Film

Meine keine Familie
von Paul-Julien Robert
AT 2012 | 99 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 37
06.11.2013

Diskussion
Podium: Paul-Julien Robert
Moderation: Peter Ott
Protokoll: Lisa Rölleke

Synopse

Aktionsanalyse in der Muehl-Kommune am Friedrichshof. Aufgewachsen zwischen der Vergemeinschaftung von allem und jedem, taucht der Filmemacher in das Archiv vergessener Kindheitstage. Er findet Freunde, Filme. Affrontiert seine Mutter auf der Suche nach einem familiären Gerüst. 

Protokoll

Was bedeutet Familie? Obwohl Meine keine Familie kein Familienfilm ist, steht diese Frage im Raum. Wenn sich die Familie schon nicht als (Vater-Mutter-Kind-)Verwandtschaftsbeziehung beschreiben lässt, ist es dann ein Gefühl der Geborgenheit oder Sicherheit? In der AA Kommune Friedrichshof, die Anfang der 70er Jahre vom Wiener Aktionisten Otto Mühl gegründet wurde, wird die Kleinfamiliengesellschaft gegen die Aktionsanalytische Organisation (AAO) eingetauscht.

Für Paul-Julien Robert hat die Arbeit am Film mit der Recherche über den Selbstmord des juristischen Vaters begonnen. Er führte Gespräche mit nahestehenden Personen und leistete erste Archivarbeit. Für ihn sei der Film eine Form geworden, mit dem Erlebten umzugehen. Sehr früh habe Robert mit der Archivarbeit angefangen. Anfangs habe er das Material aus einer großen Distanz betrachtet, obwohl er eindeutig Bezüge zu seiner kindlichen Erinnerung herstellen konnte. Besonders die bedrückende Macht und ein Gefühl von Hierarchie seien ihm bekannt vorgekommen. Sehr distanziert formuliert er auch, dass diese Dokumentation einer Gesellschaftsform, in der alles öffentlich war, einen guten Blick auf die Entstehung von Gruppendynamiken gebe. Das zunächst romantische Bild von Freiheit und der damit verbundenen Ablösung von der Kleinfamiliengesellschaft kippte später in eine Richtung, die die Beteiligten erst im Nachhinein realisieren konnten oder wollten. Der Gehorsam habe sich erst entwickelt. Wie auch im Film angesprochen, entsteht die Macht nur in der Gruppe und nicht allein durch Otto Mühls Autorität. „Macht entsteht nur, wenn man sie gibt“.

Auffällig bei dem verwendeten Archivmaterial (neben Videos auch Broschüren und Fotografien) ist das Interesse an der Mimik. Als gestalterisch gelungen kann man diese Selbstdarstellungen beschreiben. Die Frage liegt nahe, wie sich dieses scheinbar hohe kulturelle Niveau bei den Mitgliedern der Kommune Friedrichshof erklären lässt. Die meisten seien künstlerisch interessiert gewesen und waren mit dem Wiener Aktionismus und Mühls Werk vertraut. Roberts Ansicht nach sei aber nur die Malerei als Kunst angesehen worden. Die Selbstdarstellungen, sowie Musik und Schauspiel galten als Handwerk oder selbst-therapeutisches Mittel, bei der die Kleinfamilie überwunden, emotionale Ekstase und die Körperanalyse geübt werden sollte.

Eine wichtige Strategie des Regisseurs sind Familienbilder, die Peter Ott mit Waffen vergleicht, die sich den Komplex und die Mythen um Familie und Kommune erschließen. Nach einem Familienfoto der Großmutter in schwarz-weiß erscheint in der nächsten Einstellung die Aufnahme der eigentlichen Familie, von der sich die Mutter in den 70 Jahren losriss, um in der Kommune zu leben und zu der erst später wieder Kontakt aufgenommen wurde. Hier schließt die Annäherung an das Thema der potentiellen Vaterfigur und damit auch die Beziehungsaufarbeitung mit der Mutter an. Eine Stimme aus dem Publikum beschreibt den Film als unangenehm privat und kritisiert die konsequente Darstellung der schwierigen Mutter-Sohn Beziehung. Dabei finde eine Bloßstellung der Mutter statt, beispielsweise wenn beide nichts mehr zu sagen haben. Von einem „selbst-therapeutischen Coming-out“ ist die Rede. Robert entgegnet, dass er durchaus versucht habe, einen professionellen Ansatz zu verfolgen, auch wenn eine objektive Annäherung an das Thema unmöglich schien. Für ihn sei Kunst machen immer mit „sich selbst ausstellen“ verbunden. Dennoch sei ihm klar, dass so emotionale Momente provoziert wurden, die bleiben.

Rückblickend kann auch von Gewinnern und Verlierern innerhalb der ehemaligen Kommune gesprochen werden. Einige konnten von den Grundstücken und dem Hof, sowie von den erarbeiteten Geldern profitieren, andere haben die Kommune ohne Besitz verlassen. Eingezogen seien die meisten mit wenig Geld. Nachdem einige Jahre später finanzielle Probleme das Weiterleben der Kommune gefährdeten, entschied man sich dazu, einige in Arbeitsverhältnissen in der Schweiz arbeiten zu lassen. Der Grund für die Auflösung der Kommune Friedrichshof im Jahr 1990 sei unter anderem der Wunsch nach eigener Geldverwaltung gewesen, so Robert.

Der Autor spielt mit der Sichtbarmachung von Hilflosigkeit auf verschiedenen Ebenen: einerseits bei dem Aufeinandertreffen mit der Familie des juristischen Vaters, bei dem seine Schwestern von einer Missbrauchserfahrung in der Kindheit berichten. Andererseits erzählt Luzifer, den wir im gezeigten Archivmaterial als einzig rebellischen Jungen erleben, von seinen Erfahrungen mit verschiedensten Bestrafungsmechanismen. „Wir mussten uns immer anpassen, ohne zu wissen an was.“ Dies beschreibe, so eine Publikumsstimme, ein Lebensgefühl, das seit den 90er Jahren immer wieder thematisiert worden ist. Auch ein aktueller Bezug zwischen den im Film gezeigten Selbstdarstellungen mit anschließenden Evaluierungen innerhalb der Kommune und den Unterhaltungsmechanismen von den allgegenwärtigen Casting-Shows könne laut Cristina Nord gezogen werden.

Robert konnte davon profitieren, dass bereits andere Filme über dieses Thema erschienen sind. Das sei ganz klar eine große Chance gewesen, da ihm eine uneingeschränkte Nutzung des bereits zusammengestellten Archivmaterials ermöglicht wurde. Trotzdem habe er sich nicht an diesen Filmen orientieren wollen. Die Entscheidung selbst vor die Kamera zu treten, sei erst später gefallen. Insgesamt sei vieles erst im fünfjährigen Arbeitsprozess entstanden, in dem fast zwei Jahre lang gedreht wurde. Robert habe das Rohmaterial an den Cutter weitergegeben und ihm einen Teil des kreativen Prozesses überlassen. Schwierig sei es im gefallen, vor der Kamera zu sprechen. Eine weitere zentrale Strategie des Films sind die von einem Sprecher eingelesenen Texte aus den AA Nachrichten, die Mühl verfasst hat. Wie die Stimme eines Über-Vaters legt sich dieser „vulgäre Sozialdarwinismus“ laut Ott sinnbildlich über bestimmte Handlungsstränge im Film. So sei es für Robert möglich gewesen, diese Ideologie zu transportieren, ohne dass er selbst agieren muss.

Interessant ist, dass der Film der Dramaturgie eines Road-Movies folgend in Berlin am Prenzlauer Berg beginnt und in Mitte aufhört. Dazwischen stehen zwei wichtige Wendepunkte: der erste ist der Tod des Vaters, der zweite, wenn Roberts Mutter auf Zoe, eine ebenfalls in der Kommune aufgewachsene junge Frau trifft und sie mit ihrem „Mutter-Sein“ konfrontiert; eine Erfahrung, die sie in der Kommune nicht gemacht hat und nun schmerzlich vermisst. Hier scheint bei ihr ein Erkenntnisprozess einzusetzen, den die Kamera mit einem Zoom-In auf das Gesicht widerspiegelt. Für Robert sei es schwierig gewesen, einen Balanceakt zu finden bei dem nicht das Zuweisen von Schuld, sondern die Formulierung der Vergangenheit im Mittelpunkt steht.

Trotz des betroffenen Gefühls, das Meine keine Familie aufgrund des passiven Motivs des „in die Welt gesetzt werden“ hinterlässt, zeigt der Film auch, dass man seine Geschichte und den Blick auf die Welt zu einem gewissen Grad selbst gestalten kann.

 Lisa Rölleke, Werner Ružička v.l. © Duisburger Filmwoche, Foto: Simon Bierwald
Lisa Rölleke, Werner Ružička v.l. © Duisburger Filmwoche, Foto: Simon Bierwald