Film

Die Spielwütigen
von Andres Veiel
DE 2003 | 108 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 28
11.11.2004

Diskussion
Podium: Andres Veiel, Constanze Becker (Protagonistin)
Moderation: Margarete Fuchs, Fred Truniger
Protokoll: Natalie Lettenewitsch

Synopse

Vier junge Menschen treibt dieselbe Sehnsucht – die Schauspielerei. Der Weg der Ausbildung konterkariert schnell und hart verklärte Blicke: Kein Platz für Selbstzweifel, Selbstfindung bedeutet Selbstaufgabe, Funktionieren ist Gesetz. Am Ende die Abschlussprüfung: Fleischbeschau, die Intendanten kaufen nur Begabungen. Werden alle dabei sein?

Protokoll

Andres Veiel war bisher mit jedem seiner Filme in Duisburg (darunter auch Drei von Tausend, Vorläufer zu Die Spielwütigen) und wird entsprechend von Margarethe Fuchs als „alter Hase“ vorgestellt; zum vertrauten Umgang miteinander scheinen auch latente oder offene Reibereien zu gehören, die sich allerdings im Vergleich zum letzten Mal in Grenzen halten – vielleicht des weniger politischen Themas wegen. Diesmal sitzt, seltener Anblick auf einem Dokumentarfilmfestival, eine Schauspielerin mit auf dem Podium: Constanze Becker, eine der vier Protagonisten.

Margarethe Fuchs greift eingangs das Filmende auf, für das Veiel rückblickend früheres Material aus der Langzeitbeobachtung verwendet hat, und fragt nach Veränderungen während der insgesamt siebenjährigen Produktionsdauer. Das Projekt wurde für die Arbeit an Black Box BRD unterbrochen, der unter völlig anderen Bedingungen entstand. Den Look von Die Spielwütigen hat Veiel zwangsläufig „schmutziger und rauher“ angelegt, da man in der Schauspielschule ständig in diffuse Lichtsituationen stolperte. Eine zusätzliche Schwierigkeit bestand darin, den Stil der verschiedenen Kameramänner in den einzelnen Drehphasen zusammenbringen. Als psychologische Veränderung beschreibt er, dass sein Wunsch, in Situationen einzugreifen, im Laufe der Jahre immer größer wurde. Er betrachtete sich nicht nur als Dokumentarist, sondern auch als Mentor und „großer Bruder“ seiner Protagonisten. Zugleich jedoch wurden sie ihm ebenbürtiger bzw. konnten sich besser von ihm abgrenzen.

Übergriffe

Constanze Becker benennt die Problematik etwas drastischer. Zunächst habe sie das Projekt nicht so sehr als etwas begriffen, das sie in die Öffentlichkeit bringen werde; im Vordergrund stand damals, dass sich überhaupt jemand für sie und ihren Wunsch, Schauspielerin zu werden, interessiere. Im späteren Drehverlauf habe sie private Aspekte immer weiter zurückgenommen. „Mein Film ist nicht dein Film.“ Von Veiels Seite gab es „Manipulationsversuche“. Der Tanz zu Trommelrhythmen beispielsweise hatte zwar vorher so stattgefunden, wurde für den Dreh aber nachgestellt, was sich schal angefühlt habe. Sie habe Widerwillen gespürt, ihr Leben bzw. ihren Alltag im Hinblick auf Filmtauglichkeit neu bewertet zu sehen. Zuletzt wählt sie die zugespitzte Formulierung, manches sei „an der Grenze zur Vergewaltigung“ gewesen.

Veiel verwahrt sich natürlich gegen den Vergewaltigungsvorwurf, spricht aber zugleich fast kokett von „heftigen Auseinandersetzungen“ während des Drehs, die er in seiner „Besessenheit“ produziert habe. Die erste Konfliktsituation stand gleich am Anfang, eine Art Belastungstest: Von 200 Schauspielschulbewerbern wählte er 20 aus, unter der Bedingung, dass sie sich bei einem „Vorsprechen“ vor ihren Eltern filmen lassen – damit wollte er ein schnelles, intensives Kennenlernen ermöglichen und ohne simples Nachfragen etwas über die familiären Beziehungen herausfinden. Den meisten Einfluss hat er auf Stefanie genommen, mit der er z.B. vor der Aufnahmeprüfung an ihren Rollen arbeitete oder sich nach einer Knieverletzung, die fast zum Abbruch der Ausbildung führte, um sie kümmerte und auf einen Neubeginn drängte. Als manipulierte Szene benennt er das Vorstellungsgespräch seines einzigen männlichen Protagonisten in der Agentur: Er wusste bereits, dass Prodomos angenommen sei, bat die Agentinnen aber, ihn im Unklaren zulassen und einer Wartesituation auszusetzen. Er habe seine Nervosität produktiv machen wollen – aber nur, weil er sich zugleich seiner Belastbarkeit sicher gewesen sei. Grundsätzlich habe er allen Beteiligten bei begründeten Einwänden gegen einzelne Aufnahmen ein Veto-Recht im Rohschnitt- Stadium eingeräumt.

Materialschlacht

Margarethe Fuchs fragt nach der dramaturgischen Entwicklung. Veiel nennt als Strukturmoment die Punkte, an denen persönliche Veränderungen sichtbar werden. Nach zwei Jahren gab es einen Rohschnitt von jedem Protagonisten. Der achtmonatige Schnitt der Endfassung sei ein „harter Kampf“ gewesen – der Film wirkte zunächst additiv, Teile ließen sich nicht zusammenfügen. Von manchen Szenen dachte er, sie müssten unbedingt untergebracht werden, später sei er davon abgekommen: Dieselben Aspekte hätten sich oft in anderen Szenen subtiler erzählt. Das „Vertrauen in das Material“ sei gewachsen.

Fred Truninger will noch mal einen Schritt vor dem Schnitt ansetzen: Veiel müsse doch vorher schon eine Idee gehabt haben, wo er hin wolle. Der Regisseur verneint: Er habe ja nicht gewusst, was mit den Personen im Laufe des Drehs passieren werde – anders als bei Black Box BRD, wo es um bereits abgeschlossene Biografien ging.

Selbstinszenierung

Peter Ott will Näheres über die „interessante Koinzidenz“ wissen, dass es sich hier bei den langzeitbeobachteten Protagonisten eines Dokumentarfilms um Schauspieler handele, was nun eben anders funktioniere als z.B. mit Stahlarbeitern. Wenn Veiel einerseits doch auf der Suche nach so etwas wie dem „wahren Leben“ sei, habe er das mit zusehends professioneller werdenden Schauspielern nicht als besonders schwierig empfunden? Und Constanze Becker fragt er dazu, ob sie Die Spielwütigen als einen Film mit ihr in einer Hauptrolle sehe, der also von ihrem schauspielerischen Können zeugt. Veiel verwendet in seiner Antwort bemerkenswerterweise Vokabeln, die tatsächlich mehr mit Spielfilm oder eben Theater zu tun haben als mit dokumentarischem Arbeiten: Er habe sich oft „bedient“ gefühlt und wollte daher nicht immer das „erstbeste Angebot“ akzeptieren. Constanze Becker sah den Film anfangs als ein Forum, ihre schauspielerische Arbeit zu präsentieren, gerade das aber habe Veiel weniger interessiert. Inzwischen habe sie immer mehr Distanzbedürfnis bzw. Probleme, an diesem Film gemessen zu werden und wolle sich damit nicht als Schauspielerin verkaufen.

Brigitte Werneburg fragt, wie sich die Dreharbeiten auf die Schauspielschule ausgewirkt hätten – hat es Unruhe gestiftet, dass einzelne Studierende des Jahrgangs für den Film selektiert wurden? Von den ursprünglich ausgewählten 20 hatten neun die Prüfung bestanden, davon wiederum wählte Veiel drei aus und zusätzlich Stefanie, die zunächst nicht bestanden hatte. Die Übriggebliebenen hätten den Film „torpediert“, zusammen mit einigen Dozenten, denen das Projekt ebenfalls suspekt war. Constanze Becker schildert, sie sei doppelt angefeindet worden, da sie sowohl besonders erfolgreich an der Schule als auch am Film beteiligt war. Speziell die ostdeutschen Studenten hätten anfangs die Vorstellung gehabt, man arbeite die ganze Schauspielschulzeit über als Kollektiv und ende dann auf dem gleichen Stand. Auch Veiel diagnostiziert einen Ost-West-Konflikt; man hätte ihm als Regisseur einen „West- Blick“ vorgeworfen. Den habe er überbrücken wollen, indem er z.B. seine früheren Filme in der Schule vorführte, was allerdings auf wenig Interesse bzw. Gegenliebe gestoßen sei.

Dramaturgie und Emotion

Margarethe Fuchs will zurück zum Film und seiner „ökonomischen Dramaturgie“ – ein latenter Vorwurf, den sie schon vorher subtil einzubringen versucht hat. „Jetzt ist der Veiel in Amerika angekommen“, hieß es in der Kommission bei der Szene mit Prodomos in New York. Veiel entgegnet, er habe das „erzählenswerte Material“, von dem etwa doppelt soviel vorhanden war, eben in eine stringente Form bringen wollen. Versuche komplexer formaler Zugänge hätten nicht funktioniert, das Material sei inhaltlich komplex genug und habe quasi von selbst zur „einfachsten Lösung“ gedrängt. Bezüglich der Gesamtlänge des Films war er zwar frei, sei aber trotzdem bei einer moderaten Länge gelandet – nicht aus ökonomischen Gründen, sondern da er keine Redundanzen wollte, d.h. keine „Verschwendung von Lebenszeit“ durch die Erzählung von Dingen, die man auch so bereits verstanden habe.

Fred Truniger spricht die emotionalisierende Kameraführung an, die vielen Close-Ups, die den Protagonisten sehr nahe rücken, ungewöhnlich gerade in den Probesituationen. Veiel weiß wohl, dass damit der Vorwurf von Fernsehkonvention verbunden ist – er habe aber immer die Arbeit für die Leinwand im Kopf gehabt und sich zugleich bewusst für die Naheinstellungen entschieden. Teils hat er das Drehen mit Festoptiken vorgegeben. Constanze Becker schildert, sie habe sich nach anfänglichen Schwierigkeiten daran gewöhnt und die Kamera sei in den Proben sogar zum „Partner“ geworden. Was das Drehen in anderen Situationen angehe, habe sie gestört, dass sie während der Aufnahmen immer schon habe reflektieren müssen, statt dass die Kamera einfach nur dabei war, um etwas „einzufangen“. Brigitte Werneburg sieht gerade insofern die Close-Ups als filmische Leistung und auch als Leistung der Protagonisten, die eben nicht nur beobachtet wurden, sondern sich einbringen mussten.

Kunst und Leben

Ein Zuschauer fragt nach dem Verhältnis von Lebenszeit und Kunstprodukt. Sei es für Constanze Becker nicht eine Enttäuschung gewesen, was im Film von ihrem Leben „übriggeblieben“ sei? Becker verneint – sie habe ja gar nicht gewollt, dass „alles von ihr“ in dem Film auftauche. Den Vergewaltigungsvorwurf habe sie entsprechend auch nicht im Sinne von „Verfälschung“ gemeint.

Ein anderer Zuschauer sieht den Film als spannende Reflexion darüber, was schauspielerische Kraft ausmache, die häufig mit Lebensenergie in Verbindung gebracht wird. Die Schauspielschule erscheine dabei als eine Art „Reifungsmaschine“. Sieht Veiel einen Zusammenhang zwischen den Personen als starke filmische (d.h. biografische) Figuren und als gute Schauspieler? Veiel empfindet das z.B. in Bezug auf Stefanie nicht so – sie sei definitiv eine starke Protagonistin, werde es aber schauspielerisch trotzdem schwer haben.

Material und Fiktion

Zum Ende hin möchte Regisseurin Bettina Braun wissen, wie sich die Finanzierung des Films gestaltete. In der ersten Phase, die noch auf insgesamt drei bis vier Jahre angelegt war, relativ leicht – schwieriger war die Anschlussfinanzierung, die dann aber durch den Erfolg von Black Box BRD begünstigt wurde. Gedreht wurden insgesamt 250 Stunden auf Digi-Beta.

Margarethe Fuchs fragt abschließend: Hat Veiel, zumal nun neben Theaterarbeiten auch ein Spielfilmdrehbuch in Vorbereitung sei, mit seinem Schauspielerfilm die Grenze des Dokumentarischen erreicht bzw. ausgereizt? Der Angesprochene verneint deutlich – er wolle nicht endgültig zum fiktionalen Erzählen „überwechseln“, sondern entscheide sich immer wieder neu. Bei jedem Stoff stelle sich für ihn die Frage: „Wie komme ich am weitesten?“

Ein prägnantes Schlusswort, aber Fred Truniger schiebt noch die eigentlich „vorletzte Frage“ nach: Was wird die geplante DVD enthalten? Veiel beabsichtigt, evtl. die fünfstündige Rohfassung zu veröffentlichen – ohne „Auspolieren“, aber dafür mit Audiokommentar.