Film

Heimat ist ein Raum aus Zeit
von Thomas Heise
DE/AT 2019 | 218 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 43
06.11.2019

Diskussion
Podium: Thomas Heise, Stefan Neuberger (Kamera)
Moderation: Alex Gerbaulet
Protokoll: Nadine Voß

Synopse

Dokumente einer Familie erzählen von Menschen, verbunden in Nähe und Distanz. Ein Jahrhundert zwischen Berlin, Dresden und Wien, zwischen Bahnhöfen und auf Gleisen, die zu Weichen werden. Liebesbriefe, Deportationslisten, Schulaufsätze, Aktenvermerke als Zeichen der Zeiten. Kein Gesamtbild, sondern Spuren von Geschichte, von Liebe, von Verletzung und Glück in wechselnden Landschaften.

Protokoll

Die Rolle des Chronisten will Thomas Heise nicht einnehmen. Gegen Familienfilme sei er ohnehin, erzählt er, wohlwissend, dass er mit dem knapp vierstündigen Heimat ist ein Raum aus Zeit eben so einen geschaffen hat. Ein Kennenlernen sei es für ihn vor allem gewesen; Namen, die zu Personen wurden, eine Begegnung mit der Wiener Verwandtschaft, die dem Nationalsozialismus zum Opfer fiel. Ein Kennenlernen, das er mit dem Kinosaal teilt: Wenn Rosemarie Heise im Sterben liegt, nachdem man sie in den letzten 200 Minuten durch jugendliche Liebesbriefe, Notizen an Freunde und Familie und Schilderungen von Weggefährten kennenlernte, macht das auch etwas mit dem Zuschauer.

1912 mit den Großeltern beginnend und 2014 mit dem Tod der Mutter endend, erzählt sich über die Familiengeschichte der Heises auch Zeitgeschichte, von zwei Kriegen und der Gesellschaft, die sie zurückließen, von einem geteilten und schließlich formal geeinten Land. Über gelesene Briefe, Tagebucheinträge und Notizen verwebt Heise Lebensläufe mit Zeitebenen, begleitet von Bildern, die den Text assoziativ stützen, brechen, unaufdringlich kommentieren. Gedreht wurde zwar „mit 40 Aktenordnern im Kopf“, aber ohne Zuordnung konkreter textlicher Bezüge. Es wurden Bilder gesammelt, die keine Eindeutigkeit diktieren, sondern Möglichkeiten bieten. Auf Nachfrage aus dem Publikum erklärt Heise, er habe nicht Gegenwart und Vergangenheit gegeneinandersetzen wollen – ihn interessiere die Gleichzeitigkeit, die Verknüpfung von Zeiten, Zusammenhängen und Beziehungen.

Für Gerbaulet liegt die Sogwirkung des Films in seiner epischen Verdichtung, Heise erklärt an anderer Stelle den Grad der Überforderung, das Überladensein mit Geschichten und Figuren zum Prinzip. Und betont mehrfach: Das Konzept sei nicht am Reißbrett geplant, sondern intuitiv im Prozess entstanden. So richtig glauben mag man das nicht nach diesen mitunter auch fordernden und verstörenden Kinostunden. Und dass die Darstellung der Deportation der Wiener Verwandtschaft gefolgt sein müsse von einer „einfachen“ Liebesgeschichte zwischen Udo und Rosi, um das Weiterschauen überhaupt zu ermöglichen, war tatsächlich schon von Beginn an klar. Aber: So kompliziert habe er nicht gedacht, wehrt Heise schon Gerbaulets eröffnende Frage nach der Entscheidung für Schwarz-Weiß und weitere im Verlauf der Diskussion folgende diskursive Zuschreibungen ab. Heises eigene Stimme als Erzähler im Film beispielsweise, die, wie zwei DiskutantInnen schildern, über den Film trägt und trotz Länge in der Handlung hält – eher ein Zufall: Ursprünglich nur als Tonspur-Dummy für den Schnitt angelegt und dann übernommen, weil sie etwas Unfertiges, Unperfektes mitbrachte und gerade dadurch Bedeutung generiert, dass sie nicht als Bedeutungsträger angelegt ist. Das intuitive Prinzip erzählt auch vom Vertrauen in Zusammenarbeit und Produktion, geleitet von individuellem Interesse aller Beteiligten und einem gemeinsamen Gespür für den entstehenden Rhythmus des Films.

Der Heimatbegriff, der sich prominent im Titel anbahnt, kommt glücklicherweise in der Diskussion zu kurz und so kann er stehen bleiben, wie er im Film verhandelt wird: stets präsent, ohne den Finger darauf zu legen, assoziativ in den sich um Zugehörigkeit, Vertreibung, Ent- und Verwurzelung, Nationalität und Ideologien drehenden Lebensgeschichten und voller Aktualität, wenn Heise aus einem Text von Heiner Müller aus dem Jahr 1992 liest: „Was ist das, deutsch sein?“