Film

Familienleben
von Rosa Hannah Ziegler
DE 2018 | 95 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 42
10.11.2018

Diskussion
Podium: Rosa Hannah Ziegler, Willi Reinecke (Regieassistenz)
Moderation: Werner Ružička
Protokoll: Laura Reichwald

Synopse

Alfred und Biggi haben nur Wunden zu vererben. Als Paar getrennt, gebunden im gewaltsamen Zwang des Prekären, ist ein baufälliger Bauernhof Metapher ihrer Lebensumstände. Dort träumen sie gemeinsam mit Biggis pubertierenden Töchtern mit nur von Bildschirmen illuminierten Gesichtern von einem geborgenen Dasein jenseits von Ängsten und Verletzungen. 

Protokoll

Ein Dorf in Sachsen-Anhalt. 80 Einwohner. Karge Landschaft.

Ein Hof. Eine Familie. 4 Personen. 6 Hunde. Diverse Pferde und Katzen.

Ein unwirklicher Ort, wie Werner Ružička findet und fragt nach, wie Rosa Hannah Ziegler dort hingekommen sei. Diese erzählt, dass sie ursprünglich einen Film über Heimkinder plante. Sie hatte bereits mehrere Heime besucht und Bewohner interviewt, als ihr der Sohn von Biggi das Foto seiner Mutter zeigt. Diese hätte sie sofort fasziniert, fast wie eine Art Vorahnung. So fuhr sie an einem schönen Sommertag zur Familie. Im Gespräch vertiefte sich dann das Gefühl, über diese Familie einen Film drehen zu müssen. Ihr oberstes Gebot war jedoch, dass die Familie selbst den Wunsch hat zu drehen und sie das nicht von außen erzwingt. Über das nächste halbe Jahr ist sie daher immer wieder ohne Kamera und Team auf den Hof gefahren, um mit der Familie Zeit zu verbringen und ein gegenseitiges persönliches Kennenlernen zu ermöglichen. Das Miteinander was sie dort erlebte, sei ein intensives, inniges gewesen, das sie sehr berührte.

Für die Dreharbeiten habe sie dann in dem einen Kilometer entfernten Nachbardorf in einer kleinen Pension zusammen mit dem Kameramann, dem Tonmann und manchmal Willi, dem Regieassistenten, gewohnt. 40 Drehtage sind es dann insgesamt geworden, erzählt die Filmemacherin, mit zum Teil sehr langen Tagen, an denen sie immer neu entschieden, was sie drehen und worauf sie sich heute fokussieren. Insgesamt wäre es ein sehr organischer Prozess gewesen.

Werner Ružička fragt nach, wie Rosa Hannah Ziegler damit umgegangen sei, als Filmemacherin in die Familie zu kommen. Sei sie sich dieser Rolle bewusst gewesen, gerade in Hinsicht auf eine mögliche therapeutische Funktion oder Szenen in denen die Mädchen ihr Geheimnisse verraten? Die Filmemacherin erzählt, dass sie sich das Thema und die Protagonisten ausgesucht hätte. Da habe es ein gegenseitiges Einverständnis und Vertrauen gegeben, dass etwas entsteht, womit alle leben können. Ihr Ziel sei es gewesen, ihnen gerecht zu werden. Dennoch hätte sie etwas Angst verspürt, als sie der Familie den Film zeigte. Diese hätte aber den Film sehr gut aufgenommen und sich selbst wiedererkennen können. Das war ein großes Kompliment für sie, gerade weil Biggi im Film erzählt, dass sie keine Spiegel mag und Probleme damit habe, sich selbst zu sehen. Rosa Hannah Ziegler glaubt, dass ihre Zusammenarbeit mit der Familie vor allem funktionierte, weil sie sich in diese wirklich hineinbegeben hat, sich dann aber auch für den Film distanzieren konnte. Sie und das Filmteam seien eine Art Ventil für die Familie gewesen, um sich bestimmte Sachen aus der Vergangenheit zum ersten Mal zu erzählen.

Die Diskussion wendet sich nun der Darstellung von Personen im Film zu. Werner Ružička findet, dass starke Gruppenbilder entstanden sind und möchte wissen, wie die Filmemacherin das Formprinzip entwickelt habe und ob die Familie bereit gewesen sei, sich darzustellen. Es sei ihr eben nicht darum gegangen, jemand darstellen zu wollen, entgegnet Rosa Hannah Ziegler. Es ging viel mehr darum, der Familie eine Äußerungsmöglichkeit zu bieten, den Raum, sich zu erklären und so zu zeigen, wie sie sind. Deswegen wollte die Filmemacherin sie auf keinen Fall in Szene setzen. Die Annäherung an die Familie sei zunächst ein intuitiver Prozess gewesen, bei dem es herauszufinden galt, was die Familie erzählen will und was nicht. Erst im Anschluss daran habe sich die Form entwickelt. Schwerpunktmäßig wollte sie vor allem den Zusammenhalt, die Stärke und das Reflektionsvermögen der Familie herausarbeiten. Es berührte sie, das die Protagonisten niemals die Hoffnung verlieren und immer weitermachen.

Wie nähert man sich nun einer solchen Auseinandersetzung an? Rosa Hanna Ziegler entschied sich, mit Alfred zu beginnen. Dies sei jedoch nicht immer so gewesen, denn es habe verschiedene Schnittfassungen mit unterschiedlichen Reihenfolgen der Protagonisten, ebenso wie Varianten ohne Interviews und Off-Töne gegeben. Egal jedoch mit wem sie begann, über den gesamten Film betrachtet war es der Filmemacherin wichtig, dass alle Protagonisten gleichwertig dargestellt sind und jeder zu Wort kommt. Dass sie sich letztendlich für Alfred entschieden habe, lag daran, dass er in die Situation auf dem Hof mit seiner Erzählung so gut einführt. Er hat einfach erzählt und das was er sagte, hatte für sie einen großen Spannungsbogen. Wie so oft bei den Dreharbeiten sei es durch glückliche Fügung der passende Moment gewesen. Alles was sie dann machen musste, war zuhören. Entscheidend war außerdem, so die Filmemacherin, dass sie den speziellen Familienbund, und damit verbunden die Art und Weise miteinander zu sprechen und füreinander dazu sein, akzeptierte und verstand. Sie wollte die Familie nicht bloßstellen, da diese ohnehin schon täglich mit Ausgrenzung und Stigmatisierung konfrontiert sei. Es habe sie betroffen gemacht, die Reaktionen der Dorfbewohner und der Familienhilfe zu erleben, welche die Familie sehr schlecht behandelt – aufgrund von Vorurteilen, die schnell entstehen, wenn man sich nicht auf diese einlässt.

Werner Ružička kommt nochmal auf den Protagonisten Alfred zurück, bei dem er eine starke antagonistische Kraft und drohende Aggressivität spürte. Wie sei die Filmemacherin damit umgegangen? Rosa Hannah Ziegler erzählt, dass sie schon manchmal Angst gehabt hätte, weil er so unberechenbar schien. Das änderte sich jedoch, je mehr sie über seine Biographie erfuhr. Beim Ausbruch Alfreds zu Beginn des Film sei ihr daher klar gewesen, dass es nicht in rohe Gewalt münden würde. Mit der Zeit habe sie das gut einschätzen können. Alfred an sich sei emotional sehr komplex. Einerseits sind da die zärtliche Gesten und die Fürsorglichkeit den Tieren gegenüber, die eine Art Partnerersatz werden, und andererseits erfährt man dann, was er mit seinen Händen noch tun kann – nämlich Gewalt ausüben. Das passiere alles am gleichen Ort.

Auf das Thema „Ort“ geht Willi Reinecke im folgenden genauer ein. Er erzählt, dass es dem Filmteam wichtig gewesen sei, sich auf den Mikrokosmos „Hof“ zu konzentrieren. Das Außen wird nur durch vereinzelte Aufnahmen im Dorf und Landschaftsaufnahmen thematisiert. Die Entscheidung, den Fokus auf den Hof zu legen, sei auch inhaltlich logisch gewesen, da die Protagonisten als Außenseiter im Dorf betrachtet werden. Die Familie lebte Tag für Tag in einem isolierten, deprimierenden Zustand ohne wirklich Veränderung. Beim Filmen habe man lange darauf gewartet, dass etwas passiert. Biggis Auszug am Ende war dann endlich eine Bewegung.

In diesen Zusammenhang passend erscheint die Wahl eines der Anfangsbilder, in welchem die Familie auf dem Hof im Kreis geht. Wie man aus diesem Kreis und dem beschriebenen stagnierenden Zustand ausbricht war bei der Gestaltung des Films eine wichtige Frage. Rosa Hannah Ziegler löst dies in Form innerer Bewegungen der Protagonisten, hervorgerufen durch den Prozess der Erinnerung. Die Familie erzählt sich von vergangenen Erlebnissen und so ändert sich etwas in, aber auch zwischen ihnen. Damit das passiere, brauche es eine Inkubationszeit, merkt Werner Ružička an. Eben jene, manchmal lang erscheinenden 95 Minuten. Sie habe das wirklich ausreizen wollen, um den Zuschauer zu zwingen, das auszuhalten und an seine Grenzen zu geraten, erzählt die Filmemacherin.

Von der „Zeit“ wechselt das Gespräch zum „Raum“. Werner Ružička findet die Raumarrangements und Stimmungen sehr gelungen. Der Film zeige vor allem Situationen im Abend- und Morgenlicht und nie im Sonnenschein. Rosa Hannah Ziegler erzählt, dass die Szenen aus der Winterzeit für sie die stärksten waren, weswegen man sich im Schnitt auf diese konzentriert habe. Sie wären eine gute Repräsentation für die Stimmung vor Ort, mit welcher sie Tag für Tag konfrontiert gewesen seien. Bei den Dreharbeiten näherte man sich den Bildern vor allem unter der Fragestellung: Wie geht man mit dem Gesehenen um? Wie kann man das gut darstellen und was ist das passende Bild dafür? Es sei ihnen wichtig gewesen, sagt die Filmemacherin, durch Präzision in der Kameraführung eine Bildspannung herzustellen. Dafür habe man auch ab und an Szenen wiederholt, was aber an sich nicht problematisch gewesen wäre, da sich vieles auf dem Hof sowieso wiederhole.

Zum passenden Bild galt es auch die passende Musik zu finden. Eine Stimme aus dem Publikum möchte wissen, wie viel der Musikauswahl von den Protagonisten kam. Es seien viele Szenen entstanden, in denen gesungen wird, erzählt Rosa Hannah Ziegler. Sie habe jeden gebeten, sein Lieblingslied zu singen. Es sei eine interessante Fügung, wie sich der Kontext der Lieder per Zufall in der Geschichte wiederfindet.

Werner Ružička hebt hervor, dass der Filmemacherin durch diese Herangehensweise ein intimer Film gelingt, bei welchem man das Vertrauen zwischen allen Beteiligten spürt. Wobei es eine schwierige Gratwanderung sei, zwischen intim und zu intim, wie jemand aus dem Publikum anmerkt. In dem Kontext taucht die Frage auf, mit welchen Strategien Rosa Hannah Ziegel eine Armutsausschlachtung des Gesehenen im Film zu verhindern versuchte. Man habe lange darüber im Team diskutiert, erwidert die Filmemacherin. Auf Ebene der Bildsprache entschied man sich daraufhin dafür, mit vielen Totalen zu arbeiten, und auf inhaltlicher Ebene für Off-Erzählungen und Interviewsequenzen, bei denen in die Tiefe gegangen wird. Sie hätte eben die Familie nicht nur beobachten und abbilden wollen, sondern wie bereits erwähnt, jedem Familienmitglied den Raum geben wollen, sich zu erklären.

Bei aller Tristesse ist mit dem Abspann, in welchem man die Familie gemeinsam tanzen sieht, dann doch eine glückliche Szene im Film. Es sei ihr wichtig gewesen, dieses Erinnerungsbild aus vergangenen, besseren Zeiten mitzuerzählen, sagt Rosa Hannah Ziegler. Einige Stimmen im Publikum sehen das kritisch. Für diese wirke es angehängt und Fehl am Platz, da Glück im Rest des Films nie sichtbar werde. Wieder andere Zuschauer empfinden es als eine Art Versöhnung. Auch wenn dieser Punkt strittig bleibt, könne man sich aber bestimmt darauf einigen, so Werner Ružička, dass es wichtig sei, dass der Dokumentarfilm ein Blick auf Menschen in prekären Lebensverhältnissen wirft.

 Rosa Hannah Ziegler, Willi Reinecke v.l. © Duisburger Filmwoche, Foto: Simon Bierwald
Rosa Hannah Ziegler, Willi Reinecke v.l. © Duisburger Filmwoche, Foto: Simon Bierwald