Protokoll
Die Diskussion zu Pelym, einem Film, der überraschenderweise alles andere macht als altbewährte Klischees über Lagerfilme zu bestätigen, war ein gut besucht. Zwar möchte man nach dem nahezu zwei Stunden anhaltenden Bilderrausch viel lieber mit einem Glas Wodka in der Hand in den Abendhimmel starren, statt die stille Atmosphäre dieses eindringlichen Dokumentarfilms durch Reden zu brechen, aber schließlich bot die Diskussion die Möglichkeiten, einiges mehr über die Umstände des Projektes zu erfahren.
Werner Schweizer führte in das Gespräch mit den Kommentaren aus der Sichtungskommision ein, die u.a. die impressionistischen Bilder und das eindrucksvolle Reden der Protagonisten lobend erwähnten, während aber ein vermeintlich repetitiver Charakter des szenischen Aufbaus, z.T. auch als strukturlos empfunden wurde. Gerade diese Kritik wollte Schweizer nach einem zweiten Sehen für sich wieder zurücknehmen. Er sah nun deutliche Strukturelemente, die die lange Strecke des Filmes gliedern: die vier melancholischen Lieder des Häftlings, die zwei Zugfahrten, die Szenen auf dem Fluß, mit Ankunft und Abfahrt des Schiffes. Am Ende des Filmes sehe er die Luftaufnahmen, die den Ort im Akt des sich Entfernens überblicken lassen und gleichzeitig zeigen, daß es noch genügend Holz für mindestens 400 weitere Jahre Zwangsarbeit gibt.
Wie aber kommt man als Nicht-Verurteilter in ein Zwangsarbeitslager auf Pelym?
Sergej Vasiljev, auf dessen auffallende Position im Abspann Werner Schweizer hinwies, war die Spur zum Projekt. Klamt, Regisseur und Produzent, hatte Anfang der 90er Jahre in einem Artikel einer holländischen Kulturzeitschrift Vasiljevs Fotografien des sibierischen Lagers entdeckt. Über die Fotografien entstand die Idee zum filmischen Projekt. Klamt kam in Kontakt mit Vasiljev, der durch sein diplomatisches Geschick den Film zu großen Teilen überhaupt erst möglich machte. Vor vier Jahren dann unternahm Klamt, auf Einladung von Freunden, seine erste Fahrt an den Rand des nördlichen Urals, ohne noch zu wissen ‚worauf er sich da einläßt‘.
Nach mehreren vorbereitenden Fahrten nach Pelym fand die eigentliche Dreharbeit in dem kurzen Zeitraum von je zwei Wochen, im Sommer und im Winter statt.
Das Projekt wurde von der Generalität des Innenministeriums in Moskau genehmigt, so Rydzewski, „obwohl die sicher nicht wußten was wir vorhatten“. Denn für die offiziellen Stellen bezog sich das Thema des Filmes, etwas geschönt, alleine auf Formen von Subkultur in Strafgefangenenlagern: Handwerk, Lieder und Tätowierungen. Das war dann schließlich ja auch zu sehen, nur eben nicht in Form eines analytisch volkskundlichen Specials, sondern eingebunden in seinen Kontext des Lagerlebens und der Lebensphilosophie der Häftlinge. Die Absicht eine dem Regime gegenüber brisant politische Kritik zu drehen, gab es aber dennoch nicht, so Rydzewski – das ist die befreiend andere Perspektive des Filmes: Es ging den beiden Autoren um den ganz ‚gewöhnlichen‘ Alltag in den Lagern. Zwar ist ein Strafgefangenenlager nicht eben ein banales Objekt, dafür definieren sich aber die Bilder innerhalb des Films gänzlich jenseits der Begierde nach dem spektakulär Dramatischen. So mögen die ruhigen, fast stillebenhaften Bilder aus einem Gefangenenlager zwar erstaunen und manchen aus dem Publikum zu ungebrochen erscheinen, sie sind aber deswegen nicht weniger wahr als ihr Gegenteil – was behauptet wurde.
Die Haltung der Filmemacher übertrug sich scheinbar auf ihr Gegenüber, denn trotz der diffizilen Situation vor Ort, im komplexen System zwischen latent mißtrauischen Beamten und dem verdeckten Gruppenkodex der Häftlinge, wie man erfuhr, fiel dem Publikum die unter diesen Umständen unglaubliche Entspanntheit der Zwangsarbeiter vor der Kamera auf: in den Szenen im Waschraum, abends in ihren Unterkünften, in den Pausen ihrer Waldarbeit. Selbst die beiden Regisseure „fanden es erstaunlich, wie gelassen die Menschen auf die Kamera reagiert haben.“ „Es war sehr schnell klar, auch wenn wir mit der Kamera kamen, auf welcher Seite wir standen, daß wir aus freien Stücken gekommen waren. Die Häftlinge haben gespürt, daß wir uns sehr viel Zeit genommen haben und sehr offen waren.“ Fast das ganze Team war russisch und auch die beiden Regisseure verstanden die Sprache, das beantwortete wohl Schweizers irritierte Frage, ob es keine Blockaden gab, wenn man doch wußte, daß die Filmer aus Deutschland kamen.
Bei den imposanten Landschaftsbildern, so mußte der Eindruck entstehen, wußte man nicht so recht, wie mit der eindrucksvollen Masse umgehen. Ruzicka erkannte darin „die Perfidie des Inhaftiert-seins in einem Gefängnis ohne Mauern“ und transzendierte dies zur Metapher für das Leben an sich.
Und, dem ähnlich, merkte ein weiterer Zuhörer an, der Film berge für ihn die These eines „elyptischen Raumes“, einer elegisch mythisch in sich geschlossenen Situation.
Wiederholt wurde versucht, die vermeintliche Ambivalenz zwische Landschaft und Mensch, zwischen Idyll und tragicher Existenz, als eine Diskrepanz des Filmes nachzuweisen. Es ging auch um die Forderung nach einem dramatischen Menschenbild, nach einem Ausdruck von Gewalt. Fragen zur Hierarchie unter den Häftlingen kämen zu kurz. Doch Klamt sah all das in dem langen Interview mit einem „Wor“, einem Häftling, der in der Gruppe zur ‚Oberschicht‘ gehört, angedeutet. Und nicht, daß die beiden Filmemacher vor Ort nicht auch darüberhinaus danach gesucht hätten, sie hätten es, auch „einfach nicht kriegen können“. Im Nachhinein sind sie ganz glücklich damit.
Werner Ruzicka, stattdessen, folgte, „auf den Spuren von Frau Schapira“, dem Hinweis auf den homoerotischen Aspekt und sprach von den „aufgeladenen Körpern“, die vor allem die intimen Szenen im Waschraum zeigen: Die mit Tätowierungen übersähten und bedeutungtragenden Körperlandschaften als starkes Gegenbild der äußeren Landschaft. Doch über die Tattoos war von ihren Trägern nur wenig zu erfahren. Sie bezeichneten zu Existentielles, waren zu tiefgreifende Codes, so Klamt, als daß die Häftlinge darüber hätten sprechen wollen. Nur so wenig: es gab eine Stelle, an der ein Freund zu Grabe getragen wurde, und dem entspricht eine Tätowierung, die sagt, „Ich habe meinen besten Freund verloren“.
Es folgten Ansätze zu einer Diskussion der Tradition des Lagerfilmes, zu der Pelym in deutlicher Opposition steht.
Anmerkungen auch zum auffallenden Rhythmus des Filmes, der sich der langsamen und gleichförmigen Existenz seiner Darsteller angleicht und Erfahrung von Zeit vermittelt. Ruzicka empfand die Montagetechnik zu heterogen, und seine Kritik galt scheinbar auch den „kitschigen Bildern“. Daraus folgt die Frage, wie man denn den eigenen Stil im Lauf der Arbeit gefunden habe. Ein weiterer Zuhörer bemerkte das auffallende Motiv der Rhythmisierung, der dem Lebenstakt der Menschen entspreche. Im Aufgreifen deren langsamer und gleichförmiger Existenz in der analogen Struktur des Filmes, nähme man die Zwangsgemeinschaft als gegeben hin. Und so sah sahen es wohl auch die Autoren, denn, so Rydzewski, während die, auch als erste gedrehte Szene noch weit ruheloser aus unterschiedlichen Orten und Handlungen zusammensetzt ist, gelangt der Film im folgenden zu seiner langsamen Form als einem eben angemessenen Rythmus.
Pelym – ein langer eindringlicher Film und auch die Diskussion war dementsprechend intensiv – sicher nicht erschöpfend.
Um hier aber zu enden, ein letzter angeführter Gedanke über „die Schönheit der Bilder“: Ruzicka fragte sich, mit Hinweis auf Robert Buchstätters jüngstes Buch zum Ästhetischen im Film, ob bei den Bildern, die Pelym sehen läßt, nicht der Gedanke entsteht, daß die Menschen zur Strafe in die Natur zurückgeschickt würden, aber diese Natur erscheine paradoxerweise wie ein Paradies. Auch für die Regisseure selbst, so Rydzewski, sei es immer wieder eine wesentliche Frage während ihrer Arbeit an dem Projekt gewesen, „wie schön Bilder eigentlich sein dürfen.“ Für sich kommen sie zu dem Urteil, die „Schönheit“ auch zu zeigen: „Wir haben uns entschlossen, an die Grenzen zu gehen.“
Eine umso mutigere Entscheidung, wenn das in einem Film über ein sibirisches Strafgefangenenlager geschieht.