Extra

Thomas Heise im Gespräch mit Matthias Dell

Duisburger Filmwoche 41
09.11.2017

Podium: Thomas Heise
Moderation: Matthias Dell
Protokoll: Theresa Münnich

Der Filmemacher Thomas Heise arbeitet aus der Distanz, vom Abgang von der Filmhochschule in Babelsberg Ende der 1970er-Jahre (um dem Rauswurf zuvorzukommen) bis heute, wo Heise am Rande des Fördersystems dreht. Abstand zu halten ist aber auch ein inhaltliches Credo – die „Familienfilme“ (Heise), mit denen Hochschulabsolventen sich heute direkt an ihren Prägungen abarbeiten, sind ihm suspekt. Was nicht heißt, dass Familie bei Heise nicht vorkommt: Vaterland (2002), Mein Bruder. We’ll meet again (2005) sowie sein aktuelles Projekt nähern sich den Zusammenhängen des Herkommens. Über das Wie wird zu sprechen sein.

Protokoll

Zunächst stellt sich Matthias Dell als Filmverantwortlicher bei der Zeitschrift Freitag vor und gibt an, ein Buch über Thomas Heise herausgegeben zu haben. Das aktuelle Projekt Heises habe etwas mit Familie zu tun und auch sein diverses Werk, das von Radio über Theater bis hin zu Film reichen würde, enthalte immer wieder Aspekte der Biographie. Um eine mögliche Antwort auf die Frage, was eine Biographie sei, zu bekommen, wird zunächst eine 10-minütige dokumentarische Tonaufnahme eingespielt, welche Heise 1976 in einer Berliner Kneipe aufnahm. Zu hören ist die Lebensgeschichte eines Mannes während der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus, in der Nachkriegszeit und schließlich in der DDR. Heise bezeichnet diese Art der Interviews als Dokumentarliteratur, er sei zu dieser Zeit mit Kassettenrekordern durch Berliner Kneipen gezogen und habe etwa 50 Leute interviewt. Vor allem hätten ihn spannende Lebensgeschichten wie die des Mannes interessiert, und es seien dabei nicht nur Monologe entstanden. Das Material habe Heise eigentlich für einen Spielfilm gesammelt, da er nach der Volksarmee bei der DEFA als Regiehilfe tätig war. Für den Film BIS DASS DER TOD EUCH SCHEIDET (1987) habe Heise, während das Team auf eine Drehfreigabe wartete, Interviews mit jungen Eheleuten geführt, die er noch aus der Abendschule kannte oder in Betrieben und Kneipen kennenlernte. Zu dieser Zeit seien viele junge Leute recht zeitig verheiratet gewesen und hätten bereits in jungen Jahren Kinder bekommen. Dabei habe er das Ehepaar nicht gemeinsam sondern als Einzelpersonen interviewt. Das Ausgesagte hätte bei den beiden Protagonisten oft nicht übereingestimmt, die Wahrheit wohl meist irgendwo dazwischen gelegen. Daraus sei bei Thomas Heise dann der Wunsch entstanden, Dokumentarfilme zu machen.

Dell nimmt nochmals Bezug auf das Tondokument. Darin würde der Protagonist Willi sein Leben über einen längeren Zeitraum schildern, ohne auf brisante historische Ereignisse Bezug zu nehmen. Der Krieg sei zu dem Zeitpunkt der Aufnahme gerade einmal 30 Jahre vorbei gewesen. Dell will von Heise wissen, worin für ihn das Interesse für Biographien liege. Heise erzählt, dass jene Erzählungen etwas anderes gewesen seien als das, was er vorher gemacht habe. Ein bekannter Historiker habe einmal gesagt, dass die große Geschichte bei den kleinen Leuten nicht stattfinden würde, da diese vom politischen Wechsel nicht betroffen seien. Genau das sei auch für ihn in dieser Zeit eine neue Entdeckung gewesen, die er als erzählenswert empfand. Dell fügt hinzu, dass Heise eigentlich aus einer anderen Welt käme. Der Vater sei einer der bekanntesten Kulturphilosophen der DDR gewesen, und so sei Heise immer umgeben von viel Geist und Intellekt gewesen. Dell möchte wissen, wie für Heise dieser Wandel stattgefunden habe. Thomas Heise entgegnet, er habe schon immer ein Faible für einfache Leute gehabt, und diese Zuwendung sei für ihn auch wie eine Distanz oder Abnabelung zum eigenen Elternhaus gewesen. Bereits in der Schule sei er außerdem mit Menschen aus anderen Hintergründen in Kontakt gekommen. Seine Schule, so Heise, sei ein Spiegel der kompletten Gesellschaft gewesen. Dies sei heutzutage allerdings anders. Heise habe sich schließlich schon immer für Dinge außerhalb seines eigenen Horizontes interessiert, das sei so auch eine Ansage der Eltern gewesen. Dell fügt an, dass dies womöglich auch durch den Kontext in der DDR zustande gekommen sei. Die offizielle Huldigung der Arbeiterklasse, die Propaganda und der Druck – das alles genau so zu zeigen, hätte wohl sein übriges getan. Heise gibt zu, dass diese Faktoren einen Einfluss hatten. Mit WOZU DENN ÜBER DIESE LEUTE EINEN FILM? (1980) habe Heise einen Film über Lehrlinge machen wollen, also eine Welt, die er bereits kannte. Dabei sei das Motorrad eines der Protagonisten geklaut worden, und so habe er sich noch vor der Polizei auf die Suche nach dem Motorrad gemacht. Schließlich hätte er in der Wohnung einer alten Frau zwei Jungs vor dem Fernseher angetroffen, die wussten, wo das Diebesgut zu finden sei. Daraus wollte Heise einen Film machen. Dieser sei dann in nur wenigen Tagen während des Osterfestes entstanden. Im Film zu sehen sei die Familie an einem Tisch sitzend, wie sie darüber nachdenken, wann es das erste Mal Ärger mit der Polizei gegeben habe. Diese Leute seien Menschen, die gemeinhin als Außenseiter oder Plebs bezeichnet würden. Das treffe aber gar nicht zu. Es komme für ihn immer darauf an, von welcher Position aus man solche Feststellungen treffen würde. Dell kommt daraufhin auf den Film STAU – JETZT GEHT’S LOS. (1992) zu sprechen. Die darin zu sehenden Neonazis seien von der Gesellschaft auch als Außenseiter angesehen. Er möchte wissen, ob Heise zu den Protagonisten des Films bereits zu DDR-Zeiten Kontakt gehabt oder ob er sie erst nach der Wende kennengelernt habe. Außerdem erwähnt er einen Vorfall in Berlin in den 1980er-Jahren, wo es bei einem Punkkonzert in der Zionskirche zu einem Nazi-Überfall kam und das Problem daraufhin erst von der DDR ernst genommen wurde. Dell möchte wissen, ob das Interesse für Neonazis damit etwas zu tun habe. Heise gibt an, dass er vor dem Film noch keinen Kontakt damit hatte. Nach der Wende seien die Menschen mental einfach anders drauf gewesen. Für STAU habe er zunächst nur eine Sozialarbeiteradresse vom Jugendclub „Roxy“ in Halle-Neustadt gehabt. Auf dem Weg dorthin habe Heise dann eine Frau getroffen, die auch zum „Roxy“ wollte, um ihren Sohn dort herauszuholen. Sie gestand ihm jedoch, dass sie sich nicht hineintraue, und bat Heise, das für sie zu übernehmen. So habe er einen Vorwand gehabt, um in den Jugendclub gehen zu können, und habe dann wochenlang am Tresen gestanden und interessante Beobachtungen gemacht. Als er dann zu den Jugendlichen sagte, dass er einen Film über sie plane, wollten diese nicht mehr mit Heise sprechen. Erst als sie seinen früheren Film EISENZEIT (1991) sahen, stimmten sie zu. Dell konstatiert die mediale Faszination für junge Neonazis, bemerkt aber auch eine Unfähigkeit und Unsicherheit über den richtigen Umgang mit der Thematik. Gerade in den 1990er-Jahren hätte es einen gewissen Fetisch für die Rohheit der Nazis gegeben. Wie habe es Heise mit so viel Kälte aushalten können? Wie habe er ohne Moral mit den Menschen reden können? Schließlich sei das auch ein Kritikpunkt am Film gewesen, dass er diesen ohne Moral gemacht habe. Heise antwortet, ihm sei es zunächst egal, wer ihm da gegenüber sitze. Wer dran ist zu sprechen, habe eben Recht. Er habe nie den Impuls verspürt die Protagonisten zu etwas überreden zu wollen. Man könne sich nicht einfach so einmischen, da es ja eine ganz andere Welt sei, in der man sich nicht auskennen würde. Dell möchte weiter wissen, woher für Heise das Interesse für Nazis komme? Heise erzählt, er sei in einem Antifahaushalt groß geworden, aber habe genau dieses Verständnis als Kind in Frage gestellt. Während der Nazizeit hätte der Reiz für den Faschismus in der Jugendbewegung gelegen. Davon beeindruckt zu sein, könne jedem passieren. Das sei unsicheres Gebiet. Bei allem, was einem als sicher erscheint, solle man vorsichtig sein.

Dell möchte zum nächsten Film über Neustadt, NEUSTADT (STAU – DER STAND DER DINGE) (2000), wissen, wieso er dann, anstatt zu zeigen, was die Nazis später machen würden, einen Film über die Familien gemacht habe. Heise entgegnet, dass um 2000 die Bewegung vom rechten Rand in die Mitte der Gesellschaft gerutscht sei. Diese Entwicklung habe bis heute angehalten. Den sogenannten „Rechtsruck“ der Gesellschaft habe es also nicht gegeben. Dell fragt, ob dann gerade heute die Filme von Heise wieder ausgegraben würden. Heise antwortet, es habe kein Revival gegeben. Aber als der Film DIE TÄTER – HEUTE IST NICHT ALLE TAGE (2016) von der ARD produziert wurde, haben sich alle Beteiligten seinen Film STAU ansehen müssen. Denn heute hätten die jungen Menschen keinen Erfahrungshintergrund außerhalb ihres Wirkungskreises. In dem gleichen Milieu, wie er es in Neustadt vorfand, habe sich auch der NSU entwickelt. Wenn die Menschen nur noch unter sich blieben, würde die Situation eskalieren, da es keinen Kontakt mehr zum Rest der Gesellschaft geben würde. Dell stellt fest, dass bei den Protagonisten all dieser Filme, sei es der Kleinkriminelle Willi oder Konrad aus STAU, eine gewisse Vaterlosigkeit zu erkennen sei. Heise erklärt, dass das mit der DDR zu tun habe. Dort hätte es eine der höchsten Scheidungsraten der Welt gegeben, wobei die Scheidungen meist von den Frauen eingereicht wurden. Dies sei ein besonderes Phänomen der Nachkriegsgesellschaft. Die Kinder hätten ihre Eltern, vor allem ihre Mütter scheitern gesehen und dann den männlichen Part in der Familie übernommen. Daraufhin bemerkt Dell, dass in allen seinen Filmen die Familie eine Rolle spiele, so z. B. in VATERLAND (2002) oder MEIN BRUDER – WE’LL MEET AGAIN (2005). Sie einigen sich darauf, ein weiteres Tondokument einzuspielen, einen Ausschnitt aus einem 1987 aufgenommenen Gespräch zwischen Heises Vater und Heiner Müller. Heise erzählt, die beiden hätten sich anlässlich Brechts 88. Geburtstages unterhalten wollen, und er sei gebeten worden, diese Begegnung aufzunehmen. Das sei eine sehr private Situation gewesen, da niemand von außerhalb mit dabei gewesen sei. Leider bemerke man im Gespräch, wie zwei sehr kluge Leute aneinander vorbeireden würden.

Daran anschließend möchte Dell von Heise wissen, warum er in seiner Arbeit nichts über seinen Vater erzählen würde. Aus heutiger Sicht werde häufig aus einer Ich-Erzählerperspektive berichtet, da das leichter zugänglich und einfacher vermarktbar sei. Außerdem werden viel Biographien von Kindern berühmter Menschen erzählt. Für ihn wäre es also auch spannend zu hören, wie Thomas Heise über seinen Vater erzählen würde. Heise entgegnet nur, dass er das nicht öffentlich erzählen wollen würde. Die Thematik interessiere ihn schon, aber eben nur privat. Außerdem seien biographische Aspekte ja in allen seinen Filmen enthalten. Schließlich müsse ihn immer eine Thematik betreffen um darüber recherchieren zu können. Dell spricht daraufhin wieder den Film VATERLAND an. Das Material dazu sei bereits 1986 gedreht wurden, aber erst 2000 habe Heise daraus dann einen Film gemacht. Heise entgegnet, dass er die Förderung für den Film erst bekommen habe, als er auch dazu schrieb, dass dieser von seiner eigenen Familie handele. Wie das heute mit Heises Studenten sei, will Dell dann wissen. Die junge Generation heute hätte viel Familienfootage zur Verfügung. Heise reagiert entrüstet, dass er es furchtbar fände, wenn junge Filmemacher nur über ihre eigene Familie erzählen könnten. Trotz allem gäbe es auch schöne Familienfilme, wie der seines ehemaligen Studenten Simon Quack über seine Großmutter. Man müsse als Filmemacher dennoch immer seine eigenen Wände verlassen, es sei schließlich egal, über wen und wo man einen Film mache. Schließlich könne man in jeder Familie ein Shakespeare-Drama finden, man müsse nur lange genug suchen.

Dell hakt nochmal nach und will wissen, warum Heises eigener Familienfilm so spät komme. Dieser beantwortet die Frage mit seiner derzeitigen Lebenssituation. Er sei nun über 60 und der letzte Lebende seiner Familie. Die Geschichte seiner Familie sei schließlich auch erzählenswert, deshalb müsse er das jetzt einfach machen.

Es folgt ein letzter Einspieler, dieses Mal eine Szene aus STAU – JETZT GEHT’S LOS. Heise erklärt dazu, die Szene sei am ersten Drehtag entstanden. Zu sehen ist eine Karnevalsfeier im Jugendclub „Roxy“. Da während der Feier alle mit sich beschäftigt gewesen seien, hätte er ohne Probleme drehen können. Dass sich die Jugendlichen als Polizisten oder Linke verkleideten, würde auch etwas über ihren Humor verraten. Dell fügt hinzu, das sei eine spielerische Umkehrung der Machtverhältnisse. Auch heute, so Heise, würde das neurechte Spektrum linke Taktiken studieren, das sei immer noch ein Problem. Zuletzt möchte Dell noch wissen, welche Themen in Zukunft für Heise interessant sein könnten. Dieser antwortet, dass das häufig von der Finanzierung abhängen würde. Er könne noch einmal wie bei MATERIAL (2009) angefangene und abgebrochene Filme verarbeiten. Außerdem sei immer noch sein Wunsch, endlich einen Spielfilm zu machen.