Ein Bild, das sich wiederholt: Zwei Schatten auf dem Weg, zwei Frauen, die nebeneinander hergehen. Man erkennt nicht, wer sie sind. Eine von ihnen hält die Kamera, aber welche, bleibt unklar. Die beiden Frauen spazieren ohne Ziel. Ein Bild, gesehen in zwei Filmen.
In „Mâna care taie“ von Alexandra Tatar legt sich die Stimme der Regisseurin über dieses Bild: „We had a secret plan to spend time together. Our desire only possible through work. Even the neighbour’s cat was joining our chatting and walking above the village with its rhythm still glued on to the past.“ In ihrem Film schmieden zwei Frauen den Plan zusammen zu sein, im Schatten zu verschmelzen. Sie wandern umher im Dunkel der Nacht. Die Schatten gehören Tatar selbst und ihrer Mutter, sie arbeiten im Umland von Wien als Erntehelferinnen beim Weinbau, um während der Pandemie beisammen zu sein. Die eine wohnt in Wien, die andere in Rumänien, hier kommen sie zueinander, finden Raum für sich in den Momenten, in denen sie nicht arbeiten. Ein ähnliches Bild findet Ji Su Kang-Gatto in ihrem „Vlog #8998 | Korean Karottenkuchen & Our Makeup Routine“. Hier sind es die Regisseurin und ihre Schwester, deren Schatten nebeneinander herlaufen. Die beiden begeben sich auf eine Reise durch Deutschland und Südkorea, den beiden Ländern, in denen sie aufgewachsen sind, und besuchen die Orte ihrer Kindheit.
Die Protagonistinnen der Filme befinden sich auf einer Reise. Das Bild des Schattens ist ein indirektes Abbild, mehr noch, es ist ein Symbolbild ihres Zusammenkommens, ihrer Gemeinschaft. Verwischt sind die Grenzen zwischen ihnen, die Identifizierung der Einzelnen nebensächlich.
Gemeinschaft unter Frauen – Beispiele davon finden sich auch in den Beschreibungen von Commons oder Allmenden im mittelalterlichen Europa. Diese berichten von Dörfern und Gemeinden, die gemeinsam Wälder und Seen bewirtschaften. Nicht nur Orte der Arbeit, wo Profit das Tempo vorgibt, sondern Orte, wo man Selbstorganisation und Nachhaltigkeit übt, sich versammelt, auch um zu feiern. Welchen Einfluss die Commons vor allem auf die Leben der Frauen hatten, beschreibt Silvia Federici in „Caliban und die Hexe“. Sicher kein paradiesischer Garten Eden, aber sie betont, dass vor allem auf den ländlichen Gebieten Allmenden besonders für Frauen unabdingbar waren. Stets wurde in ihren Räumen Wissen um Heilkunst, Reproduktion und Geburt gelebt und gelernt, eine Art der Wissensreproduktion und -weitergabe, die von der Gemeinschaft geformt wird. Im Zuge der Hexenverfolgung und mit dem Einzug des Kapitalismus der Frühen Neuzeit verschwinden diese Gemeinschaften allmählich zu großen Teilen aus Europa. Weibliche Räume, so Federici, werden verengt und zersplittert, abgewertet und bedroht. Kann man sich den Spuren dieses Wissens annähern, einer Wissensform, die außerhalb von kapitalistischer Verwertbarkeit liegt, und die dessen Gewaltstrukturen nicht in sich aufnimmt? Kehren wir nochmal zurück zum Bild des Schattens. Dieses steht auch für eine Haltung, die sich in den Filmen wiederholt: nicht die Körper selbst sind zu sehen, sondern ihr ephemeres Nebenprodukt. Die Aufmerksamkeit gilt nicht der Handlung der Protagonistinnen, sondern dem, was in ihrer Peripherie passiert.
Anfangs fährt die Kamera in „Mâna care taie“ im Zug entlang vernebelter Landschaften. Einige Einstellungen später sieht man die Regisseurin und ihre Mutter in ihrer Unterkunft auf dem Bett eine Suppe essen. Den Großteil des Bildes nimmt eine weiße Wand ein, nur im unteren Drittel sieht man die Frauen. Sie reden vom Einkauf, vom Geld, scherzen, die Mutter cremt sich ihr Gesicht ein.
Es sind keine Bilder der Erntearbeit oder von Erwerbsarbeit. Sie essen und rasten, sie produzieren nicht, die Bilder produzieren nicht. Der Fokus ist verschoben. Im Off hört man die Mutter, wie sie sich am Telefon über die unwürdigen Arbeitsbedingungen beschwert. Ihre Worte vermitteln einen Eindruck kapitalistischer Ausbeutung, aber nicht, indem sie Fakten sammeln und verbinden. Sondern indem sie von den alltäglichen Momenten erzählen, die in der Peripherie landen, die für die Produktion nebensächlich sind, die aber den Alltag maßgeblich durchtränken. Die eigentliche, konkrete Erntearbeit ist fast nie zu sehen. Im Zentrum des Blicks sind die Frauen, sitzend auf einem Doppelbett, nicht bei der Arbeit.
Zurück im Studio der Regisseurin sieht man nur ihre Hände bei der Arbeit. Analoge Fotos, auf denen die Weinberge zu sehen sind, taucht sie in Wein, sie reibt und wischt mit ihren Händen an ihnen, verbiegt und verdreht sie, will sie zerschneiden. Der Wein klebt an den Fotos, an der Schere und an Tatars Händen. Am Körper der Regisseurin haften auch die Erinnerungen der Bewegungen wie der süßliche Saft der Trauben. Ihre Hände, die Muskeln, erinnern sich an das repetitive Schneiden der Reben. Die endlos aneinandergereihten Weinreben bestimmen aber nun nicht mehr den Takt der Schere. Und es sind nicht die Bilder der Frauen auf den Bergen, die die Härte der Arbeit bezeugen, sondern Tatars Hände erzählen von der Gewalt anhand der Fotos. Sie verzerren die Bilder der Landschaft, sie schneiden ins Leere. Im Wein verlieren die Fotos immer mehr an Schärfe, verblassen im trüben Saft und durch die Handlungen der Regisseurin werden die Bilder der Weinberge selbst in die Peripherie verschoben.
Verzerrt und unscharf ist auch die Einstellung, in der Ji Hoe auf einer Schaukel sitzt, mit einer Digitalkamera in der Hand. Das Bild schaukelt in Slow Motion, ist extrem verpixelt, die Schwestern schaukeln vermutlich gemeinsam und filmen sich gegenseitig. Im Voiceover erzählt Kang-Gatto vom Aufwachsen in Deutschland als asiatisch gelesene Person, berichtet auch von Diskriminierungserfahrung. Beweise oder Dokumente davon aus ihrer Kindheit selbst existieren nicht, aber gäbe es sie, erzählten sie wohl von der Gewalt an den alltäglichen Orten, denn die Erinnerungen kommen auf Spielplätzen, Schulhöfen und auf der Straße wieder. Kang-Gatto filmt die Straßen, ihren Alltag, verpixelt und langsam. Statt Bilder zu finden, welche die traumatischen Ereignisse ihrer Kindheit bebildern, sucht die Kamera nach dem Gehweg, der Schaukel, zoom nah ran an die Schauplätze ihrer Kindheit, an denen die Erzählungen der gewaltvollen Erinnerungen nachklingen.
Es wird nicht ganz klar, weshalb die Schwestern die Reise antreten oder wohin sie führt. Die ältere Ji Su Kang-Gatto ist länger in Deutschland aufgewachsen und die jüngere Ji Hoe länger in Südkorea. Sie treffen sich einmal in Deutschland und einmal in Seoul. Gemeinsam suchen sie diese Orte ihrer Kindheit auf, sind ebenso während ihrer alltäglichen Aktivitäten zu sehen: Beim Dösen im Bett, beim Eisessen vorm Fernseher, bei der Makeup-Routine, und bei einem Stück Karottenkuchen. Diese Bilder dokumentieren das Leben wie die Fotos aus dem Familienalbum der Regisseurin, aus dem Moment heraus, spontan. Je länger sie reisen, desto stärker tritt der gemeinsame Alltag in den Vordergrund und das Filmemachen wird zu einer Möglichkeit, zusammen zu sein und die Momente ihrer Kindheit aufleben zu lassen.
Bis etwas Unerwartetes passiert: Als die beiden Schwestern in Deutschland sind, greift ein fremder Mann die filmende Ji Hoe an. Er schlägt sie von hinten und rennt an ihr vorbei. Vermutlich eine rassistisch und sexistisch motivierte Tat am helllichten Tag. Nur noch in der Ferne können sie ihn mit der Kamera festhalten, der Täter ist bereits verschwunden. Der abrupte Gewaltakt wirft sie aus der Behutsamkeit der Suchbewegung. Was bleibt, sind die erstarrten und angespannten Körper der beiden Frauen, die sich nebeneinander vor die Kamera, die jetzt erstmals auf einem Stativ steht, setzen. Sie sind in Stillstand, sie filmen nicht, sie lassen sich filmen. Keine spielerischen Elemente mehr, keine diffusen Bilder, sie sitzen frontal, zentral, nebeneinander. Einerseits eine passive Gegenanordnung zu dem Bild der Frauen, die ihre Erinnerungen zuvor aktiv durchschritten haben, ein Gegenbild der Schatten zweier Frauen, die sich gemeinsam bewegen. Andererseits sind hier beide das Zentrum des Bildes: Durch die Platzierung der Kamera auf dem Stativ und indem sie sich direkt davor positionieren, rücken sie sich selbst von der Peripherie ins Sichtfeld.
Beide Filme ordnen Peripherie und Zentrum des Blickes neu an, sortieren Ausbeutung und Diskriminierung zur Seite und setzen die Gemeinschaft von Frauen ins Zentrum. Anhand dieser Gegenanordnung, indem sie nicht auf Bilder der unmittelbaren Gewalt zurückgreifen, bleibt das Wissen am Alltäglichen und Körperlichen haften, lebt an den Orten der Erinnerungen fort.
Kang-Gatto und Tatar suchen in ihren Filmen in der Peripherie, in den sich immer wiederholenden Ereignissen des Alltags, versuchen diese flüchtigen Momente zu vergrößern, zu verlangsamen, um sie besser zu erkennen. Sie verzerren die Bilder, bearbeiten sie, verschieben den Fokus. In den Schatten der Zweisamkeit bilden sich Formen ab, die über die Grenzen des einzelnen Körpers hinausgehen und sich in einer Gemeinschaft wiederfinden, die an Federicis Beschreibungen der historischen Allmenden anknüpft. Die Formen der Wissensproduktion und -vermittlung, welche in und durch Gemeinschaft entstehen, lassen sich nicht vollends rekonstruieren, aber in den beschriebenen Formen wird der Möglichkeitsraum, der mit ihnen verloren ging, wieder greifbarer. So wie der Schatten der gehenden Frauen in seiner Uneindeutigkeit eine Offenheit birgt, fordern die Filme auf, Grenzen und Gemeinschaft neu zu denken.
Eh-Jae Kim ist Filmwissenschaftlerin und Filmkritikerin. Sie arbeitet im Zeughauskino des Deutschen Historischen Museums in Berlin und ist bei verschiedenen Filmfestivals tätig.