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Wie weiter? (III): „Höllental“

Duisburger Filmwoche 44
02.11.2020

Podium: Marie Wilke, Jörg Schneider, Thomas Krause
Moderation: Torsten Zarges
Protokoll: Niklas Kammermeier

True Crime ist eines der wichtigsten Genres unter den Doku-Serien. Mit Höllental gehen Dokumentarfilmerin Marie Wilke und das Kleine Fernsehspiel des ZDF dem wohl spektakulärsten Fall von Kindesentführung und Mord in der Geschichte der Bundesrepublik auf den Grund: dem mysteriösen Verschwinden der neunjährigen Peggy Knobloch. Wie der Sechsteiler entstanden ist und welche Herausforderungen das Projekt mit sich brachte, beschreiben die Macher in ihrer Case Study.

Protokoll

Das Kleine Fernsehspiel des ZDF wagt sich gemeinsam mit Regisseurin Marie Wilke und Kundschafter Filmproduktionerstmals sowohl an das Genre True-Crime als auch das Format der Doku-Serie. Der Sechsteiler Höllental, der ab Anfang Januar 2021 im linearen TV ausgestrahlt und anschließend in der ZDF-Mediathek verfügbar sein wird, rekonstruiert den bekannten Mordfall Peggy Knobloch. Moderator Torsten Zarges spricht mit der Regisseurin, dem ZDF-Redakteur Jörg Schneider und dem Editor Thomas Krause über das hierzulande relativ neue Phänomen.

Das Gefühl, dass hier auf etwas wackeligen Beinen US-amerikanisches Streaming-Portal-Gebiet betreten wird, persistiert auch deswegen, weil gemeinsam mit der unumgänglichen Frage nach der richtigen (Platt-)Form für reale Grausamkeit und Leid auffällig häufig um Begriffe gerungen wird. Neologismen wie „Arthouse-True-Crime-Serie“ werden so zum Symptom eines offenbar noch ungeklärten Verhältnisses von high-brow, Entertainment und Verbrechen – zum Elefanten im (Online-Konferenz-)Raum, der vom US-amerikanischen Quality-TV doch so leichtfüßig gebändigt wird.

„Sie alle erinnern sich … “, eröffnet Moderator Zarges und verweist auf die irgendwie nicht schwinden wollende Distanz zu dem immerhin 20 Jahre zurückliegenden Fall. Tatsächlich war der „spektakulärste Fall von Kindesentführung und Mord in der Geschichte der Bundesrepublik“ erst wenige Tage vor dem Gespräch mit dem überraschenden Geständnis eines neuen Tatverdächtigen, der anschließenden Widerrufung des Geständnisses und der endgültigen Einstellung der Ermittlungen erneut in das kollektive Gedächtnis gerufen worden. Ob vor diesem Hintergrund die Kombination des spektakulären Falls mit dem „Trend-Thema“ True-Crime-Serie nicht „knallharte Berechnung“ sei, fragt Zarges zu Beginn (betont) provokativ, um dann der Frage höflicherweise wieder die Schärfe zu nehmen. „Ganz so berechnend war es nicht, oder?“ Was habe Wilke eigentlich als Journalistin und Dokumentarfilmerin an dem Thema interessiert?

Hier bereits die erste taxonomische Positionierung: Sie sei keine Journalistin, stellt Wilke fest. Statt journalistischer Arbeit, worunter sie in erster Linie investigative Recherche verstehe, interessiere sie als Filmemacherin, wie sich zeitlich ausgedehnte Ermittlungsarbeit dokumentarisch inszenieren und in eine serielle Erzählform übersetzen lasse. Dass Wilke Errol Morris‘ The Thin Blue Line (1988) als einprägsame Seherfahrung und frühes Vorbild nennt, leuchtet im Hinblick auf die (später im Beispiel-Clip zu sehende) Strategie der ästhetischen Überhöhung von faktischem Material unmittelbar ein. Angesichts der wichtigen investigativen Dimension von Morris‘ Dokumentarfilm wäre diese Distinktion jedoch zumindest diskussionswürdig gewesen.

Moderator Zarges erkennt das Bedürfnis nach Begriffsarbeit und fragt, wie Wilke denn grundsätzlich zu der Bezeichnung „True Crime“ stehe (Filmproduzent Justin Webster hatte im Panel zuvor seine Abneigung gegenüber dem Begriff geäußert). Mit True-Crime habe sie weniger ein Problem, konstatiert Wilke. Sie habe sogar gezielt versucht Genre-Konventionen zu erfüllen, ohne jedoch dabei einfach bestehende Formen zu wiederholen. Größere Probleme habe sie allerdings mit dem Begriff der „Dokumentation“. Dieser würde das Journalistische zu sehr betonen. Sie bevorzuge die Umschreibung „Dokumentarische Serie, die von einem Kriminalfall handelt“.

Weniger das Genre True-Crime als das Format der Doku-Serie sei anfangs für das ZDF ausschlaggebend gewesen, meint wiederum ZDF-Redakteur Jörg Schneider. Für die (breit aufgestellte) Finanzierung des Treatments von Höllental hätte sich das ZDF schließlich nicht aus Genre-Gründen, sondern – induktiv – wegen der „großen horizontalen Erzählkraft“ entschieden („man rätselt mit, es ergibt sich organisch eine Spannungskurve“). Dabei hätte der Mordfall an sich jedoch nicht im Zentrum gestanden, sondern eher die 20-jährige Geschichte von BRD-Institutionen wie der Polizei und der Justiz. Mit Marie Wilke habe das Team schließlich eine Autorin gefunden, die schon in ihren vorherigen Werken – Staatsdiener (2015) und Aggregat (2018) – ähnliche Themen mit einer „starken Handschrift“ umgesetzt hätte. Allein durch diesen Auteur-Fokus unterscheide sich das Projekt von anderen True-Crime-Formaten. Man habe also gewissermaßen die erste „Arthouse-True-Crime-Serie“ produziert. Die formale Abgrenzung von amerikanischen Vorbildern (er nennt etwa The Jinx von Andrew Jarecki) ergebe sich dabei zusätzlich aus den Limitationen des verfügbaren Archivmaterials, da hierzulande weder Polizei noch Gerichte Videomaterial veröffentlichten. Trotzdem lässt Schneider durchblicken, dass er zumindest auf das Auswertungs-Potenzial der Vorgänger setzt. Ziel sei es zum einen, dem insbesondere für Dokumentarfilme unliebsamen Sendeplatz des Kleinen Fernsehspiels (Montagnacht) neues Publikum zuzuführen. Vor allem aber hoffe man auf gute Streaming-Zahlen in der Mediathek.

Eine gewisse Reibung erzeugt im Gesprächsverlauf die nahtlose Nachbarschaft von Positionierungs-Strategien und ethischen Fragen. Die schwierige Auseinandersetzung mit der richtigen dokumentarischen Haltung angesichts von Trauma und Leid führt etwa immer wieder zum Paradox der formlosen Form. Denn neben der prominenten Diskussion von formalen und ästhetischen Setzungen formuliert Wilke wiederholt das Gebot der inszenatorischen Zurückhaltung. Sie habe darauf geachtet, das Verschwinden und den Tod des Mädchens nicht rührselig oder sentimental zu dramatisieren, nicht „auszuschlachten, damit es noch spannender wird“. Angesichts der unübersichtlich vielen im Fall involvierten Fakten und Meinungen sei der „offene Blick“, d. h. das „Rekonstruieren ohne zu Entscheiden“ wichtig gewesen. Notwendig sei hierfür die aufwändige Verdichtung von über 16.000 Akten aus 20 Jahren in Organigrammen und Skripten gewesen, die als Grundlage für den Schnitt dienten.

Mit Fragen der Haltung sah sich so auch Editor Thomas Krause während der zwei-jährigen Schnittphase, die teils parallel zum Dreh erfolgte, konfrontiert. Die Tatsache, dass die Interviewpartner*innen oft keine objektiven Zeug*innen, sondern Mitglieder jeweils verhärteter Fronten oder Mittler*innen von Gerüchten und Halbwissen seien, hätte es notwendig gemacht, das Gefilmte immer wieder neu zu bewerten und mit Fakten kritisch abzugleichen. Die Frage nach der Verantwortung für und der Haltung gegenüber dem Material sei in erster Linie deswegen so virulent, weil man es mit „echten Menschen“ zu tun habe.

Der von Moderator Zarges in einer Frage angedeutete Konflikt zwischen „Form und Rekonstruktion“ bleibt im Gespräch (notwendigerweise) ungelöst. Umso neugieriger ist man als (Online-)Zuschauer*in auf die angekündigte „exklusive Vorpremiere“ von Höllental. Über die Zoom-Software werden die ersten sechseinhalb Minuten der Serie gestreamt.

Auffallendes Inszenierungselement: Lange Drohnenfahrten über menschenleere Straßen, welche, begleitet von der reduzierten Elegie flächiger Chorstimmen, bestimmte Handlungslinien kartographieren; etwa den Weg des Pilzsammlers zum Fundort der Überreste des Mädchens, oder die letzten Wege Peggys im ostfränkischen Lichtenberg, bevor sie verschwand. Später spricht Wilke von einem gezielten Verzicht auf Reenactments und ursprünglich angedachte Modellbauten zugunsten einer (Reenactment-Strategien eigentlich nicht unähnlichen) elliptischen Inszenierung von Originalschauplätzen. Besuche an den Orten des Kriminalfalles hätten ihr bewusst gemacht, dass dort die Zeit wie „eingefroren“ und die Schauplätze daher bereits modellhaft entrückt wirkten.

Dass diese entleerten Orte vor dem inneren Auge gefüllt werden liegt an der Tonspur. Während der Drohnen-Fahrten sind die Stimmen zweier Lokalreporter zu hören. Ähnlich wie in den True-Crime-Podcasts der Zeit betreiben die Journalisten improvisiertes Storytelling. Dabei werden, auch dies kennt man aus Zeit Verbrechen, für die Verdichtung von recherchiertem Wissen Erzählmittel genutzt, welche die von Wilke konstatierte Abgrenzung von Dokumentarfilm und Journalismus sowie den selbstbekundeten Dramatisierungsverzicht zumindest für die ersten gesichteten Minuten unscharf werden lassen. Otto Lapp, Reporter des Nordbayerischen Kuriers erzählt die letzten Stunden Peggys etwa in Naheinstellungen Stephen King’scher Manier: „Ein ganz normaler Tag. Die Schule geht wieder los. Sie steht natürlich viel zu spät auf. Es gibt Kaba, es gibt einen Toast. Es gibt einen Zopf. Das hasst sie auch wie die Pest.“ Auf dem Heimweg hätten ihr nur noch 200 Meter bis zur Haustür gefehlt. „Hier wurde sie zuletzt gesehen, eine alte Dame erinnerte sich, wie die Diddl-Figur an ihrem Rucksack hin und her schwankte. Wir lassen Peggy nach der Kurve alleine. Und keiner sieht sie jemals lebend wieder.“

In der an- und abschließenden Diskussion schreiben sich ähnliche Paradoxien fort, wie sie sich bereits während des vorhergehenden Gesprächs etabliert hatten. Moderator Zarges etwa beobachtet eine „ruhige, behutsame Erzählweise“ und fragt sich, ob hier eine visuelle Kritik des True-Crime-Genres vollzogen wurde. Eine (Online-)Zuschauerin beschreibt dagegen das glatte Gegenteil. Sie berichtet euphorisch, sie habe sich gefühlt, als ob sie einen „Fiction Suspense Thriller“ gesehen hätte. Es ist womöglich der Distanz des Online-Formats geschuldet, dass eine kritische Diskussion solcher Spannungsfelder ausbleibt und die Stabilität auf dem unsicheren Terrain in begrifflich pointierten Abgrenzungs- und Nachahmungsbeziehungen gesucht wird (auch nach einer Definition von „Arthouse-True-Crime“ wird erneut gefragt). Die letzte Frage aus dem Publikum betrifft das Budget. Dieses wird zwar nicht genau beziffert, im Vergleich zu den US-amerikanischen Vorgängern sei es jedoch „eher gering“.