Film

Weiße Raben – Alptraum Tschetschenien
von Johann Feindt, Tamara Trampe
DE 2005 | 92 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 29
04.11.2005

Diskussion
Podium: Johann Feindt
Moderation: Werner Ružička
Protokoll: Andrea Reiter

Synopse

Gibt es ein Erwachen aus dem Alptraum Krieg? Junge Soldaten und eine Krankenschwester, die sich freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet haben, kommen in ihre Heimat Russland zurück – wo sie sich nicht mehr zurechtfinden. Seelen und Körper sind versehrt. Die Opfer befinden sich auf beiden Seiten. Ein Tabu, das sich allein auf den Gesichtern spiegelt. Kein Erwachen aus dem Alptraum Tschetschenien.  

Protokoll

Prolog

Werner Ruzicka erreichte Johann Feindt vor einiger Zeit telefonisch, als dieser gerade in Beirut weilte, um dort den Film Weisse Raben an einem von Monika Borgmann und Lokman Slim organisierten Symposion vorzustellen. Die Veranstaltung umkreiste das Thema Gewalt in der zivilen Gesellschaft und den Umgang mit ihr. – In der gestrigen Diskussion zu Massaker wurde bereits ausgiebig über die Beschäftigung mit Tätern und die dokumentarische Nähe zu ihnen diskutiert. Dies soll heute in direktem Zusammenhang aufgegriffen werden. Und wie gestern schon die Unterstützung des Dokumentarfilms Massaker durch den Redakteur Werner Dütsch, begrüßt Werner Ruzicka heute lobend das Engagement der Redakteurin Anne Even für Weisse Raben.

Die Diskussion

Der Anlass der Filmemacher Johann Feindt und Tamara Trampe (sie konnte wegen anderwärtiger Verpflichtungen nicht zur DF kommen) war ein Caféhaus-Gespräch zu Tschetschenien, dass dieser Krieg nicht thematisiert werde, und die Frage, was sie zusammen machen könnten. Kurz darauf reisten die beiden nach Russland und begannen mit ihrer Recherche. Die Motivation, sich mit Krieg zu beschäftigen, hängt stark mit ihrem jeweiligen Hintergrund zusammen. Tamara Trampe stammt aus der Ukraine, sie kam 1949 nach Deutschland, ihr Vater gehörte der Roten Armee an. Johann Feindts Vater war Nazi. Beide mussten sich mit Vätern, die aus dem Krieg zurückkehren, auseinandersetzen – eine Gegebenheit, die ihre filmische Arbeit geprägt hat.

Die Filmstruktur ist äußerst komplex, die dramaturgische Gestaltung ist vielschichtig und bewegt sich in verschiedenen Zeitebenen. Sie entstand vor allem im Schnitt, als die Filmemacher versuchten, das vielfältige, 2001/02 und 2003 gedrehte Material zu montieren. Wichtig war ihnen, den Aspekt hervorzuheben und ihm gerecht zu werden, dass diese Soldaten nicht nur Täter, sondern durch das, was sie erlebt und getan haben, zugleich Opfer sind – auch ihre Vorgeschichte ist wichtig diesbezüglich. Das Verstörende, das von den Soldaten ausging, wollten sie für die Erzählstruktur nutzbar machen. Weil es ihnen um die Frage nach den Auswirkungen des Krieges für die Zivilgesellschaft ging, verzichteten sie darauf, in Tschetschenien zu drehen – denn dann hätten sie die Soldaten aus Russland in den Krieg ziehend und wieder heimkehrend dokumentieren müssen, was ihnen von russischer Seite her nie erlaubt worden wäre. So trafen sie die russischen Soldatenmütter, die man, wie Feindt bemerkt, als „ikonografisches Bild“ in unseren Medien kennengelernt hat.

Ruzicka betont das Eindrückliche des Changierens zwischen Opfer und Täter, das in den Blicken und Gesten eingefangen wird, und erwähnt Kirils angstvollen, flackernden Blick sowie die Anfangssequenz mit dem auf einen Lastwagen getriebenen Heckenschützen. In solchen Bildern wird die Ambiguität veranschaulicht.

Die Filmemacher nutzten die Fotos aus dem Tschetschenienkrieg, indem sie die Menschen in Russland damit konfrontierten, was Werner Ruzicka sehr gelungen findet. Dadurch kommt die Topografie Tschetscheniens über die Fotos in den Film. Was Johann Feindt an diesen Sequenzen hervorhebt, ist die Tatsache, dass alle, die sie mit den Bildern der gefangenen Tschetschenen konfrontierten, recht unbeeindruckt davon auszugehen schienen, dass das Geschehen auf den Bildern zum Tod führte.

Öffentlich wird der Tschetschenienkrieg in Russland nicht diskutiert, höchstens in propagandis-tischem Sinne. Das hängt für Feindt damit zusammen, dass in Russland das Militär und militärische Würdenträger immer einen sehr positiven Stand in der Gesellschaft hatten. Wenn Soldaten nun geschlagen und psychisch zerstört in ihre Heimat zurückkehren, werden sie heute eher wie Aussätzige behandelt. Deshalb findet keine klärende Debatte über diesen Krieg statt, der aus der Sicht vieler Russen nur geführt wird, weil Machthabende damit viel Geld verdienen.

Werner Ruzicka kommt auf die Problematik der Ikonografie zu sprechen, dass durch eingefügtes, fremdes Filmmaterial ein Moment von Wahrheit gesetzt wird. Er erwähnt die Tschetschenin, über deren Tod wir erfahren, uns dann aber am Ende des Films gesagt wird, dass es doch anders gewesen sein muss. Und so, wie in der gestrigen Diskussion zu Massaker die Frage nach der Wahrhaftigkeit diskutiert wurde, verweist Ruzicka diesbezüglich auf die vor Jahren geführte Diskussion zu von Harun Farocki verwendetem Archivmaterial in seinem Film Bilder der Welt und Inschrift des Krieges. – Ach diese Debatte, winkt Feindt ab, erläutert dann aber doch, dass durch diesen Erzählstrang eine filmische Auseinandersetzung mit dokumentarischer Wahrheit in den Film einfließen sollte.

Feindt spricht über die Dramaturgie des Films, die zugleich durch ihre langjährige Erfahrung filmischen Arbeitens, die ausgeprägte dramaturgische Fähigkeit Tamara Trampes sowie durch Intuition und Bauchgefühl entstanden sei. Ans Ende stellten sie nach langer Diskussion und einem Gefühl historischer Verantwortung das von einem Offizier aufgenommene Bildmaterial. Vier Jahre nach seinem Dienst, brachte er es, wohl aus schlechtem Gewissen, an die Öffentlichkeit. Und den Anfang, erwähnt Feindt, setzten sie etwa zwanzig Mal neu, bevor sie sich für jenen langsamen, nicht unbedingt Fernseh- tradierten, doch vom Publikum wohlwollend begrüßten Einstieg entschieden. Hätte Anne Even, die ansonsten sehr zufrieden über den Film spricht, dies frühzeitig erfahren, hätte sie sich diesen wohl noch einmal anders erbeten. Auch die Szene als Tamara Trampe Kiril intuitiv die Hand gibt, was im Publikum gar als übergriffig bezeichnet wird, hat ihre Rechtfertigung – sie manifestiert eine Ambivalenz im Umgang mit dem Soldaten, der erneut zum Täter geworden ist. In Feindts Antworten auf die zahlreichen Nachfragen zur Montage wird deren ausgesprochene Reflektiertheit ersichtlich.

Bezüglich der starken Emotionalisierung der Zuschauer durch diesen Film wird gefragt, welche analytische Aussage denn – über die sorgfältig erarbeitete Darstellung der Einkehr des Krieges in die Zivilgesellschaft – im Rückblick auf den Film mitzunehmen sei, wenn man durch die dargestellten Grausamkeiten so fix und fertig aus dem Film entlassen werde. Feindt antwortet, dass Weisse Raben über die Thematik des „der Krieg ist grausam“ hinausgeht. Es sind hinreichend analytische Aspekte zu erkennen. Die beschriebene Problematik lasse sich z. B. auf die heutige Situation in den USA beziehen. Ihm scheint der Film gerade nicht zu emotional, sondern eher kühl und distanziert, erzeugt durch ruhige Kadragen oder lange Einstellungen.

Didi Danquart stellt Weisse Raben in die Tradition großer US-Antikriegsfilme, die die Verrohung zeigten, nicht aber bei Einzelschicksalen verhaftet blieben. In seiner Vielschichtigkeit besitze der Film die Kraft, jene von dokumentarischen, wie fiktionalen, amerikanischen Filmen angeregte Debatte fortzuführen, dass Krieg auch mit seinem offiziellen Ende niemals beendet sei.

Epilog

Der Produzent bemerkt abschließend mit, laut Ruzicka, mildem Optimismus, dass solche Filme bestimmt auch weiterhin entstehen würden. Ihm und seinen Mitarbeitern macht die Arbeit vor allem deshalb so viel Spaß, weil sie immer wieder solch wichtige Einzelprojekte realisieren. Solche Dokumentarfilme sind das Elexier der Arbeit eines Produzenten.