Harun Farockis Festschriftbeitrag „Dreißig Jahre Düsterburg“ ist – der Titel lässt es erahnen – keine Lobeshymne auf Duisburg als Stadt. Wenn er „die Jugendstil-Einflüsse auf den Fassaden der Kleinbürgerhäuschen“ hervorhebt, „die es an vergleichbaren Fassaden vergleichbarer Häuschen vergleichbarer Städte nicht [gebe]“, ist das zwar ein scharfsinniges, aber durch mehrfache Vergleichsoperationen gleichsam entschärftes Kompliment. Allerdings enthält es den wertvollen Hinweis, dass sich in einer „Miststadt wie Duisburg“ vieles besser von den Rändern her erschließt; dass das Ornamentale hier keinesfalls Zierwerk ist. Zumindest galt das für das von Patrick Holzapfel kuratierte Rahmenprogramm der 48. Duisburger Filmwoche, das sich der Geschichte, Gegenwart und Zukunft des beobachtenden Dokumentarfilms widmete. Es wurde insofern seinem Namen gerecht, als es einer Filmauswahl, die sich nicht nahtlos zu einem Bild zusammensetzen wollte, eine übergeordnete, eben: rahmende Sinnstiftung verlieh, wie es sie in vergleichbaren Rahmenprogrammen vergleichbarer Festivals vergleichbarer Städte kaum gibt.
Die Programmpunkte sind auf der Filmwoche immer in Reihe geschaltet, sodass theoretisch alle alles sehen (und bei Bedarf darüber sprechen) können: Auf Film folgt Gespräch, folgt nächster Film, folgt nächstes Gespräch. Dass in fast allen Diskussionsrunden die kuratorisch lancierte Frage, wie es um das Beobachtende im Dokumentarfilm stehe, hörbar mitschwang, ist unter diesen speziellen Kohärenzbedingungen wenig verwunderlich. Trotzdem ist es bemerkenswert, wie insbesondere das von Alejandro Bachmann materialreich moderierte Panel mit Jan Soldat und Gisela Tuchtenhagen in den Köpfen vieler Besucher:innen nachzuhallen schien. Abgesehen von dem erfreulichen Umstand, dass Soldat und Tuchtenhagen auf der Bühne prächtig miteinander auskamen, könnte die zentrale – und einhellige – Erkenntnis aus dem Gespräch lauten:
Beobachten, das ist zuallererst eine Frage der Haltung, ein Freimachen von Vorurteilen in der Begegnung mit dem Sujet.
Das soll nicht heißen, dass eine legendäre und mithin notorisch überdeterminierte Duisburger Urszene wie die Kreimeier-Wildenhahn-Debatte, die Bachmann eingangs pflichtbewusst erwähnt, heute hinfällig wäre. Sie hatte sich 1979, im erst dritten Filmwochenjahrgang, an Helga Reidemeisters Film „Von wegen ‚Schicksal‘“ entzündet. Im Protokoll von damals sticht ein Satz ins Auge, der den Mythos der Duisburger Debattierfreudigkeit betrifft:„Die sich aus den beiden ersten Komplexen [Komplex 1: Parteilichkeit und Menschenwürde, Komplex 2: Zulassen von Widersprüchen, L.K.] ergebenden Problemstellungen für die dokumentarische Arbeitsweise wurden leider nur andiskutiert.“ Die eigentliche Debatte fand in den Feuilletons statt. Ob in Duisburg 2024 immer noch mehr andiskutiert als ausdiskutiert oder gleich aneinander vorbeidiskutiert wird – darüber sollte mal diskutiert werden. Zum Beispiel auf der Duisburger Filmwoche, wo man das Problem mit dem Beobachten gekonnt auf die eigene Sprechpraxis ausweitet, beobachtend um sich selbst kreist, als säße man in einem Auto, das unablässig um den Dellplatz tuckert, ähnlich wie das in „Durchgangsland“ zu bestaunen ist, nur fährt die Kamera da nicht um den Dellplatz, sondern um einen namenlosen Kreisverkehr in Südtirol.
Das Anliegen der Filmwoche ist mindestens so klar wie bedeutungsoffen: Es geht hier tatsächlich ums Reden; dafür gibt es sogar einen eigenen Raum, in dem ein Mitglied der Auswahlkommission direkt im Anschluss an einen Film mit de/der entsprechenden Filmemacher:in (plus Teammitglieder) und dem Publikum ins Gespräch kommen soll. Letzteres sitzt wahlweise auf Klappstühlen, Sofas und bei hohem Andrang auf dem Boden. Manche hingegen diskutieren im Stehen. Vielleicht hat das etwas mit „Augenhöhe“ zu tun (eine unerlässliche Vokabel für das Sprechen über Dokumentarfilm – ob sich der raffiniert klingende Vorschlag des „Brunaupark“-Regieduos durchsetzt, alternativ von „Herzhöhe“ zu sprechen, wird die Zukunft zeigen).
Was das Reden auf Augenhöhe für die Sitzenden erschwert: Moderator:in und Filmemacher:in sitzen etwas erhöht vorne auf der Bühne hinter einem massiven Tisch und sprechen frontal in zitronengelbe Mikros, die im Verlauf der Woche zugunsten der mobileren Handhabe zunehmend aus der Halterung genommen werden. Den steifen Charakter einiger Gespräche vermag das nicht gänzlich zu brechen. Immerhin das Duzen ist in Duisburg selbstverständlich, das ebnet den Augenhöhenunterschied verbal halbwegs ein und nährt zumindest den Glauben an einen herrschaftsfreien Diskurs.
Insgesamt ist das Duisburger Diskussionsdispositiv also recht gewöhnlich aufgezogen. So gewöhnlich, dass in der gebäudetechnischen Banalität eines surrenden Ventilationsgeräuschs – das die vorgetragenen Argumente atmosphärisch begleitet und sogar den gelegentlichen Stillephasen ihre Erbarmungslosigkeit raubt –, dass also in diesem Geräusch vielleicht der Hinweis auf ein unzufriedenes Grundrauschen schlummert, das jedes Gespräch an diesem geschichtsträchtigen Ort gleichermaßen überformt und unterhöhlt; ein mythisches Raunen, das sich der Ahnung nach ungefähr so übersetzen ließe:
Früher wurde noch „geschlachtet“ in Duisburg, damals gab es noch Konfrontationen und Kontroversen, es ging noch „zur Sache“ und Karmakar benahm sich daneben. Findet das 2024 alles wirklich nicht mehr statt?
Immerhin Karmakar gab sich traditionsbewusst und benahm sich in der Diskussion zu „Der unsichtbare Zoo“ daneben. Geschlachtet wurde derweil nur das Zebra, und zwar nicht im zweiten, nicht im vierten, sondern im dritten Akt seines Zoo-Films, was in einer Stadt, dessen Fußballvereinswappen von einem Zebra flankiert wird, durchaus das Zeug zur Kontroverse hat. Doch Karmakars Idiosynkrasien, sein süffisanter Umgang mit Fragen von Publikum und Podium, sein Hang zur autoerotisch anmutenden Selbstmoderation, inklusive der Dreistigkeit, das Gespräch eigenmächtig zu beenden – all das bietet reichhaltiges Anschauungsmaterial dafür, wie eine zeitgemäße Streitkultur besser nicht aussehen sollte. Nicht nur, weil derartiges Dominanzgehabe für alle Beteiligten ziemlich unangenehm ist. Sondern auch, weil dabei wenig rumkommt, was das Gespräch in irgendeine Richtung voranbringen würde. Wohin aber will man überhaupt, wenn man sich in Duisburg zum Diskutieren trifft?
Anders als die anderen Festivals zu sein, so der Eindruck, wäre schon mal nicht schlecht. Aber nicht zu jedem Preis. Einerseits würden Provokationen um ihrer selbst willen einer Entertainment- und damit einer Vermarktungslogik das Wort reden, der die programmatischen Linien eher entgegenstehen (auch wenn Moderatorin Ute Adamczewski – wie dem Protokoll zu „Mâine Mă Duc“ zu entnehmen ist – nicht ohne Ironie Gegenteiliges behauptete). Andererseits lassen sich zahm abgespulte Frage- und Antwortspiele, die von anderen Festival-Q&As hinlänglich bekannt sind, auch hier nicht vermeiden: Was war dein Ausgangspunkt? Ein persönlicher! – Wie haben die Protagonist:innen auf den Film reagiert? Unterschiedlich! – Was ist „echt“, was inszeniert? Teils teils! etc. Grundsätzlich ist an diesen Fragen nichts auszusetzen. Einer unausgesprochenen Vereinbarung folgend, müssen sie ohnehin jedes Mal beantwortet werden, selbst dann, wenn sie nicht gestellt werden. Das mag an einer gegenseitigen Gewöhnung von Zuschauenden und Filmschaffenden liegen, die neben den Mühlen der Filmschulen, Festivals und anderen Institutionen überhaupt mal froh sind, in einen ungefilterten Austausch miteinander zu treten. Wobei ungefilterter Austausch sowieso eine Illusion ist, kommt doch kein gelungener Kommunikationsversuch ohne gemeinsam geschaffene Basis aus. Bevor es richtig zur Sache oder an die Gurgel gehen kann, schadet es nicht, eingangs zu klären, was überhaupt Sache ist und wessen Gurgeln zur Disposition stehen. Der Vorteil in Duisburg ist, dass es an Redezeit nicht mangelt. Sobald die üblichen Stationen diskursiv durchlaufen sind, geht das Gespräch oft erst richtig los, oft aber auch nicht.
Wenn das Publikum schwächelt, ist es an den Moderator:innen, darauf aufmerksam zu machen, wo man sich hier befinde (auf der Duisburger Filmwoche nämlich) und welche Verantwortung das mit sich bringe. Manchmal schwächeln auch die Filmemacher:innen, wenn sie zu einem konkreten Problem partout nicht Stellung beziehen wollen und sich auf Allgemeinplätze zurückziehen. Nochmal Dominik Zietlow und Felix Hergert von „Brunaupark“, die von der selbst proklamierten „Herzhöhe“ anatomisch nicht weit abweichen, wenn sie darauf beharren, der Humor in ihrem Film entspringe keiner Intention, sondern einer Intuition, einem „Bauchgefühl“ beim Schnitt, sei aber gleichzeitig „aus der Realität geschöpft“. Letzteres gilt wohl für alles, was auch nur entfernt zum Dokumentarfilm sortiert werden kann. Interessant wäre zu wissen, mit welchen Utensilien und Einverleibungsabsichten Zietlow/Hergert Realität abzuschöpfen pflegen und was das mit dem Bauchgefühl macht. Vielleicht weiß das Sabine Bubeck-Paaz von Arte, die bei der Preisverleihung feierlich verkündete: Dokumentarfilm ist Lebensmittel!
Selbst ohne die Heftigkeit vermeintlich streitlustigerer Jahrgänge, verlaufen die Diskussionen niemals reibungslos. Ein Stocken, ein Schweigen, ein Wiederholen der immergleichen Phrase, ein Kreisen um eine nicht definierbare Mitte – Fehlleistungen, Widerstände und Wiederholungszwänge, die tief blicken lassen. Und Rohmaterial, mit dem sich eine Menge anstellen lässt, wenn sich geeignetes Personal darum kümmert. In diesem Zuge lohnt es sich, auf die komplexe Kommentar- und Annotationspraxis zu sprechen zu kommen, die freilich als Krönung der permanenten Selbstbeobachtung gelten darf, aber auch als die erquicklichste Duisburger Eigenart: Den Protokollant:innen gebührt zu Beginn jedes Gesprächs der erste Applaus, danach geraten sie aus dem Blickfeld. Sie sitzen am Rand, registrieren, notieren. Sicher kein fly-on-the-wall-approach, wohl aber ein Schreiben mit Bezügen zum Dokumentarfilmschaffen. Ihnen stehen editorische Mittel zur Verfügung: Diskussionsmaterial ordnen, Dramaturgien fingieren, Dinge weglassen, Distanz zum Gesagten markieren (durch Sarkasmus, Kommentar, Lakonie). Sie können bewerten, wie sich die Leute auf dem Podium schlagen, wie Film- und Weltkontexte (US-Wahlen, das Ende der deutschen Ampel-Regierung) das Gespräch einhegen oder untergraben, kurz: wie es um den vibe bestellt ist.
Die Faustregel, dass Protokolle innerhalb eines Tages abzufassen seien, wird so locker gehandhabt, dass von einer Faust kaum mehr die Rede sein kann. Dennoch begünstigt diese Position der teilnehmenden Rückschau ein tastendes Schreiben, ein schwebendes Bilanzieren, das stets mit der Freiheit ausgestattet ist, im Protokoll vom Protokoll abzuweichen. „Während ich nachdenke, schreitet das Gespräch voran,“ notiert Eva Kirsch im Protokoll zu „Mâine Mă Duc“. Den eigenen Standpunkt mitzudenken, verträgt sich durchaus mit dem Anspruch, das Gesagte verdichtet wiederzugeben. Die Protokolle bilden Scharniere für ein disparates (zukünftiges) Publikum; wer für Film und Diskussion anwesend war, liest sie mit anderen Augen als jene, die nur den Film, nur die Diskussion oder keines von beidem kennen. Das schafft eine produktive Brüchigkeit, die Marius Hrdy auf den Punkt bringt, wenn er in René Frölkes Überlegung zur Imperfektion von Transkriptionsprozessen aus der Diskussion zu „Spuren von Bewegung vor dem Eis“einen „treffende[n] Metagedanke[n] zu der Schreibarbeit an den Duisburger Protokollen“ erkennt. Das Weglassen, Aufbauschen und Zuspitzen der Ereignisse findet Niederschlag in einem Archiv, aus dem sich der Mythos der Duisburger Debattenschärfe zu einem beträchtlichen Teil konstituiert.
Ronny Günls Protokoll zu „sr“ von Lea Hartlaub schildert den Unglücksfall einer zum Ende hin aufkeimenden Gesprächigkeit, die aus Zeitgründen ein jähes Ende findet: „Die Diskussion vibriert aber noch bis zum Beginn des nächsten Films in erregten Einzelgesprächen nach.“ Denn neben allen programmatisch angebotenen Diskursräumen sind doch die Einzelgespräche im ornamentalen Dazwischen oft am ergiebigsten, weil hier andere Spielregeln gelten, vielleicht nicht jeder spontane Affekt mit Intellekt kaschiert oder gar gerechtfertigt werden muss, wenn man „unter sich“ ist – oder zumindest denkt, man wäre es. Mit einer Zigarette zwischen den Fingern oder einer durchfetteten Pommes (sogar die findet in einem Protokoll Erwähnung) steht man dann also beisammen in der Novemberkälte, fragt sich, ob Farocki die Jugendstil-Einflüsse auf den Duisburger Fassaden vielleicht einfach erfunden hat, und arbeitet unwissend mit an der Mythenbildung für Filmwochengänger:innen kommender Generationen, die irgendwann wehmütig auf die lebendigen Diskussionen der 48. Ausgabe zurückblicken werden; damals, als noch richtig gestritten wurde.