Hitchcocks LIFEBOAT und Eisler/Adornos „Vorurteile und schlechte Gewohnheiten“ zu den dramatisierenden Tendenzen in der Musik ein: Musik sei immer auch eine Setzung und könne unsere Wahrnehmung lenken und den Assoziationshorizont erweitern. Der Vortrag will diese Wirkungen und Bedeutungen, die Musik erzeugt, spürbar machen. Sehen wir, ob das gelingt, hier in etwas geraffter Form und mit Klick auf die Filmtitel direkt zum jeweiligen Protokoll:
Ausschnitt Nummer zwei gilt Elfi Mikeschs ICH DENKE OFT AN HAWAII. Zur Schallplattenmusik („Cuando siento la tristeza“) sieht man Carmen beim langsamen Waschen von Geschirr zu. Zutavern attestiert der verwendeten Musik hier ein Unterstreichen einer Innerlichkeit, von Sehnsüchten fern vom Alltag (Hawaii) und den Ausdruck eines fiktionalen Lebensgefühls. Ein Rückblick ins Protokoll von damals zeigt, dass viele Menschen aus dem Film gegangen seien und die, die blieben, hätten sich einen Stuhlkreis aufgebaut und über ihre Erfahrungen gesprochen.
Der nächste Ausschnitt ist aus IM NIEMANDSLAND von Hans Andreas Guttner, Teil seiner Reihe „Europa – ein transnationaler Raum“. Er zeigt einen jungen Deutschtürken eingebettet in die Rock’n’Roll-Teddy Kultur, mit weißen Stiefeln zu Musik tanzend. Tietke sieht hier die „Dokumentation von realisierter Fiktion“, den Freiraum ebendieser Rock’n’Roll-Kultur, die dem Protagonisten eine Alternativwelt zu seinem Alltag und seinen Rassismuserfahrungen bietet. Es folgt ein Clip aus DIVINA OBSESIÓN von Volko Kamensky, in dem ein stimmgewaltiger Song über Bilder von Kreisverkehren schließlich in einem Telefongespräch endet. Zutavern erläutert, dass die Musik hier die ernsten Gespräche über Kreisverkehre kontrastiert. Sie zitiert weiter aus dem Protokoll, dass es die Musik gar nicht bräuchte, da die Kamera ja schon den Kontrast und die Geduld mit dem Kreisverkehr hätte, das zu zeigen. Zutavern meint, dass die Musik hier „eine göttliche Dimension“ habe.
Ein etwas abgekürzter Beitrag kommt anschließend vom Film TAGE DER JUGEND von Julia Lokshina über ein russlandpatriotisches Sommercamp auf der Insel Sachalin. Der Clip bricht früh ab und Tietke erzählt wörtlich weiter, dass danach ein patriotisches Lied im Chor gesungen werde und dies den Zwiespalt zwischen Jugend und Nationalismus, Pathos und Ironie herausstreiche. Ruth Beckermanns THOSE WHO GO THOSE WHO STAY ist dann für Zutavern eine Reise durch Europa und Israel, mit Geräuschen und viel diegetischer Musik: Kapellen, Trommler, ein Akkordeon im Hintergrund und in dem hier gezeigten Ausschnitt von Passanten am Meer ein Stück von Komponistin Eleni Karaindrou, die für Zutavern das Denken und das „nach Information Suchen“ abschaltet in diesen Momenten, sozusagen ein „Komma“ zwischen den Begegnungen sei. Für sie sei Karaindrous Musik gedacht als „Ariadnefaden“ (den Ariadne Theseus gibt, um nach dem Kampf mit dem Minotaurus wieder aus dem Labyrinth herauszufinden).
An diesen Faden hängen sich noch drei weitere Filmclips an: ABER DAS WORT HUND BELLT DOCH NICHT von Bernd Schoch zeigt das „Schlippenbach Trio“ bei der Arbeit. Tietke sieht in Schochs Film – eine Begleitung von vier Jahren der Band, indem er sich immer jeweils auf ein Bandmitglied konzentriert hat – das Erzeugen von Musikarbeit. Wie Schoch es in der Diskussion damals als „mit den Augen hören“ bezeichnet, um dem Free Jazz eine Form entgegenzusetzen, ist es für Tietke „ein Ergründen, wie Klang entsteht.“ Es folgt der ethnographisch arbeitende MIRR von Mehdi Sahebi, in dem ein Lied über den Protagonisten Binchey den Landraub durch große Kautschukunternehmen in Kambodscha dokumentiert. Binchey ist Teil des schriftlosen Bunong-Volkes, das Dokumentation durch Lieder schafft. Letztlich sehen wir LINGER ON SOME PALE BLUE SPOT von Aleksandre Koberidze, indem der Regisseur musikalische Readymades von Universal verwendet und, so Tietke, die Kritik der generischen Musikverwendung konterkariere, indem er sie sich selbst zu eigen mache. Zutavern sammelt das Beispielknäuel auf, ergänzt, dass durch das „Hören die Eindeutigkeit der Bilder“ in Frage gestellt und „durchkreuzt“ würde. Sie gibt einen Denkanstoß an das Publikum zur Diskussion weiter: „Gibt es sowas wie eine musikalische Wahrnehmung der Welt?“
Die erste Frage kommt von „da hinten“ auf dem Sofa neben dem Sounddesk: Till Brockmann meint was man „auch noch sagen könnte“: Der „Produktionsraum der Musik wird ja auch immer mitgehört im Dokumentarfilm“, bei Kamenskys Film zum Beispiel sei das der große Raum draußen mit den Kreisverkehren und der kleine Raum drinnen (im Studio) von dem die Musik kommt. Zum Film von Elfi Mikesch befindet er, dass man sich vorstellen könne, dass sowas von einem Grammophon komme. Zutavern fügt erklärend hinzu, dass wir in Mikeschs Film die Schallplatten des Vaters hören, der die Familie verlassen hat. Aus dem Auditorium präzisiert Birgit Kohler weiter, dass der Vater ein puerto-ricanischer GI war und dass es eben einen biographischen Anker für diese vorhin erwähnte Sehnsucht (nach Hawaii) gibt.
Ein daraus entstehender Themenkreis dreht sich um Komposition und Musikrechte. Stefan Pethke erwähnt dazu die Problematik der Musikrechte heutzutage, bei der die ökonomische Frage auch immer bei der Filmproduktion mitgedacht werden muss. Ein Praktiker meldet sich zu diesen potenziellen Kosten, und informiert, dass man andererseits nun aber auch über die „modernen digitalen Geräte“ wie dem Programm Garage Band billig Musik produzieren könne. Ein Publikumskommentar führt den anscheinend auch im restlichen Auditorium breitenwirksamen Wunsch an, dass man auch gerne ein paar „Schreckensbeispiele“ von „überproduzierten Dokumentarfilmen“ in der Cliprevue gesehen hätte. Solche, die einem „mit Score keine Chance“ mehr ließen, sich „ein Bild zu machen.“ Diese lustvolle Drohung bringt das Publikum kurz in Wallung und tritt in mehrmaliger Inkarnation noch als Hinweis zum „Horror Vacui“, von Tietke mit den Begriffen „Musikschrecken“, „kompositorisches Schleimzeug“ und „zukleistern“ in Erscheinung. Mischa Hedinger – ebenfalls aus dem Sofa-Off – weist nun auf den Bereich von „musikalisch-rhythmischen Arbeiten“ mit Geräuschen hin. Zutavern und Tietke finden das einen guten Einwand, dass Sound auch eine musikalische Dimension geben könne, eine Musikalisierung von Soundscapes bieten könne.
Birgit Kohler ergänzt noch eine Frage, ob nicht auch poetisch-essayistisch arbeitende Filmemacher:innen Musik in Spurenelementen einsetzen, die durchaus auch werten können? Sie erwähnt den elegischen Charles Ives bei Thomas Heise, bei dem sie sich dachte „Hoppla!“. Auch unlängst beim Wieder-Sehen vom DER VW-KOMPLEX von Hartmut Bitomsky erinnert sie eine Szene, in der Frauen Autos zu einer Station im VW Werk fahren und dann zu Fuß zurückgehen müssen. Die Musik dazu, die Bitomsky „darüberlegt“, wirkt da „wie bei einem Laufsteg.“ Also werde auch hier Musik eingesetzt, um zu bewerten.
Mit ein paar zerfransten Anregungen – einen Film tonlos zu sehen und einer Assoziation zur Doku über Ennio Morricone – orientiert sich dann auch der Ariadnefaden der Diskussion Richtung Ausgang.