Synopse
Die Teilnehmer eines patriotischen Jugendcamps lesen in einem Waldstück Patronen vergangener Kriege auf. Auf der ostrussischen Insel Sachalin lernen sie unter der Anleitung von Veteranen Fügsamkeit und die zusammenschweißende Kraft der Entbehrung, Kampfgriffe und Tanzschritte.
Protokoll
Wenn Filmemacher auf dem Podium von ihren Dreharbeiten berichten, hält dies zumeist Überraschungen und Anekdoten für das Publikum bereit. Dass aber die Filmemacher selbst neue Einsichten bekommen, ist in Einzelfällen nicht weniger unwahrscheinlich. So kommt es, dass Zeno Legner, der die Kamera bei den Dreharbeiten zu Tage der Jugend – ein Film über ein patriotisches Sommerlager im fernen Osten Russlands – führte, während der Podiumsdiskussion fast vom Stuhl fällt, als er erfährt, dass seine Protagonisten – Jungen und Mädchen im reifsten Pubertätsalter – sich ein gemeinsames Zelt teilten. Mag dieses Ver- sehen für einen technisch verstellten Kamerablick stehen, zeugt es vielleicht vielmehr vom natürlichen Einfinden der Filmemacher Yulia Lokshina und Legner in den Alltag des Ferienlagers auf der Insel Sachalin, den sie einige Wochen mit ihrem Film begleiten.
In ihrem Film zeigen sie die Zusammenkunft der Jugendlichen während ihrer dreimonatigen Sommerferien, bei der sie zusammen Mutproben bestehen, patriotische Lieder singen, die Natur und sich gegenseitig erkunden, Waffen auseinander- und zusammenbauen, Paartänze und Gruppenchoreografien einüben, den Zweiten Weltkrieg nachstellen oder die Erde von Minen befreien – ein ganz normaler Alltag im Ferienlager. Tage der Jugend kehre die Ambivalenzen der spielerischen und aufbegehrenden Jugend hervor gegen die von außen aufgetragene rationale Disziplin militärischer Rituale (Sven Ilgner). Dabei treffen die irrealen und konkreten Träume der Jugendlichen auf die im Lager herrschende gruselige und funktionale Vernunft; auf die einander zugefügten Grobheiten folgen oftmals zärtliche Gesten der Versöhnung. Das Militärische ist jedoch nur eine Seite dieser Vernunft, wie die Filmemacherin Yulia Lokshina betont. In den Gesprächen – z.B. mit dem Priester – werden Vorstellungen von Disziplin und Kollektiv vermittelt, dies verinnerlichen die Kinder. Zudem erfahren sie Sanktionen, die einen Teil ihrer Erziehung im Lager ausmachen. Zur Herkunft der Kinder ergänzt Lokshina, dass sie von der Insel Sachalin kommen und in der gleichen Gegend wohnen, d.h. ihre Beziehung geht über das staatlich subventionierte Jugendlager hinaus. Die Lagerpädagogik trägt sich also geschlossen von Jahr zu Jahr.
In der filmischen Einführung und Rahmung durch Vorspann und Abspann setzt Tage der Jugend eine klare und drastische These: die Verbindung von ideologischer Erziehung und Militarisierung, die all die Zwischentöne nicht entkräften können. Die im Film vorhandenen Tendenzen zur Grobheit seien Ausdruck für die Verrohung und Instrumentalisierung der Jugend für patriotische Zwecke (Joachim Schätz). Letzteres musste auch so abgebildet werden, erklärt Lokshina: das Ferienlager als militärpatriotische Veranstaltung. Deren dogmatischer Charakter funktioniert nur in eine Richtung, nämlich in der Beschwörung der Liebe zum Vaterland. Im Gegensatz dazu haben die Kriegsbemalung und die aggressiven Paintballmasken, die in der Einführung des Sommerlagers gezeigt werden, etwas Spielerisches und Karnevaleskes. Zumal die Jungs, die sie tragen, diese ungelenk und spielerisch zur Schau stellen. In der Tanzszene, die direkt dem Vorspann folgt, sieht man einen verunsicherten Jungen, der des Nachhilfeunterrichts bedarf.
Aber wenn der Jungenchor das Lied „Rossija, Rossija, Rossija“ anstimmt, dann sei das eine Affirmation der Schönheit der patriotischen Lieder. Die musikalische Begleitung zur Kamerafahrt über die Landschaft sowie die Musik während des Schlachten-Spiels sind markante Musikeinsätze, wie in einem Propagandavideo (Ilgner). Insgesamt schwanke der Einsatz von Musik zwischen Pathos und Ironie. So wie aus dem Spiel oft Ernst wird, wenn der Krieg zunächst dilettantisch in der Übung, später mit voller Inbrunst und unter großen Aufwand an Panzer- und Pyrotechnik in der Aufführung gespielt wird. Aber auch wenn die Textsicherheit beim Rossija-Lied versagt.
Dass das Militärlager kein russischer Sonderfall sei, wendet Filmemacher Werner ‚Swiss’ Schweizer ein. In der Schweiz ließe sich der Film genauso drehen. Schlachten, patriotische Lieder und ‚Knabenschießen’ in ländlichen Gegenden gehörten ebenfalls zum (teilweise staatssubventionierten) Erziehungsrepertoire. Nur der Pope (Repräsentant der engen russischen Freundschaft zwischen Kirche und Staat) sei speziell. Vor ihm lenkte die rebellisch eingestellte Jugend zu schnell ein.
Der Unerschöpflichkeit der adoleszenten Belehrung – Zerlegung der Kalaschnikoff, Sterben in der Schlacht usw. – entspreche die Vielfalt visueller Darstellungsmittel der Kamera: Großaufnahmen von Gesichtern, mit Musik unterlegte Fahrten, die Totalen während der Übungen und Nachstellungen von Schlachten. Sie schaffen einen Eindruck von Unmittelbarkeit (Ilgner). Die Kamera Zeno Legners bewegte sich mit den Jugendlichen auf einer Ebene, Legner habe mit ihnen gelebt und erlebt. Indem er alles aus der Hand gedreht habe, war er nah an den Leuten dran. Zusätzlich gebe es im Film die gesetzten Szenen: Interviews auf der Bühne sowie die Totalen bei den Übungen. Mit den Bildern sollten die Erfahrungen im Lager vermittelt werden und die zwei Räume des Films erfasst werden: zum einen die reale Umgebung, zum anderen der ideologische Raum. Diesen großen Rahmen wollte er mit der Kameraarbeit wiedergeben. Lokshina: Es ging dabei, den Raum der Übungen unter der Aufsicht der Erwachsenen zu erfassen sowie den Jugendlichen außerhalb der Blickweite der Erwachsenen zu begegnen – beide vermitteln eine jeweils andere Emotionalität. Gerne wären sie auch hinter die Funktionen der Erwachsenen gedrungen, z.B. des Bürgermeisters, der Leiterin des Lagers, die sie nur in ihrer administrativen Rolle erfahren haben.
Die Darstellung der institutionellen Rolle dieser Personen – bspw. den Pfarrer aus der Untersicht, den Bürgermeister im Büro oder die Leiterin im Zelt – suggeriere eine deutliche Inszenierung seitens der Filmemacher (Ilgner). Legner lässt keinen Zweifel daran, dass diese Bilder bewusst gesetzt wurden. So sollte z.B. der Kontrast zwischen dem offiziösen Bürgermeister und der legeren Leiterin, eine Oppositionelle im Ort und „Mama“ im Lager, deutlich werden. Ihre Absicht war es, sie in ihrer authentischen Umgebung – unaufgeräumtes Zelt der Leiterin – und Repräsentation im Alltag darzustellen – den Bürgermeister in seinem bürokratischen Interieur mit dem Bild von Putin an der Wand sowie der Lampe und den Tierfiguren (Bär, Pferd). Auch wenn diese Art der Inszenierung einen Zuschauer an Elem Klimovs Ferienlagersatire „Herzlich willkommen oder Unbefugten Eintritt verboten“ erinnerte, worin die aufmüpfige Solidarität der Kinder gegen die verbohrte Lagerobrigkeit opponiert, gibt es seitens der Filmemacher keine konkrete Anlehnung. Analog ist jedoch das leichte komödiantische Element, das Möglichkeiten des Entzugs aus den Anpassungen an das Lagerregime der Disziplin schafft. Bestimmte filmische Einstellungen, wie die Untersicht auf den Popen oder die wiederholte Kalaschnikoff-Übung in Großaufnahme, verdichten die Ereignisse im Camp in einer absurden Komik. Diese Karikatur wurde sehr visuell gedacht und arrangiert.
Die Welten der Jugendlichen und Erwachsenen sind als getrennte Regimes eingeführt; die Erwachsenen erlangen erst in der Mitte des Films eine Dominanz. Dabei gab es unterschiedliche Konzepte in der Montage. Die Filmemacher versuchten, das Ferienlager zu verlassen und die Außenwelt der Jugendlichen darzustellen. Schließlich haben sie sich für die Einheit des Ortes entschieden und dafür, dass die Jugendliche im Zentrum des Interesses stehen. Nach und nach haben sich aber die Erwachsenen hineingedrängt. Als es während des Drehs um die Drehgenehmigungen ging, mischte sich auch der Bürgermeister ein. Sie arrangierten sich schließlich damit, ihn in den Film aufzunehmen. Allerdings entschieden sie sich dazu, diese Episode mit einer gewissen Doppelbödigkeit zu filmen.
Im Film erscheine die Natur in Form von Erde und Boden (liegt in der Polysemie des russischen Wortes Heimat verborgen?) – sie wird erkundet, von Minen befreit. Der Film schließe mit einem Bild der Zerstörung der Natur, wenn die Larve aus ihrem Kokon gezogen wird (Valentin Mertes). Die Lust an der (Zer)Störung zeigt sich in vielen Dingen. In dieser Szene spiegelt sich der Ernst des Todes und die Heimtücke, aber auch die Unschuld und Unbedarftheit. Die Natur als geografische Lage spielt dabei eine zentrale Rolle, denn die Insel sei mit düsteren Bildern geschichtlich aufgeladen: Ihre entlegene und schwer zu erreichbare Lage machte sie zum Schauplatz des Krieges mit Japan und beheimatete ein Strafgefangenenlager. Diese Abgelegenheit ist im Abspann mit den Landschaftsaufnahmen verdeutlicht.