Synopse
Sechs Etappen Paris-Dakar ohne Rallyestreifen. Dafür Begegnungen mit eindrucksvollen Wüstenlandschaften und ihren Bewohnern entlang der schier unendlichen Rennstrecke – von Marokko bis in den Senegal. Die Menschen erzählen von sich, ihrer Kultur und davon, wie diese Rallye ihr Leben verändert hat.
Protokoll
„7915 KM“ – der Titel des Films von Nikolaus Geyrhalter bezieht sich auf die Streckenlänge der Rallye Paris-Dakar. Der Film folgt den Spuren dieses Großereignisses des Motorsports, indem er auf dem afrikanischen Kontinent an verschiedenen Kilometerstationen der Strecke Halt macht: Der Weg führt von Marokko aus über Mauretanien, durch die Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS) und Mali bis in den Senegal. Dabei hat sich Geyrhalter für eine überraschende dramaturgische Ausrichtung entschieden, durch die der Film erst wirklich „Bedeutung gewinnt“ (Reiter). Ihm ist zwar eine Art Prolog vorangestellt, der in das vermeintliche Thema einführt – schnelle Tourenwagen, ohrenbetäubendes Aufheulen der Motoren und europäische Rennfahrer während einer Medienpräsentation der Rallye-Organisation. Doch schnell zeigt sich, dass diese einführende Sequenz lediglich als eine Art Folie oder Faden dient für das, worum es im Folgenden gehen wird. Von der Rallye künden im weiteren Verlauf des Films nur noch die zahlreichen Spuren im Wüstensand, auf Feldern und Straßen, die sich wie „Narben“ (Reiter) in die Landschaft gefressen haben. Und die Menschen, die manchmal davon erzählen, wie es war, als die Autos durch ihr Dorf kamen. Der eigentliche Fokus aber liegt auf diesen Menschen, denen Geyrhalter und sein Team auf ihrer Reise begegnet sind. Sie berichten von ihrem Leben, ihrer Arbeit, von Verwandten, die im Westen ihr Glück suchen und Geld in die Heimat schicken, von ihren Träumen und Wünschen.
Ursprünglich spielte die Rallye selbst eine größere Rolle, doch Geyrhalter wurde schnell klar, dass es ihm eigentlich um etwas anderes ging. Er wollte nicht erst Bilder zeigen und die Leute dann fragen, wie das, was man gerade gesehen hat, für sie gewesen sei. Das hätte irgendwie lächerlich wirken können, wie eine Dopplung. Und trotzdem sollte eine gewisse Linearität der Erzählung beibehalten werden, auch um zu vermeiden, dass die Begegnungen und Ausschnitte beliebig wirken. Die Konzentration auf einzelne Stationen der Rallye sei einem „Vertrag mit dem Zuschauer“ geschuldet. Obwohl es um viele verschiedene Dinge geht, verliert dieser nie die Orientierung. Ihm wird eine „regionale Topographie“ an die Hand gegeben, abgesehen von dieser hypergenauen Beschreibung ist der Film aber losgelöst von Daten oder Fakten und bietet Raum für Assoziationen, fasst Reiter dieses Konzept zusammen.
Während des Drehs und auch beim Schnitt sei diese Entscheidung manchmal schwierig umzusetzen gewesen, denn man habe stets die Balance halten müssen zwischen der Herstellung eines Bezuges und dem Sich-Loslösen von selbigem.
„7915 KM“ strukturiert sich Reiter zufolge über 3 Ebenen: die Landschaft, die Interviewsequenzen und jene, in denen Geyrhalter seine Protagonisten mit der Kamera begleitet. Die Streckenbilder sind dabei von einer beeindruckenden Weite und Schönheit und aus einer leicht erhöhten Perspektive aufgenommen. Diese müsste, so Geyrhalter, ungefähr der eines Fahrers der Rallye-LKWs entsprechen.
Gedreht wurde insgesamt 31⁄2-4 Monate lang, zunächst zwischen Januar und März, im September dann noch einmal ca. 3 Wochen im Senegal. Neben einer bunt gemischten Crew aus Österreich waren die line producer vor Ort und die Dolmetscher von großer Bedeutung.
Für den Regisseur war es außerdem wichtig, so transparent wie möglich aufzutreten und den Bewohnern auf Augenhöhe zu begegnen. Der Entschluss ein dezidiert „nicht-weißes Auftreten“ an den Tag zu legen (man campierte an Ort und Stelle, fuhr einen alten Jeep) scheint sich ausgezahlt zu haben: Geyrhalter zeigt sich immer noch beeindruckt von der unglaublichen Gastfreundschaft und spricht von einem „beschämenden Gefühl“, das sich seiner bemächtig habe. Er selbst ist meist nur als Kameramann wahrgenommen worden. Was die Interviews betrifft, so gab es im Vorfeld zwar Themenkataloge, doch haben die Dolmetscher der Einfachheit halber meist die gesamte Interviewführung übernommen. Das schaffte aber auch das nötige Vertrauen auf Seiten der Protagonisten. Auf die Nachfrage einer Diskutantin, wie sich das Geschlechterverhältnis beim Dreh niedergeschlagen habe, bestätigt Geyrhalter, dass die noch weitgehend vorherrschenden patriarchalen Gesellschaftsstrukturen natürlich nicht zu umgehen waren. Frauen als Interviewpartner zu gewinnen, war schwierig bis unmöglich und erst im Senegal weniger problematisch.
Dass die Rallye zwar in den Hintergrund tritt, aber wie ein metaphorischer Verweis über den Bildern schwebt, kristallisiert sich als übergeordnete Lesart des Films immer mehr heraus. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Europa und Afrika ist eigentliches Thema und Anliegen des Films. Die Rallye ist einem Diskutanten zufolge ein gewaltsamer zivilisatorischer Eingriff von Außen. Klar wird, dass es auch insgesamt um einen Eingriff mit und durch die Technik geht: Autos, Militärfahrzeuge, Bagger, Handy, Kinoapparatur usw. Der Filmemacher stellt aber fest, dass er das nicht als einseitige Kritik verstanden wissen will, sondern auch als das Zurechtrücken des weit verbreiteten Klischees, Afrika habe den technischen Fortschritt verschlafen.
Insgesamt ist für ihn klar, dass es in „7915 KM“ auch um die Nachwirkungen der Kolonialisierung geht. Das Verhältnis zwischen Europa und Afrika ist nach wie vor ein gewaltsames, ohne dass der Westen ein ernsthaftes Interesse an einer wirklichen interkontinentalen Partnerschaft erkennen ließe, weder auf wirtschaftlicher, politischer noch sozialer Ebene: „Es gibt keine win-win-Situationen.“ (Geyrhalter) Aus diesem Ungleichgewicht ergeben sich zahlreiche problematische Konsequenzen. Eine, die Europa direkt betrifft, mit der es aber nicht oder nur aggressiv umzugehen weiß, wird am Ende des Films thematisiert: die Kamera befindet sich im Inneren eines italienischen Aufklärungsflugzeugs. Mit Hilfe einer ausgefeilten Überwachungstechnologie, die es ermöglicht, Boots-Flüchtlinge bereits vor Dakar abzufangen – ein Verfahren, dass, so Geyrhalter, übrigens völkerrechtswidrig ist. Kamerabild und Überwachungsbild überlagern sich schließlich. Wieder die Überlegenheit der Technologie. Wieder der Blick von oben herab? (Andererseits rettet diese Überlegenheit Menschenleben, eine Tatsache, die einem der italienischen Offiziere als Rechtfertigung für dieses quasi-militärische, aggressive Vorgehen dient.)
In dieser letzten Einstellung erkennt Reiter eine Auseinandersetzung mit Blickperspektiven und Medienbildern, die in Verbindung mit dem Prolog eine dramaturgische Klammer setzen.
Nicht nur die vom Rennen ausgehende Nord-Süd-Achse galt es für den Regisseur zu beschreiben, auch die umgekehrte Richtung sollte angedeutet werden. Und so schließt sich mit den Flüchtlingsbooten zum Schluss eine Art Bewegungskreis. Nur dass die Bewegung nach Norden (bzw. in den Westen), die ja eine sozial und wirtschaftlich motivierte ist, um ein vielfaches dramatischer ist.
Damit steht diese filmische Begegnung mit dem schwarzen Kontinent doch wieder ganz im Zeichen des diesjährigen Filmwoche-Mottos „Erkenne die Lage“ – und dass die komplex ist, zeigt sich in „7915 KM“ einmal mehr.