Lena Serov

Schichtzulage: Wehrhafte Protagonist:innen, sichtbare Recherche

„The camera is yours, the microphone is yours, now tell the bastards what it’s like to live here.“ Mit diesen Worten soll Ruby, Regieassistentin und Schwester der Dokumentarfilmlegende John Grierson, die Protagonist:innen des Films „Housing Problems“ (UK, 1935) auf ihre geschichtsträchtige Rede in die Kamera eingeschworen haben, mit der sie sich gegen die miserablen Lebensbedingungen in den Londoner Slums zur Wehr setzten. An der direkten Adressierung der Kamera, die unmittelbar das Publikum ansprechen sollte und als authentische Stimme der sozial Benachteiligten eine Revolution im Dokumentarfilm darstellte, wurde später kritisiert, die O-Töne stünden nicht für sich und gälten illustrativen Zwecken in einem Werbefilm für eine bereits durchgesetzte politische Sozialbau-Reform und die Gasversorgung. Wir erfahren weder ihre Namen noch ob sich ihre Lebensbedingungen nach dem Film wesentlich verbessert haben. Aber die überlieferte ‚Regieanweisung’ gibt Auskunft über das Verhältnis als eines zwischen kämpferischer Ermächtigung und moderater Bevormundung seitens der Filmemacher aus der britischen Dokumentarfilmbewegung gegenüber ihren Figuren. 

Die Frage zum Verhältnis von Regie und Figur vor und hinter der Kamera und seine unterschiedlichen Ausprägungsformen bilden auch einen Schwerpunkt auf der Duisburger Filmwoche 2021. In ihrem als reflexiven Dialog mit dem Publikum angelegten Film gehen Chris Wright und Stefan Kolbe der Frage nach, wie man sich ein Bild von einem verurteilten Frauenmörder macht – ein Unterfangen, das sie in demonstrativer Bescheidenheit als „Anmaßung betiteln. Mithilfe von künstlichen Verfremdungen und der Vervielfältigung der Beobachtungsperspektiven, die die (Un)Möglichkeiten dieser Repräsentation ansichtig machen, halten sie sich zugleich ihren Protagonisten auf Distanz, bis institutionelle und subjektive Wahrheiten zunehmend in Konflikt geraten.

Picnic at Hanging Rock von Naama Heiman

Picnic at Hanging Rock von Naama Heiman und Uncomfortably Comfortable von Maria Petschnig haben die Form des Videotagebuchs gemeinsam. Während Petschnig ihrem Protagonisten mit der Kamera die Verantwortung für die Gestalt der Selbstexploration überlässt, ist Naama Heimans subjektiver Essay eine Momentaufnahme über den sich entziehenden Protagonisten und das Zurückgeworfensein auf die Einsamkeit des Entliebens in Zeiten von Lockdown, die in banalen Alltagsbildern und 16mm-Naturaufnahmen eine poetisch-melancholische Entsprechung finden. Dagegen spiegelt die Rauheit der körnigen langen Einstellungen in „Uncomfortably Comfortable“ die existenzielle Härte in Marcs Leben und das Ringen um Kontrolle wider. In monologischem Voice-over enthüllt er, stets in vollem Bewusstsein um die Beobachtung, Stationen seiner Biografie; seine Erfahrungen mit Tod, Gefängnis und Rassismus. In einem der Off-Dialoge weist er die Regisseurin in ihre Schranken: Sein Leben sei kein Projekt. 

Die Bedingungen dafür, in welches Verhältnis Regie und Kamera zu ihren Figuren treten, welche dokumentarische Methode diesem Verhältnis angemessen ist und welche künstlerische oder politische Haltung einerseits und kommunikative Geste an das Publikum andererseits sich darin artikulieren, haben sich in der Geschichte des Dokumentarfilms stets verändert. Den Wandel dieses Verhältnisses beobachtet die Duisburger Filmwoche seit ihren Anfängen mit Film- und Podiumsdiskussionen, die in den Diskussionsprotokollen dokumentiert sind. Die Möglichkeiten und Grenzen der vorübergehenden Zweckgemeinschaft von Filmteam und den von ihnen dokumentierten Figuren haben die Film-Gespräche in Duisburg oft bewegt. Eine Zäsur in dieser Geschichte stellte die Vorführung des Films Von wegen „Schicksal“ von Helga Reidemeister auf der 3. Duisburger Filmwoche 1979 dar. Der Film war als Abschlussarbeit an der DFFB entstanden und stellte gewissermaßen eine filmische Verlängerung der gemeinsamen sozialpolitischen Arbeit von Reidemeister und ihrer Protagonistin Irene Rakowitz dar. Dieser Hintergrund war entscheidend für die im Film gewählte radikale Cinéma-Vérité-Methode, die in mit Irene abgesprochener Tabufreiheit die zerrütteten und gewaltvollen Familienverhältnisse offenlegte. Während Teile des Duisburger Publikums die Darstellung, die Irenes Kinder und ihren geschiedenen Ehemann involvierte, als Zumutung empfanden und Reidemeisters insistentes Nachfragen aus dem Off als emotionale Entblößung oder Manipulation, rückte die Filmemacherin das gemeinsame politische Ansinnen der beiden Frauen in den Vordergrund. Es ging ihnen darum, mithilfe des Films gesellschaftliche Widersprüche und das Politische im Privaten überhaupt zur (eruptiven) Sprache zu bringen und ungeschönt sichtbar zu machen. Eine Arbeit auf Augenhöhe, die der Filmemacherin den Vorwurf übermäßiger Parteilichkeit mit ihrer Protagonistin einbrachte, bei der ein Gefälle zu den anderen Figuren deutlich wurde.

Auf der 14. Filmwoche (1990) blickte man mit dem Film „Hätte ich mein Herz sprechen lassen, hätte ich den Film nicht gemacht …“ (Petra Aßmann, Ilona Holterdorf, Eva Löhr) auf die Folgen dieser Zusammenarbeit. Die Frauen entfremdeten sich, was für Irene mit Bitterkeit verbunden war und die Asymmetrie der Rollen zwischen Regie und Figur untermauerte. Der Titel des Films geht auf eine diese Enttäuschung nicht verhehlende Äußerung Irenes zurück, deren Tod die Wiederbegegnung der beiden Frauen im filmischen Dialog und damit auch ihre Aussöhnung verhinderte. Der Film thematisiert die 11 Jahre zuvor unabsehbaren Nachwirkungen des Films, also jene während der Entstehung von Dokumentarfilmen imaginäre Richtschnur, die das Maß für die persönlichen Verbindlichkeiten zwischen Figur und Regie mit ihren jeweiligen Hoffnungen, Wünschen und Erwartungen darstellt. Die Diskussion zum Film war jedoch von den Fragen aus der Auseinandersetzung mit „Von wegen „Schicksal“ bestimmt: ein Zeichen der nicht überwundenen Schockwirkung von damals. 

Stau – Jetzt geht’s los von Thomas Heise

Während bei Reidemeister und Rakowitz ein gemeinsames politisches Ziel und gegenseitige Sympathie dem Film vorausgingen, waren sich Protagonisten und Filmemacher bei den Dreharbeiten zu „Stau – Jetzt geht’s los“ von Thomas Heise, der rechtsextreme Jugendliche kurz nach der Wende porträtiert, (politisch) nicht geheuer: eine faszinierte Abneigung auf der einen Seite, die Ausreizung moralischer Grenzen auf der anderen. Zur Frage nach der Alternative einer intervenierenden Haltung (des Dokumentaristen als ‚Sozialarbeiter’) oder reiner Beobachtung bei den Dreharbeiten leitete Heise aus den Erfahrungen bei Stau kategorisch ab: „[S]obald man mit diesen Leuten zu tun hat, [ist] kein moralisch sauberes Verhalten möglich.“ Heises hartnäckiges Beharren auf der Wahrung von Neutralität und persönlicher Zurücknahme gegenüber den Halbstarken (ein ‚Aushalten’) war schließlich der Schlüssel zum Sprechen über ihre Gesinnung, das er ihnen in langen, mitunter stockenden Interviews abrang. Sein Verzicht auf eine explizite Denunziation und politische Abgrenzung von den Neonazis (‚Unvoreingenommenheitspostulat’), was von einem Bemühen, die abgründigsten Seiten der Gesellschaft zu verstehen, motiviert ist, musste damals wie eine Provokation wirken. Mehr als auf Widerworte jedoch vertraute die Regie auf die Kontrollfunktion der Kamera als disziplinierendes Auge einer stets mitgedachten Öffentlichkeit. 

Somos Cuba von Annett Ilijew

Die Kamera als Möglichkeit des Einblicks in eine unzugängliche, fremde Welt kommt im Film „Somos Cuba (Regie: Annett Ilijew, Schnitt: Friedericke Schuchardt) als Bericht aus dem Inneren des politisch isolierten Kuba und aus der unmittelbaren Perspektive der ersten Person zum Tragen. Von der Hoffnung getragen, einen allmählichen politischen Wandel festzuhalten, gab die Regisseurin dem Protagonisten Andres die Kamera und delegierte so die Autorität über die Bilderproduktion als geteilte (‚triadische’) Autorschaft. Die Übersetzung und Montage des Materials zum fertigen Film erwies sich für die Filmemacherinnen (auch im buchstäblichen Sinn) jedoch als Herausforderung. Andres’ dokumentarischer Stil und seine Beschreibungen erschienen ihnen als zu düster und die auf eine Langzeitbeobachtung angelegten Aufnahmen als zu fragmentarisch für die Dramaturgie. Dabei entstanden unmittelbare, aber schwer verdauliche Bruchstücke des vergnügt-mürben Alltags als Überlebenskampf jenseits der Kuba-Klischees und der offiziösen Propaganda als ‚errettete Wirklichkeit’ (Kracauer). Darin schallen Fidel Castros entrückte Indoktrinationen grotesk aus Radio und Fernsehen, während der dissidente Nachbar auf der Straße zu Protesten gegen die Diktatur aufruft. 

Wie die in den Duisburger Protokollen dokumentierten Filmdiskussionen zeigen, ist das Verhältnis zwischen Filmemacher:innen und Protagonist:innen stets im Zusammenhang mit der dokumentarischen Form und der sich darin artikulierenden Haltung betrachtet worden, mit der ein Ausschnitt der Wirklichkeit präsentiert wird. Ein Blick in die Geschichte dieser Debatten erlaubt einen Dialog mit der Geschichte des Dokumentarischen, der einen erhellenden Blick auf ihre aktuellen Tendenzen eröffnet.