Der zweite Tag der Duisburger Filmwoche fällt auf den „Dienstag nach dem ersten Montag im November“ – das ist die Formulierung, die in der US-amerikanischen Verfassung festgelegt wurde, um einen regulären Wahltermin im Vierjahresrhythmus aufzustellen. Mit dieser besonderen Formel sollte – wie ich Peter Filzmaier entnommen habe – ein Zeitpunkt nach der großen Erntezeit gefunden werden (›November‹), der auch mit zwei Tagen Kutschweg zum nächsten Wahllokal zu erreichen ist (›Dienstag‹) und der dabei nicht auf Allerheiligen fällt (›nach dem ersten Montag‹). Gleichzeitig handelt es sich um eine besondere Wahl, weil ein Amtsinhaber, Joe Biden, nicht zum zweiten Mal angetreten ist (letztmalig datiert ein solcher Fall ins Jahr 1968) und damit mit Kamela Harris erstmals eine Frau of Color US-Präsidentin werden kann; weil dafür ein früherer Präsident noch einmal antritt.
Der Kutschweg bleibt heutzutage – wenn er nicht freiwillig ersucht wird – den meisten erspart, dafür müssen Lasten ganz anderer Art ertragen werden: verhöhnende Unvernunft, gierig-aggressiver Populismus, zynische Demokratiefeindlichkeit. Dabei muss klar sein, dass das Erstarken von rechtsfeindlichen bis hin kriminellen Präsidentschaftspersonen und Parteien nicht ohne die sozialen Kräfte ermöglicht werden kann, die noch größer sind, als jene. Gleichzeitig wissen wir, dass die politische Öffentlichkeit in starkem Maße von – sich zum Teil rasend schnell verändernden – audiovisuellen Mediensystemen beeinflusst wird.
In diesem Sinne ist die Filmauswahl für den heutigen Abend mehr als naheliegend: Es handelt sich bei Primary von der unabhängigen Dokumentarfilmproduktion Drew Associates um ein (Medien-)Dokument im US-Wahlkampf von 1960 – einem Wahlkampf, der berühmt wurde, weil er so eng wie selten – hier: gegen Richard Nixon und zugunsten John F. Kennedys – entschieden wurde und weil das erste TV-Duell der Geschichte Teil dieser Entscheidung wurde. Primary, der nicht den eigentlichen Wahlkampf, sondern den wortgebenden Vorwahlkampf zwischen den demokratischen Senatoren Kennedy und Hubert H. Humphrey im Swing-State Wisconsin zum Gegenstand hat, gilt darüber hinaus als ein Wendepunkt in der Dokumentarfilmgeschichte. Drew Associates suchten nach einer möglichst nahen ästhetischen Angleichung von Film und Realität, die den Namen Direct Cinema erhielt. Sie suchten nach Wegen, den Blick vom starren Stativ zu lösen und die spontanen Zwischentöne einzufangen. Gegen eine Dokumentarfilmsprache gerichtet, in der eine vorgefestigte Erzähler:innen-Meinung nur mit Bildern illustriert und untermauert wird, wollte jener Zusammenschluss von Dokumentarfilmszene und Reportern den Zuschauer:innen die Möglichkeit einräumen, das Gezeigte selbst zu evaluieren. Monika Beyerle beschreibt das als die Ablehnung eines See-it-my-way zugunsten eines See-it-for-yourself.
Für dieses liberale Prinzip war der Vorwahlkampf im März und April des Wahljahres, in dem die Parteien ihren endgültigen Präsidentschaftskandidaten bestimmen, ein quasi prä-destinierter Schauplatz. Hier wird durch die Kameraarbeit von Richard Leacock und Albert Maysles immer wieder eine Blickposition eingenommen, die in den Reihen der zu Überzeugenden Platz nimmt, die sich dicht unters Rednerpult stellt und mit erwartungsvollem Winkel den Rednern unters Kinn schaut.
Kennedy hatte sich erst im Januar 1960 um die Präsidentschaftskandidatur der Demokratischen Partei beworben, wobei seine Person – trotz der 15 Jahre Senatorenschaft – nicht unbedingt favorisiert wurde: Er galt mit seinen 44 Jahren als zu jung, den Protestanten als zu katholisch und als Millionärssohn aus Bosten wurde er vor allem im agrarisch geprägten Mittleren Westen als »Eastern Establishment« abgelehnt. Hubert Humphrey aus Minnesota dagegen, der Agrarpolitik zu seiner Agenda gemacht hatte, galt als Favorit unter den Landwirten des Mittleren Westens. In Wisconsin als sogenanntem Swing-State – auch Battleground genannt, dem berüchtigten Zünglein an der Waage – konzentrierte sich der Wahlkampf: Nach seinem Wahlsieg wird Kennedy eingestehen: »Primaries are very risky. But, my judgement is, I never could have been nominated, if I had’nt run in primaries.«
Dass es in Wisconsin um die Sympathien einer bestimmten Wählerschaft geht, macht die Eingangseinstellung in Primary deutlich, die in Latzhose, kariertem Hemd, Arbeitsjacke und Fischerhut gewissermaßen einen prototypischen Landwirt zeigt, der sich mit munterem Eigenwillen und salopper Zunge über die gestiegenen Steuersätze beschwert.
Primary ist der erste der vier sogenannten Kennedy-Filme, mit der Robert Drews Verband den auf tragische Weise kurzen Curriculum dieses Präsidenten medial begleitete: 1960 mit der Vorwahl den Aufstieg, ein Jahr später in Adventures on the New Frontier die ersten Tage seiner Amtszeit. Crisis, zwei Jahre später, begleitet ihn während des Zusammenstoßes von antirassistischer Bürgerrechtsbewegung und Befürwortern der Segregation. Und mit Faces of November folgt bereits vier Jahre nach Primary das Staatsbegräbnis. Drew formulierte auch das ästhetische Programm der Gruppe, – das sind vor allem Leacock, Alan Pennebaker und die Gebrüder Maysles – die auch als »the Beatles of documentary« bezeichnet wurden. Die Vierjahres-Spanne der Kennedy-Quadrologie ist es auch, die die Genese, die Ausformung und gewissermaßen auch die Krise des Direct Cinema beschreibt.
Der programmatische Anspruch der Drew Associates ist kein geringerer als sich nicht nur von »künstlichen« Studio-Systemen wie Hollywood, sondern auch von vorangegangenen dokumentarischen Strömungen (teils polemisch) abzugrenzen, um die eigenen Authentizitäts- und Wahrheitsansprüche durchzusetzen. Als Gegenpol zum konventionellen und hochgradig konstruierten Erzählen sollte ein unverstellter, ein unkonventioneller und persönlicher Blick auf die Dinge und Menschen entwickelt werden. So werden den Zuschauer:innen – und Zuhörer:innen, das ist wichtig – von Primary gleich in den ersten fünf Minuten mit energischer Stimme die ästhetischen Neuerungen unter die Nase gerieben: »You are about to see a candidates view of this frantic process and an intimite view of the candidates themselves – in their car and buses, behind the scenes, in TV studios and hotel rooms – excited, exhausted.« Intime Einblicke in sonst verborgene Orte durch nie dagewesene Blickwinkel sind die radikalen Versprechen des Direct Cinema, das als Bonmot der ›fly on the wall‹ Eingang in die Filmgeschichte gehalten hat. Wie eine Fliege, deren blauäugiger wie abenteuerlicher Flug ins Oval Office führt – so in Adventures on the New Frontier – sollte eine rein beobachtende Haltung geboten werden.
Diese neuartigen Einsichten wurden teils begleitet, teils vorbereitet durch einen vermehrt von persönlichen Einsichten gesprägten Schreib- und Reportagestil, der als New Journalism bekannt geworden ist. Aber auch von fotojournalistischen Praktiken, wie dem Magazin Life, für das Robert Drew als Journalist und Redakteur arbeitete. Life war bis in die 1960er Jahre in den der Vereinigten Staaten das populärste Nachrichtenmagazin seiner Art. Es erschien wöchentlich, war ein sogenanntes General-Interest-Magazin, also thematisch maximal breit aufgestellt: Fragen, wie nun ein Adler einen Wolf aus dem Flug angreift, welcher Ring zur Saison passt und wie man einen Salat aus konserviertem Obst herrichtet, wurde der selbe Platz eingeräumt, wie der Ausgrabung einer assyrischen Tempelanlage, dem Portrait eines Kleinstadt-Bürgermeisters in Illinois oder der Entwicklung eines neuen Panzers durch die U.S. Army.
Life hatte schon in seiner Frühzeit einen besonderen Fokus auf Fotojournalismus gelegt, der sich in der gleichberechtigten Wertschätzung und Behandlung von Wort und Bild ausdrückte. In den 1930ern wandelte sich dieses Verhältnis in einer Privilegierung des fotografischen Bildes; der Text, teils zu Bildunterschriften geschrumpft, machte der Beteuerung von unmittelbarer Anschaulichkeit und der voyeuristischen Neugier Platz. Diese Neuausrichtung wurde mit dem prophetischen Credo unterfüttert: »To see life; to see the world; to eyewitness great events […] to see things thousands of miles away, things hidden behind walls and within rooms, things dangerous to come to.« Beim Durchblättern – vom Kanapee aus – sollten Raum und Zeit überwunden, das Unerreichbare (›things hidden behind walls and within rooms‹) greifbar gemacht werden. Das Magazin versprach eine exklusive und gleichzeitig lebendig-vitale Form der Augenzeugenschaft. Mit diesem Versprechen wurde sich bevorzugt Personen des öffentlichen Lebens genähert; auch den besonders unnahbaren politischen Figuren. Um die Fliegen-Metapher an dieser Stelle kurz zweckentfremdet zu entleihen, so flog man für die Ausgabe vom 13. September 1948 etwa nach Bled am See aus. Hier lieferte Life die offiziell ersten Bilder des jugoslawischen Autokraten Josip Broz Tito nach seinem Bruch mit Stalin. Noch während ihm die tödliche Verfolgung droht, wird er in seiner ersten der folgend zahlreichen Sommervillen am Bleder See in legerer Kleidung, in idyllisch-sommerlichem Ambiente, gefestigt und in Sicherheit in Szene gesetzt. Die Headline: »a dictator rests, plays and plots in privacy of an alpine retreat.«
Und auch Kennedy war bis zur Primary-Wahl in Wisconsin, die einen eigenen Heftschwerpunkt erhielt, bereits viermal, bevorzugt mit seiner Gattin Jacqueline, Covergegenstand, auch wenn die Inszenierung seines Privatlebens andere Ziele verfolgte, als jene Titos.
Robert Drew nun wollte dem Motto des Magazins, ›to see life‹, einen eigenen filmischen Ausdruck geben. Dieser ist nicht ohne die technischen Voraussetzungen zu denken. So wurde Time-Life, der Mutterkonzern, der seit den 1950ern nach progressivem Fernsehjournalismus strebte, durch Drew zu einer nicht unerheblichen Investition bewogen: zur Entwicklung eines aufschulterbarem Handkamera-Systems in 16 mm, das samt tragbarem Synchronton-Rekorder das Filmemachen mit einem sehr kleinen, nämlich einem Zwei-Personen-Team ermöglichte. Nun konnte ein Geschehen an Ort und Stelle, ohne großen vorbereitenden Aufwand oder Personal, flexibel und mobil, visuell und akustisch zugleich aufgenommen werden. Richard Leacock sagt 1963 über die Dreharbeiten zu Primary: »For the first time we were able to walk in and out of buildings, up and down stairs, film in taxicabs, all over the place, and get synchronous sound.« So drängt sich die Kamera in Primary nicht ohne Genuss durch enge Korridore, steigt in die Wahlkampf-Karosserien und lässt den Scheibenwischer über die Bildfläche gleiten, um mit Selbstbewusstsein von seiner neuartigen und abenteuerlichen Perspektive zu berichten.
Diese visuelle Nähe, die sich eine Rückbank mit dem potentiellen neuen Präsidenten teilt, wird kongenial durch den Synchronton ergänzt, auch wenn dieser in Primary noch streckenweise vorgetäuscht werden muss. Erstmalig konnte mithilfe der vergleichsweise kleinen, tragbaren Aufnahmegeräte ein spontaner und vielstimmiger Ausdruck zeitgleich zum Bild eingefangen werden. Der Farmer, der eingangs in Latzhose und Flanellhemd zu Wort kommt, ist eben nicht nur typische Figur, sondern bekommt durch seinen rüstigen Sprech eine ganz eigenständige Form. Als er durch Humphrey zu einer Tasse Kaffee im White House eingeladen wird, antwortet er spontan und weisungsfrei: »maybe Schnaps!« Seine impulsive Antwort verleiht ihm und dem Augenblick einen charmanten Witz. Spontan und weisungsfrei sind auch die Versprechen der Aufnahme. Gleichzeitig erzählt sein und weitere Dialekte uns etwas von der Migrationsgeschichte der Vereinigten Staaten und Wisconsins im Besonderen. Als Bundesstaat vor allem deutscher und skandinavischer Einwanderer wird im Publikum und ihren Adressierungen eine Vielstimmigkeit vernehmbar. In einer Halle in Milwaukee richtet sich Jacqueline Kennedy, die bereits für ihre polyglotten Wahlwerbe-Aufrufe aus dem Radio bekannt war, an die katholische Wählerschaft mit einer eingeübten nationalistischen Phrase auf Polnisch – die emphatische Reaktion des Publikums ist unmittelbar zu hören und erleben.
Großaufnahmen auf kleine Gesten, auf nervöse Schritte und nestelnde Finger machen transparent, was sich hinter der Kulisse verbirgt. Damit steht der Untertitel des dritten Teils der Kennedy-Quadrologie für ein allgemeines Prinzip Pate: Crisis. Das ist die »Story behind a presidential commitment.« Jene Hintergrundinformationen können ganz räumlich verstanden werden. In Adventures on the New Frontier sitzt die Kamera minutenlang Kabinett-Mitgliedern und Senatoren im Rücken. In dieser nicht-repräsentativen Form können die politischen Figuren nicht mehr über ihre Gesichtszüge, sondern erst durch die Nennung ihrer Namen identifiziert werden. Bei den Adventures on Reporting, so der Alternativ-Titel, handelt es sich im wahrsten Sinne des Wortes um Rückenansichten, um Nahaufnahmen auf Füße, denen auf mit Schritt und Tritt gefolgt wird, um Händeschütteln und Ansichten kleiner menschlicher Gebärden, die Zeugen unkontrollierbarer oder durchlässiger Emotionen sind. Extreme Nahaufnahmen – möglich durch die zeitgleiche Entwicklung von guten Zoom-Objektiven – machen ein Angebot zum Observieren von Gefühlslandschaften.
Seinen kompetitiven und exklusiven Anspruch gegenüber zeitgenössischen Fernsehformaten stellt Primary clever zur Schau, wenn er Einblicke in Foto- und TV-Studios liefert. Die Regieanweisungen finden hier vor der Kamera statt, etwa wenn Humphrey seiner Frau und dem Moderator im Vorfeld der Aufnahme genaueste Instruktionen liefert. Im Kontrast zur nächsten Einstellung auf ein Fernsehbild Kennedys wird klar: die von Politiker:innen ausgestrahlte Souveränität ist nicht so voraussetzungs- und zwanglos, wie angenommen. Und wenn Kennedy von einem Fotografen in Pose gerückt wird, verrät sein Einwurf »it’s not time to smile yet« zwar auch etwas über seinen charmanten Witz als Anwärter auf die Präsidentschaft. Er ist aber auch ein zwinkernder Hinweis darauf, dass das inszenierte Film- und Foto-Format keinen Platz für authentische Emotionen lässt. Anders natürlich Primary: In seinem spontanen Ausdruck steckt das Versprechen eines privilegierten Zugangs zur Wirklichkeit.
Schon der englische Maler und Theoretiker John Ruskin sagte über Fliegen: »Die Macht der Fliegen zeigt sich in ihrer stoischen Unbekümmertheit.« Man kann sie nicht erschrecken, nicht beherrschen und nicht vertreiben. Ganz so unbekümmert scheint der Flug der Direct-Cinema-Fliege aber nicht zu sein. Monika Beyerle hat etwa auf die Überbetonung der Aufnahmephase und damit der Kameraarbeit hingewiesen. Den Reiz, das unmittelbar inszenierte Geschehen gleich einem Wettkampf observierend zu evaluieren, verfolgte Drew bereits im Sportaufnahmen. Dem Charakter der Bilder des Direct Cinema, auch Uncontrolled Cinema genannt, liegt viel an Zufälligkeiten, die bewusst in die Montage integriert wurden. Das generiert oft einen immersiv angelegten Fluß der Bilder, der seine Gemachtheit verbirgt. Oder anders: Die Fliege, die erfolglos stets dieselbe Fensterscheibe anvisiert, ist ahnungsloser, als die beinah unachtsam auf den Boden gelenkten Kamerablicke oder das Drängen von wichtigen Figuren an den Bildrand. Es ist kein facettenartig gestreuter verfremdender Blick, vielmehr scheinen manche Motive eine größere Anziehungskraft als andere zu verströmen. Hall hat das wiefolgt formuliert: »Not only does Primary document a Democratic presidential primary (rather than a Republican one), but it arguably favors Kennedy over Humphrey (the Drew cameras find only reverent expressions in the faces in Kennedy’s crowds, for example and only sceptical ones in Humphreys).« Während Humphrey öfter isoliert zu sehen ist und auf seine potentiellen Wähler:innen zugehen muss, wird Kennedy regelmäßig umtummelt und umdrängt.. Der Flug der Fliege entspricht vielleicht ganz geflissentlich dem Wahlkampf-Spruch: »Follow the crowds to see and hear John F. Kennedy.«