Film

Those Who Go Those Who Stay
von Ruth Beckermann
AT 2013 | 75 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 38
06.11.2014

Diskussion
Podium: Ruth Beckermann
Moderation: Werner Ružička
Protokoll: Hajo Wildeboer

Synopse

Regentropfen am Fenster. Wanderer in den Bergen. Kinder am Strand. Migranten und Einheimische in Paris, Jerusalem, Wien, Sizilien, Alexandria. Unterwegs auf Reisen durch Europa werden Begegnungen verwoben mit persönlichen Momenten. Zu einem Textil der Rastlosigkeit. 

Protokoll

Das Anfangszitat des Films stellt einen Bezug vom griechischen Mythos des Ariadnefadens zum „Labyrinth des 21. Jahrhunderts“ her. Für die Regisseurin Ruth Beckermann charakterisiert das Zitat den Essayfilm. Wie im Mythos das Ergebnis, die Befreiung vom Minotaurus, die Überlieferung bestimmt, sind auch Filme oft zugespitzt auf ein bestimmtes Ereignis. Was an Einflüssen während des Drehs entsteht, bleibe dabei oft auf der Strecke. Der Essayfilm hingegen nehme diese Einflüsse auf und lasse sie mit anderen Bildern und Tönen in Beziehung treten.

Vom Moderator Werner Ružička gefragt nach diesem für sie neuen, auktorialen Vorgehen, das es der Regisseurin erlaube, Spuren zu sichern, betont Beckermann, der Film sei eine Reflexion ihrer letzten Arbeiten. Sie habe durch die neue Herangehensweise zum ersten Mal ihre eigenen Bilder wohlwollend als Bilder und damit weniger als Recherche anschauen können. So sei sie in der Lage gewesen, eine ganz bestimmte Art von Kameraarbeit zu machen: Im Gegensatz zu ihrer bisherigen Vorgehensweise, die von genauer Vorbereitung auf den Dreh geprägt war, habe Beckermann sich dieses Mal stark vom Moment steuern lassen. Dadurch, dass die Planung des Drehs im Unartikulierten geblieben sei, habe zwischen den Bildern etwas neues entstehen können. Es sei spannend, sich die Bilder erst im Nachhinein zu erklären.

Im Publikum wurde diese Vorgehensweise als poetisch und erfrischend wahrgenommen. Besonders hervorgehoben wird in einem Diskussionsbeitrag, dass der Film nicht behaupte, das eine, gerecht werdende Bild zu entwerfen. Der Dokumentarfilm müsse nicht alles wissen, betont Beckermann. Die Offenheit und das Sich-Treibenlassen seien ihr wichtig gewesen. In ihrem Film solle dem Zufall, der in Wahrheit kein Zufall sei, eine Chance gegeben werden – wie bei dem Versuch, den Georg Stefan Troller im Film beschreibt. Diese Episode werde, noch bevor Troller auf die Frage antworten kann, warum er seine Idee nie umgesetzt habe, abgebrochen, um die Erzählung offen zu halten. Im Sinne dieser Offenheit seien die meisten Szenen im Film fragmentarisch gehalten. Ružička sieht darin einen Ausdruck des Zweifels an der Vollendbarkeit des Dokumentarischen. Eingeleitet werde der Besuch bei Troller durch die Eingangsszene des Films, in der hinter einer verregneten Fensterscheibe das Stadtbild von Paris sichtbar wird. Für Ružička weint hier die Kamera. Diese Szene, in der sie Bezüge zu einer verschleierten Naturwahrnehmung wie in Paul Celans Text „Gespräch im Gebirg“ sieht, ist für Beckermann ein gutes Beispiel für ihre neue, subjektive Vorgehensweise. Sie habe diese Einstellung alleine auf ihrem Zimmer gedreht. Auf den richtigen Moment, in dem es zum Beispiel anfängt zu regnen, könne man mit einem ganzen Filmteam niemals warten.

In der Diskussion wird herausgestellt, wie Beckermann Geschichte und Gegenwärtigkeit von Flucht in Europa verwebt. Schon das angesprochene Eingangszitat, so Ružička, verweise auf den Gründungsmythos Europas zwischen Phönizien und Kreta. Die Reichweite des Films bestehe in einem Europabegriff, der den Mittelmeerraum und explizit Israel mitmeint. Beckermann stellt heraus, sie habe in der Auswahl der Orte europäische Geschichte durchmessen. Die Chronologie verlaufe von ihrem früheren Film über die Wehrmacht, die Flucht der Mutter, die Flucht der Palästinenser, das Bleiben von Matthias Zwilling in Czernowitz bis hin zur heutigen Situation auf Lampedusa. Die verschiedenen Fluchtbewegungen sollten dabei in Beziehung gesetzt werden, ohne sie gleichzusetzen. Statt historische Schubladen zu bedienen, habe sie zusammenführen wollen. Es sollte gezeigt werden, was heute da ist – als Geschichte und als Gegenwart, so Beckermann. Der Film sei in einer Zeit großer Ratlosigkeit, vielleicht einer Ruhe vor dem Sturm, entstanden. Das Spiel sei noch offen. Noch würden die Erlebnisse der Generation ihrer Mutter gesellschaftlich besprochen, so die Regisseurin. Mit diesen Erlebnissen habe die heutige Zeit mittelbar zu tun, sie verschränken sich mit ihr. Fragmentarisch erzählen heiße, das zusammen zu denken.

In den Diskussionsbeiträgen wird dieser Ansatz als pointillistisches Gemälde von Flucht und Vertreibung und als Flickenteppich-Montage, die eine Diskrepanz zwischen Flaneur- Perspektive und Explosivität entstehen lässt, bezeichnet. Es habe am Rande vieler Szenen auch Aggression gegeben. Dass die Regisseurin diese Momente immer aushalten konnte, wird positiv herausgestellt. Gerade auch in der Lampedusa-Szene werde dies deutlich. Für Beckermann, der das Einlassen auf die Menschen, die sie filmt, wichtig ist, zeigt diese Szene, dass es beim Thema Flucht um mehr geht als um das nackte Überleben: um Forderungen. Das Beispiel des Roten Kreuzes in Theresienstadt belege, dass das Anwesend-Sein zum Sehen der Gewalt nicht ausreicht. Viele Dinge sehe man nur durch das Filmemachen. Der Schwenk über die Segelboote bis zu den Flüchtlingsbooten habe nur gedreht werden können, indem der Kameramann auf einen abgeschlossenen Privatsteg geklettert sei. Vieles könne allerdings gar nicht gedreht werden. Die Einheimischen wollten zum Beispiel nicht, dass man diese Bilder filmt, um den Tourismus nicht zu gefährden. Auch die Einstellungen auf die Gewerbeschilder in Prato, der „größten chinesischen Stadt Europas“ (Beckermann), sei entstanden, weil dort das Filmen verboten war. Sobald sie einen Blick in die Lagerhallen gewagt habe, sei sie verjagt worden. Trotzdem müsse dieses Material in den Film. Es müsse gezeigt werden, dass man nicht überall Filmen darf. Sie wolle das zeigen, was sie zeigen könne.

Die Rolle der Musik im Film ist im Publikum unterschiedlich aufgenommen worden. Für Ružička ist die Verwendung mutig und souverän, sie nehme dem Film die Nüchternheit. Als zu süßlich oder pathetisch wird sie von anderen Diskussionsteilnehmerinnen empfunden. Beckermann gefällt besonders die Anmerkung, die Musik habe das aggressive Potential mancher Szenen abgedämpft und so auf einen größeren Maßstab verwiesen. Sie erläutert ihren Umgang mit Musik und Ton. Wenn beim Sichten des Materials der O-Ton heruntergedreht werde, ergebe sich eine Verschiebung, die Erinnerungen erlaubt. Als Beispiel wählt sie den Schwenk auf das Gesicht der Textilarbeiterin, die Fehler im Stoff finden muss. Für Beckermann handelt es sich dabei um ein Renaissance-Gesicht. Die Musik soll diesen anderen Projektionsraum ermöglichen. Bestimmte Musik habe sie schon immer mal für einen Film verwenden wollen, besonders die aus den Filmen des Regisseurs Theo Angelopoulos, der in seinen Arbeiten die Spuren der verwendeten Musik sucht. Zur Szene mit dem Jungen in der Straßenbahn müsse man wissen, dass sie in einer Straße in Istanbul gedreht wurde, in der es in den 1950er-Jahren schwere Pogrome gegen dort ansässige Griechen, Juden und Armenier gab, die zur Flucht vieler Menschen führten. Daher passe es jetzt, griechische Musik über diese Szene zu legen.

Hintergrundwissen liefert Beckermann auch zur Bergsteiger-Szene, deren mathematisch schöner Aufbau vom Publikum gelobt wird. Die der Szene vorangehende Diskussion über die Situation palästinensischer Flüchtlinge sei Auftakt einer Veranstaltung zur Erinnerung an die Flucht von 5.000 Juden über die Krimmeler Alpen gewesen. 1947 durften Juden auf Betreiben der britischen Regierung nicht nach Palästina einwandern. Aus Österreich konnten sie nur über einen schmalen Pass in der amerikanischen Besatzungszone nach Italien gelangen. In einem Diskussionsbeitrag wird dieser Umgang mit den Zuschauern unbekannten Bezügen als kritisch empfunden. Beim Sehen entstünden viele Frage, die ohne das Wissen der Autorin nicht beantwortet werden können. Es sei schwer gewesen, der Aufforderung der Regisseurin zu Beginn der Vorführung, das Denken abzustellen, folge zu leisten. Sei das nicht auch ein Problem, nicht mitzudenken? Beckermann erwidert, diese Aufforderung habe sich auf eine bestimmte Art des Denkens bezogen. Ein Denken, dass immer der Information verhaftet bleibt, behindere die Wahrnehmung.