Film

Der NSU-Prozess – Das Protokoll des ersten Jahres
von Soleen Yusef
DE 2014 | 110 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 38
07.11.2014

Diskussion
Podium: Soleen Yusef, Thorsten Wiemer (Kamera, Schnitt)
Moderation: Peter Ott
Protokoll: Svenja Klüh

Synopse

Der Staat gegen Beate Zschäpe und den Nationalsozialistischen Untergrund. Vier Schauspieler im Tonstudio. Richter, Kläger, Beklagte, Anwälte, Zeugen. JAHR 01. Ein Protokoll. Ein Anschauungsprozess. Ein Zwischenstand. 

Protokoll

Lieber das, als gar nichts. Mehrfach betont Soleen Yusef die Entscheidung für dieses Filmprojekt auch unter eingeschränkten Bedingungen. Eine Entscheidung, Material aus einem „perfiden Prozess“ (Publikumsstimme), einer breiteren Masse zugänglich zu machen.

In einem Tonstudio der Filmakademie Baden-Württemberg sitzen vier junge Schauspieler, zwei Frauen, zwei Männer, und verlesen Protokolle des ersten Jahres des NSU-Prozesses. Protokolle, die die Süddeutsche Zeitung als einer der Medienvertreter, die einen der begehrten Plätze bei dem Gerichtsverfahren ergattert hatte, editierte und zur Verfügung stellte. Eine Art Streichquartett, sagt Peter Ott in Anlehnung an die Notenständer, von denen die Protokolle vorgelesen werden, und fragt nach den Produktionsbedingungen, die zu dem 110 Minuten langen, schwarz-weißen Filmdokument geführt haben.

Die Süddeutsche Zeitung sei an die UFA und der Produzent Nico Hofmann wiederum an sie herangetreten, sagt Soleen Yusef, mit dem Wunsch, aus den ca. 700 Seiten Protokoll einen Film herzustellen. Sie und Thorsten Wiemer hätten dreieinhalb Wochen Zeit vom Moment der Protokollübergabe bis zur Fertigstellung bekommen. Es gab einen Drehtag. Eine nachmittägliche Leseprobe. Die Schauspieler hatten zwei Tage Zeit zur Vorbereitung auf den Text. Die Süddeutsche Zeitung wollte mit dem Vorlesen und der Bebilderung der Protokolle auch jüngere Menschen erreichen, Menschen, die nicht gerne lesen würden. Der Film sei für Youtube konzipiert worden. Er habe die Möglichkeit schaffen sollen, einen lebendigeren Einstieg in die Thematik zu geben. Soleen Yusef meint, es habe viele Gründe gegeben, das Projekt, das als Auftragsproduktion für die SZ entstanden sei, abzusagen. Sie habe es aber als politische Aktion gesehen, Inhalte auch an eine große Masse weiterzugeben. Die Entscheidung wäre letztendlich gewesen: entweder wir machen nichts, oder wir wärmen den Prozess, für den sich keiner mehr interessiert, wieder an, wiederholt Yusef später noch einmal. Der Drehtag selbst sei sehr intensiv gewesen; es habe nicht nur den körperlichen Schmerz vom 13stündigen Halten der Kamera gegeben, sondern auch die Inhalte hätten geschmerzt. Zwischendrin gab es kaum Zeit zu reflektieren oder darüber zu reden. Sie hätten sich dabei für ein reduziertes Konzept entschieden, das Tonstudio sollte sichtbar sein, ein junger Schauspieler und nicht ein fünfzigjähriger verkörpere den Richter Manfred Götzl. Sie wollten ein neutrales Feld schaffen. Dabei hielten sie sich in dem Wagnis daran fest, nicht den Inhalten gerecht werden zu müssen, sondern einfach etwas festzuhalten.

Peter Ott wendet ein, was das denn bedeute, den Inhalten gerecht werden. Was sei denn Inhalt? Ein Gerichtsverfahren sei doch sehr formalisiert, z. B. die Rollenverteilung von Richter, Verteidiger, Zeugen u.s.w. – es sei durchaus schwer vorstellbar, dass dort Recht verhandelt werden würde. Wer wird als erstes befragt, was ist zulässig und unzulässig – viele Kleinigkeiten könnten in einem Gerichtsverfahren entscheidend sein. Was sich nicht mit Worten darstellen ließe, wie Schuld, müsse auch verhandelt werden. Die Schauspieler guckten sich gegenseitig an, auch solche Blicke seien inhaltlich von der Kamera und im Schnitt mitgenommen worden. Soleen Yusef sagt dazu, dass es für sie am Drehtag wichtig war, dass jeder eine persönliche Haltung zu dem Stoff habe. Die Schauspieler hätten sich durch ihre individuelle persönliche Haltung an diese Interaktion herangetastet. Man bekäme den Eindruck, dass die Schauspieler sich gegenseitig belauerten, meint Ott. Das sei doch schön, sagt Yusef.

Eine Stimme aus dem Publikum hinterfragt das angebliche Konzept der extremen Reduktion – ob sie diesem Konzept vielleicht nicht getraut hätten, da die Kamera permanent in Bewegung sei? Die Bewegung sei geplant gewesen, sagt Wiemer, wenn auch nicht in der Form. Eigentlich wäre ein permanentes langsames Umschleichen der Lesenden geplant gewesen. Doch nicht jeder Versuch sei auf Anhieb der Beste gewesen. Warum sie nicht hinter jeden Schauspieler eine Kamera fest installiert hätten? Sie hätten nur zwei Kameras gehabt, antwortet Wiemer. Yusef ergänzt, sie käme aus dem Szenischen und habe die Atmosphäre und das, was die Schauspieler anböten, auffangen wollen. Im statischen Raum eine kleine Bewegung zu haben, sei intendiert gewesen. Das stelle aber Bezüge her, z. B. auch durch die Schärfenverlagerungen, sagt Ott. Ja, sagt Yusef, das sei aber gewollt. Diese Diskussion entstünde natürlich, sagt jemand aus dem Publikum, da der Film nun, wo er auf der großen Leinwand liefe, Korrespondenzen zu anderen „Prozessfilmen“ herstelle – wie Der Kick (Andres Veiel, 2006), Milo Rau oder Romuald Karmarkars Das Himmler-Projekt (2000). Eva Hohenberger fragt nach, ob man sich als Filmteam, da die Reduktion der Akten über die SZ erfolgt sei, nicht deren Haltung anschließen würde. Yusef antwortet, ja, vielleicht, dass es ihr aber einfach wichtig gewesen wäre, dass die Inhalte eine größere Plattform finden würden. Inhalte würden sonst auch von Instanzen zur Verfügung gestellt. Sie habe das Bedürfnis gehabt, von dem großen Haufen der Artikel zum NSU-Prozess wegzukommen. Wer könne denn sagen, dass er eine direkte Verbindung zum Inhalt bekäme, wenn nicht über die Protokolle? Hohenberger meint, es wäre schon von Bedeutung, wer die Protokolle editiere. Der Richter sei ihr beispielsweise wie eine Lichtgestalt vorgekommen. Der habe ja auch eine tragende Rolle gespielt, sagt Yusef. Klar hätte es diese Einschränkungen gegeben und sie hätte auch gerne die ganzen Inhalte zeigen wollen. Es bliebe aber im Raum stehen, dass es außer der SZ niemanden mit diesen Protokollen und diesem Auftrag gegeben habe. Für den Prozess habe sich zu dem Zeitpunkt schon fast niemand mehr interessiert. Das Politikum Verfassungsschutz und der NSU-Kult hätten alles überschattet, die Stimmen der Opfer wären gar nicht mehr gehört worden.

Das Gerichtsverfahren sei ja sehr vermarktet gewesen, sagt jemand. Das alles sei nicht im Film aufgetaucht. Im Internet gäbe es Seiten wie NSU Watch oder auch Seiten der Nebenkläger, wo man die eingeschränkte Handlungsfreiheit z. B. des Richters viel besser nachvollziehen könne. Der Film sei nur ein Anfang, sagt Yusef. Sie habe aber die editierte Fassung der SZ als nah am Prozess verstanden. Darüber hinaus könne man sich informieren. Sie wollten im Film auch keinen Fokus setzen, allen Sprechern gerecht werden. Im Film zählten die Namen der Sprecher, es ginge hier nicht um Institutionen. In so einem Konzept habe sie nicht denken wollen. Jemand widerspricht, es stimme nicht, dass konzeptionell wenig gemacht sei. Es gäbe ein narratives Konzept. Nicht raus käme dabei die Perfidie des Prozesses, in dem die Angehörigen der Opfer Genugtuung wollten und die Verteidiger der Angeklagten das Format des Verfahrens durch diverse Spielchen bis zur besagten Perfidie ausreizen würden. Das läge vielleicht bereits in der Editierung durch die SZ, teils könne so ein Film das auch gar nicht zeigen.

Yusef betont noch einmal, dass sie den Film als Ausschnitt sehen würde. Alles andere zu denken, wäre anmaßend. Es sei ein Rückblick auf das vergangene Jahr, und sie wollte lieber das haben, als gar nichts. Jemand meldet sich und sagt, das Gespenst Zschäpe sei vom Film irgendwie eingefangen worden – durch die Einbindung ihrer Reaktionen wie „Zschäpe klappt ihren Laptop zu“ oder „Zschäpe lacht“ aus den Protokollen oder auch durch den Blick, der immer wieder auf die Schauspielerin mit der Brille fiele, die eine gewisse Ähnlichkeit habe. Zschäpe sei ein Gespenst, auch in den Protokollen, sagt Yusef. Sie präsent zu machen, sei wichtig gewesen. Man könne aber nicht nur mit dem Finger auf sie zeigen, es hätten viele versagt. Man habe diese Folie von Zschäpe, sagt jemand anderes, die man über das Gesicht der Schauspielerin legen würde. Genauso erginge es einem mit Bildern von anderen Prozessbeteiligten. Sie will wissen, wie sie mit der Recherche an Originalfiguren umgegangen seien – teilweise habe sie an eine Familienaufstellung denken müssen, beim Betrachten der vier Darsteller. Soleen Yusef sagt, es habe eine Lesung sein sollen und kein „Spiel“, dennoch habe sie psychologische Elemente von Drehbuch- oder Familienaufstellungen verwendet. Sie habe ein Gefühl vermitteln wollen, wollte, dass es authentisch wirke. Wie sonst habe man dem ganzen eine Seele geben sollen?

Je länger der Film fortschreite, desto mehr würde es ein Spiel, würden Rollen deutlich, bemerkt jemand. Die Schauspieler seien zwar in Bezug auf die Figuren, die sie verkörperten, nicht nach Alter und Herkunft ausgesucht, das Geschlecht passe aber immer. Auch würden die Figuren einmal erhaltene Rollen beibehalten – hätte sie sich dafür entschieden, auch das Geschlecht beispielsweise des Richters mal abzuwechseln, wäre das Konzept vielleicht klarer geworden. Diese Halbdarstellung wirke nicht entschieden und man höre dem Text dann nicht mehr so zu. Ihm ginge es auch so, sagt Ott, dass der fortschreitende Film immer mehr in ein psychologisches Spiel überginge. Das mache vielleicht die Erschöpfung der Schauspieler, die würden ja bekanntlich besser, wenn man sie quäle. Nach hinten raus wäre es auch schwerer und persönlicher geworden, sagt Yusef. Familienangehörige von Opfern und der Freundschaftskreis der Täter – da sei etwas übergeschwappt, es war für die Schauspieler einfacher, Bezug herzustellen. Werner Ružičzka merkt an, die Entfremdung und auch mal dieser Blick ins Tonstudio gebe ihm das Gefühl, der Film habe sich gegen die Zumutung von außen (SZ) zu emanzipieren versucht. Es gäbe einen Interventionismus der sage – klar, wir machen das. Sie würde Ergebnisse aus diesem Diskurs hier auf jeden Fall in die Weiterführung des Projektes mit einbeziehen, sagt Yusef.

Ein Zuschauer, der sich als Nicht-Fachmann vom Film outet, betont, dass er verstünde, dass der Diskurs zwischen festgestellten Schwächen am Film und der Entschuldigung durch die Produktionsumstände in Fachkreisen Sinn mache. Ihm als normalen Zuschauer habe aber Vieles an dem Film sehr gut getan.