Synopse
Ambivalenzen einer Hafenstadt: Im südfranzösischen Fos-sur-Mer liegen Idylle und Industrie nah beieinander. Kinder spielen am Strand, während in Sichtweite Chemiefabriken und Raffinerien die Luft und das Wasser vergiften. Aber: Hier gibt es Arbeitsplätze – und Nistplätze für Vögel. Die Natur stemmt sich gegen die Verschmutzung und feiert kleine Erfolge. Aus dem Off melden sich die Einheimischen zu Wort: „Wer bist du, schlecht über das zu reden, was mein Leben ist?“
Protokoll
Die Gefahr zu schöner Bilder sei ihr sehr bewusst, sagt Amélie Bargetzi. Ihr „Là où nous sommes“ zeigt das Nebeneinander, „Ineinander“ (Moderator Alejandro Bachmann) von Natur und Industrie, Idylle und Zerstörung im südfranzösischen Fos-sur-Mer, seit den 1960er Jahren eine Industriezone am Mittelmeer und ständiger Glutherd politischer Debatten in Frankreich. Es ist bereits Nacht als das Gespräch beginnt. Spricht man müde über Filme setzen sich die Erinnerungen des Gesehenen oft nicht mehr in Gänze zusammen. Stattdessen tauchen Bildfetzen vor dem inneren Auge auf, starke Eindrücke, die sich gegen das Dunkel der Nacht erwehren und um die man folglich in einem solchen Gespräch kreist. Ein derartiges Bild ist die bemerkenswerteste Einstellung des Films, in der eine Kirmes im Bildvordergrund und ein rot-dampfender Industrieturm im Hintergrund gemeinsam die Nacht beleuchten. Andere spannende Aspekte des Films, wie die Thematisierung der Zugvögel in der Region, werden dagegen völlig ausgespart.
Sie habe keinen Film über die politischen Konflikte und das Thema der Umweltverschmutzung machen wollen, sagt die Filmemacherin. Die Bewohnerinnen des Ortes hätten darauf ohnehin keine Lust mehr. Im Gegensatz zu dem, was im französischen TV vermittelt würde, wären viele stolz darauf, dort zu leben. Wenn sie im Meer badeten, würden viele die Raffinerien in der Ferne gar nicht mehr bemerken. Bargetzi habe sich sinnlich den Menschen und Erscheinungen des Ortes nähern wollen. Sie fände diese Landschaft einfach schön. Sie wisse, dass das problematisch sei, aber sie wolle ihrer Faszination folgen statt eine starke politische Position einzunehmen, die ihr gar nicht entspräche.
Später vergleicht Anja Dreschke aus der Auswahlkommision die Wahrnehmung des Ortes mit ihrer eigenen Biographie. Sie käme aus Leverkusen und habe sich seiner Zeit sehr mit dem Bayer-Kreuz identifiziert. Es ist ja nun wirklich altbekannt, dass Schönheit in den Augen der Betrachterinnen liegt und es gelingt Film und Gespräch, dieses Sprichwort für die Leinwand geltend zu machen. Es bleibt trotzdem ein schmaler Grad. Dieses Schönheitsempfinden ist auf der einen Seite unschuldig, auf der anderen Seite könnte man an Guillaume Apollinaire denken, der vom Himmel stürzende Flugzeuge im Ersten Weltkrieg mit Sternschnuppen verglich. Es würde niemals reichen sinnbildlich auf den Oberflächen der feinen Ölschicht im Wasser die Farb- und Formspiele zu bewundern und „Là où nous sommes“ thematisiert die dahinterliegenden Probleme genug, um sich solcher Vorwürfe zu entziehen. Es sei beides problembehaftet, bemerkt Bachmann. Die Ästhetisierung dieser Welt und der Idealglaube an angeblich lebenswertere Orte und Traumstrände.
Für viele im Publikum mutet es überraschend an, dass Bargetzi ihre beiden Protagonisten, Véronique und Thierry nicht zeige, sondern sich ihnen lediglich über die Tonspur und durch auf der Leinwand erscheinenden Text nähere. Für sie wären die Worte auf der Leinwand intimer gewesen. Dort wäre mehr von ihrer Freundschaft zu diesen Menschen hängengeblieben. Außerdem habe sie niemanden exemplarisch herausstellen wollen, sagt die Filmemacherin. Hier offenbart sich auch für mich ein Widerspruch des Films. Wenn Bargetzi sich einem anderen Bild des Ortes widmet und das Leben der Bewohner als maßgeblich für ihre Arbeit ansieht, warum zeigt sie dann doch hauptsächlich die Industrie? Wäre es nicht konsequenter gewesen, ganz auf Protagonistinnen zu verzichten und stattdessen einen „problematischen“ Film über die Schönheit der Zerstörung zu drehen?
Was der Film auf jeden Fall bewirkt, ist eine Verschiebung des Blickes. Die Duisburger Nacht sieht anders aus nach „Là où nous sommes“.