Film

Il mio corpo
von Michele Pennetta
CH/IT 2020 | 80 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 44
06.11.2020

Diskussion
Podium: Michele Pennetta
Moderation: Luc Schaedler, Till Brockmann (Übersetzung)
Protokoll: Fred Truniger

Synopse

Die Statue der Mutter Gottes baumelt am Flaschenzug. 14 Cent pro Kilo bringt sie auf einem sizilianischen Schrottplatz. Oscar hilft seinem älteren Bruder und dem undankbaren Vater beim Sammeln. Lieber fährt er Fahrrad, bergab, freihändig. Auch für Stanley scheint die spröde Insel zu eng – auch er bleibt. Der junge Nigerianer wischt die Kirche, hütet Schafe, hofft, dass sein Freund mit ihm in Europa bleiben darf. Zwei geschäftige junge Männer, sich in ihren Suchbewegungen langsam annähernd.

Protokoll

Preludium
Das Licht geht an in einem Kino auf einer Insel. Mitten in Europa liegt die Schweiz, umgeben von Staaten, die Vorführungen der Art, wie sie gerade stattgefunden hat, seit Wochen verboten haben. Zürich, der einzige Ort, wo eine Filmvorführung der diesjährigen Duisburger Filmwoche stattfinden darf. Leichtsinnig kann man das nennen, oder wie Luc Schaedler eine Hommage an das Kino, wo Filme in der bestmöglichen Qualität geschaut werden und Wirkung entfalten können. Das Publikum wird sich des Moments schweigend und auch etwas feierlich bewusst. Il mio corpo: Der Titel des Films hat spürbare Dringlichkeit in der sozial distanzierten Anordnung von maskierten Leibern im Kinosaal.

Fuge
Wir befinden uns in einem Zwischenraum, es herrschen andere Gesetze als in der Normalität. Dieser Zwischenraum ist auch als Satellit bezeichnet worden, einer von sechs Trabanten, die dieses Jahr aus Duisburg ausgeschickt wurden. Der einzige, der seine Umlaufbahn erreicht hat. Losgelöst von der Schwerkraft Duisburgs findet eine Stellvertreterdiskussion (Volko Kamensky) statt, die zuerst einen doppelten Regelbruch konstatieren muss: Auf dem Podium sitzt ein Schweizer Filmemacher, der eigentlich Italiener ist, und er spricht kein Deutsch. Das Gespräch führt von deutschen Fragen über Till Brockmanns präzise Übersetzungen zu Michele Pennettas italienisch formulierten Antworten, doch zu Beginn muss noch eine weitere Sprachenfrage aus dem Publikum geklärt werden, ob denn diese Fragen auch auf Französisch zu stellen seien („Sprechen wir jetzt Deutsch, Italienisch oder Französisch?“)? Denn Pennetta hat seine Freunde aus der französischsprachigen Schweiz mitgebracht, wo er vor bald zehn Jahren sein Filmstudium beendet hat und heute noch wohnt. Der Satellit aber ist gebaut worden, um im leeren Raum zwischen den Sprachen zuverlässig zu kreisen und Kommunikation zu ermöglichen. Er gerät nicht ins Trudeln. Nur der Protokollant wird ohne professionelle Übersetzung zum autonomen Interpreteur französischer Signalübertragung.

Sonate
Das Thema der nun zur Aufführung gelangenden Diskussion wird durch Luc Schaedler mit seiner Exposition für das Gespräch gesetzt und von Michele Pennetta variiert. Schaedler spricht vom fließenden Übergang, den der Film vom Dokumentarischen hin zu einem fiktionalisierten Ende vollzieht und damit etwas erreicht, was als rein dokumentarische Form nicht zu machen gewesen wäre: eine Passionsgeschichte. Pennetta verweist auf seine inzwischen zehnjährige Suche nach adäquaten Formen, die Realität mit Film aufzuzeichnen, zumal seine Sicht auf diese Realität. Es ist sein dritter in Sizilien gedrehter Film, vor bald zehn Jahren also hat er bereits die „unsichtbaren Mikrokosmen“ kennengelernt, die das Leben auf der Insel ausmachen. Il mio corpo entstand jedoch aus einem Interesse heraus, das nicht zuerst diesen Menschen galt, sondern der Geschichte verlassener Minen in der Mitte der Insel. Wieso wurden sie geschlossen? Wer kann von ihnen vielleicht heute noch leben? Während eines Aufenthalts von vier Monaten in dieser für ihn bis dahin noch kaum bekannten Region ist er auf Familien gestoßen, die auf entlegenen Halden Alteisen sammeln, sortieren und verkaufen. Die Familie von Marco und seinen beiden ältesten Söhnen Roberto und Oscar, durch welche er die Lebensrealität Siziliens ausdrücken wollte, wurde dann jedoch unerwartet durch eine zweite Lebensrealität ergänzt, die in unmittelbarer Nähe angesiedelt ist: jene von Migranten in einem der größten Asylzentren Europas. Die Geschichte Stanleys, eines anerkannten Flüchtlings mit vorerst zweijähriger Aufenthaltsbewilligung, verband sich mit der ersten der ansässigen Famlie. Stanley schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch, wohnt in einer Wohnung, die er sich kaum leisten kann und pflegt eine enge Freundschaft mit seinem noch im Asylverfahren stehenden nigerianischen Landsmann Blessed. Beide porträtierten Gruppen stehen von außen besehen am Rande der Gesellschaft (was die Protagonisten selber jedoch sicherlich nicht so sehen würden; die dargestellte Zyklik ihres Schicksals sei eine Zugabe der Regie).

Die Isolation der Hauptfiguren betont auch Thomas Krempke in der ersten Frage aus dem Publikum, allerdings aus einem formalen Interesse heraus: Die Kamera „klebt“ an den Personen, lässt kaum ihren Kontext sehen, eine Entscheidung, die erklärungsbedürftig sei. Pennetta bestätigt den Eindruck, dass er nicht den Kontext sondern die Nähe im Bild zeigen wollte. Der Kontext soll sich durch die Handlungen der Personen erschließen. Diese Bildsprache spiegelt für ihn seine eigene Arbeitsweise wider: Vier Monate hatte er in der Gegend verbracht und mit seinen Protagonisten eine Beziehung aufgebaut, dann erst sei das Team angekommen und man habe bis zum Drehbeginn einen weiteren Monat zugewartet.

Luc Schaedler hakt hier ein und fragt nach der Arbeitsweise in den engen Räumen beispielsweise in der Szene morgens, wenn die Kamera sich zwischen den noch schlafenden Kinderkörpern hindurch bewegt, offenbar ohne als Störfaktor wahrgenommen zu werden. Die Equipe, erklärt Penetta, war zwar eigentlich größer als ein normales drei bis vierköpfiges Dokumentarfilmteam, aber in der angesprochenen Szene nur der Kameramann (Paolo Ferrari) und der Tonmann tatsächlich in der Wohnung. Er selber sei draußen geblieben und habe auf dem Monitor des Assistenten, der per Funk die Schärfe der Kamera zog, die von der Kamera kommenden Bilder gesehen und den DoP per Mikrophon in Einwegkommunikation zu lenken versucht – der Kameramann konnte in dieser Situation nicht antworten. Eine solche Konstellation ist nur möglich, wenn sich das Team und die Protagonist*innen gut kennen.

Luc Schaedler schildert seine eigene Arbeitsweise, die sich von jener Pennettas offenbar in einem Punkt unterschiedet, denn er erklärt seinen Protagonist*innen normalerweise, wie der Tag aussehen wird. Das sei hier offenbar nicht der Fall. Auch dies lässt sich durch die lange Zeit erklären, die Pennetta mit der Familie verbracht hat. Er wusste ganz einfach aus dieser Erfahrung heraus, was sie an bestimmten Tagen machen würden. Außerdem gab es in den Gesprächen Hinweise auf geplante Ausflüge mit dem kleinen Altmetalllaster – man habe sich also im Wesentlichen darauf eingelassen, was im Kalender der Protagonist*innen stand. In mehrtägigen Drehpausen hat sich das Team jeweils an einer großen Wand mit Post-it-Zettelchen einen Überblick über die gedrehten Situationen geschaffen, um abzusehen, ob sich die intendierte Geschichte im Schnitt tatsächlich verwirklichen lassen werde.

Kathrin Plüss reagiert auf diese Ausführungen und fragt nach dem Drehverhältnis und dem Entscheid, in vergleichsweise langen Einstellungen zu drehen. Gedreht wurde allerdings erstaunlich wenig, nur etwa 35 Stunden Material für den 80 Minuten langen Film, die Planung ging also offenbar recht gut auf. In der Montage jedoch wurde der Film dann aber eigentlich neu geschrieben. Pennetta nennt es einen Leidensweg. Dieser führte über einen ersten viermonatigen Versuch mit einer Cutterin, die mit den Ideen Pennettas offenbar nicht einverstanden war und die Figur Stanleys genauso wie das fiktionalisierende Ende in Frage stellte. Pennetta musste sich bei der Produktionsfirma durchsetzen und entwickelte daraufhin die nun vorliegende Form mit einem zweiten Cutter.

Die Fiktionalisierung wird nicht erst am Ende des Films deutlich, betont Thomas Schärer und erwähnt unter anderem Schuss-Gegenschuss-Situationen. Thomas Krempke verweist auf vorher bereits gestellte Fragen nach deutlich spürbaren Momenten von Inszenierung, deren Beantwortung Pennetta ausgewichen sei, beispielsweise den Fund einer Pistole oder Bewegungen Oscars, mit denen die Kamera offenbar geplant mitgeht. Die Schuss-Gegenschuss-Situationen bezeichnet Pennetta in der Tat als Elemente die eine Fiktionalisierung bereits früh im Film anzeigen, doch sie seien während des Drehens zwischen dem Kameramann und den Protagonisten entstanden. [Der Kameramann Paolo Ferrari hatte ursprünglich Spielfilme gedreht und hat erst allmählich zum dokumentarischen Film gewechselt. Anm. des Protokolls]. Der Blick des Kameramanns und Pennettas Methode sind hier deckungsgleich: im dokumentarischen Prozess drehen, aber Methoden des fiktionalen Films anwenden, die einen gedanklich vorweggenommenen Schnitt des Materials ermöglichen. Das Gespräch erfährt hier eine kurze Reprise der Exposition mit der Frage, wie die Realität im Film festgehalten wird, beziehungsweise wie Pennetta seinen Wahrnehmungen Form gibt. Die Pistole sei ein unerwarteter Fund des Jungen gewesen, eines jener piccoli miracoli, die Drehsituationen wie diese immer auch provozieren. Der Fund stellte aber die Frage, was damit zu machen sei. Die zweite Einstellung mit der Pistole ist entsprechend inszeniert, wenn Oscar aus der Ferne auf seinen Vater zu zielen scheint. Die Pistole spielt damit in den Konflikt Oscars mit dem Vater hinein. Die Madonna, die der Film ebenfalls als Fundstück präsentiert, ist dagegen rein inszeniert. Die zweite Konfliktlinie der Kinder, die aus der Familie abwesende Mutter, sollte durch sie schon früh im Film angedeutet werden – ein Aspekt der Geschichte, den Pennetta abgesehen von vagen Hinweisen auf ein Gerichtsverfahren zwischen den Eheleuten ansonsten nicht weiter ausführen konnte. Die von Krempke erwähnte Szene, in welcher die Kamera geschmeidig dem sich hinlegenden Oscar folge, sei eine sehr gute Beobachtung.

Die Wand mit den gelben Post-its ist also für einzelne Einstellungen des Films verantwortlich. Ähnlich ist auch der Entscheid, in Cinemascope zu drehen, einem Format, das allein schon deutliche fiktionalisierende Konnotationen liefere, ein Verweis auf die Gestaltung von Realität in seinem Film. Il mio corpo hinterfragt mit seiner Form zwischen Dokumentarfilm und Fiktion seine eigene Funktion als Dokument.

Die Coda des Gesprächs führt nun wieder stärker zu pragmatischen Aspekten der porträtierten sizilianischen Lebenswirklichkeit zurück mit der Frage, ob denn die beiden Jungen während des Drehs Ferien hatten, also nicht zur Schule mussten, und ob der „Vater wirklich so ein autoritäres Arschloch“ sei, wie er im Film dargestellt werde. Die Antworten sind kurz und ebenso pragmatisch: Gedreht wurde zwar hauptsächlich im Sommer, während der Ferien, die beiden Jungen würden aber auch sonst wie viele zwölf-, dreizehnjährige nicht zur Schule gehen. Es gibt schlicht keine staatliche Institution, die die Kontrolle behält. Ein wichtiges Thema in Sizilien, aber auch eines, das er nicht habe behandeln wollen. Die Jungs und der Vater stehen in einem Konflikt, der für das Team und für Pennetta oftmals schwer auszuhalten gewesen war. Distanz zu halten zur Familie war fast unmöglich, für ihn selber noch deutlicher, als während des Drehs sein Kind zur Welt gekommen sei. Die Philosophie des Vaters, ‚die Welt ist ein Dschungel, nur wer sich durchschlägt kommt weiter‘, entspringt aber einer Situation, die sich von der unseren massiv unterscheidet. Es hat tatsächlich Situationen gegeben, in welchen sie nicht gedreht oder das Material im Schnitt weggelassen haben.

Die letzte Frage aus dem Publikum gilt den Frauen, die im Film bis auf eine kurze Szene in einer Disco und am Frühstückstisch mit der neuen Lebenspartnerin von Marco abwesend sind. Wie sei diese vollständige Absenz zu erklären? Die Szene in der Disco, in welcher einige wenige Frauen auf viele junge Männer treffen, spiegelt die Wirklichkeit der Situation der Nigerianer in diesem sizilianischen Asylbewerberzentrum wider. Frauen und Männer werden getrennt. Die Frauen leben in Zentren in Catania oder in Palermo, die Männer werden in dieser abgelegenen Gegend konzentriert. Einige Frauen sind aus ihren Zentren abgehauen und nun in der Gegend des Männerlagers, wo sie sich mehrheitlich prostituieren. Diese Situation ist auch im vom Film nicht aufgelösten Verhältnis von Stanley und Blessed lesbar. Aspekte des Lebens von Asylbewerber*innen auf Sizilien, die Pennetta zwar beobachten, aber auch nach Monaten der Annäherung sich nicht zu erzählen zutrauten konnte. Das Fehlen der Mutter andererseits sei nicht über Präsenz einlösbar gewesen, sondern nur über Handlungen und Erzählungen. Zuerst habe er zwar versucht, dieses Fehlen zu einem Subthema des Films zu machen, denn die Absenz sei in der Familie Oscars tatsächlich überdeutlich, aber repräsentieren ließ sie sich letztlich nur über Stellvertretungen wie jene der Madonnenfigur.

Stabat Mater
Der offensichtliche Kontrast zwischen der gegenwärtigen Lage der anwesenden Zuschauer*innen und der in Il mio corpo thematisierten Situation blieb an diesem Abend unausgesprochen: hier die momentane Erleichterung einer kollektiv erlebten scheinbaren Normalität in Mitten einer Pandemie. Dort eine Entwicklung, wo jahrzehntelange Abschottungsversuche der europäischen Politik nicht erfolgreich waren: Dieselbe Pandemie verursacht eine perverse Koinzidenz von sich bedrohlich zuspitzenden Lebensbedingungen afrikanischer Migrant*innen und dem massiven Rückgang der Migrant*innenströme, der von der internationalen Presse als momentane Entspannung des „Migrationsproblems“ auf Sizilien vermeldet wird. Das Stabat Mater Giovanni Battista Pergolesis am Ende von Il mio corpo erklang heute Abend für tausende Mütter.