Kaspar Aebi

Distanzmontage: Beobachten, wie es anders sein könnte

„The main achievement of observational cinema was that it has once again taught the camera how to watch“, schreibt der Ethnologe und Dokumentarfilmemacher David MacDougall in einem Text mit dem Titel Beyond Observational Cinema.1 Statt von einem vorgefertigten Skript auszugehen, ergibt sich die Struktur des Films erst nachträglich aus dem, was die Kamera beobachtet hat. Sogenannte ‚beobachtende Dokumentarfilme‘ können also im Idealfall eine Schule des genauen Hinsehens sein, die den Blick öffnet für Unvorhergesehenes, Zufälligkeiten, Neues und neu gesehenes Altbekanntes. Oder wie es die Filmemacherin Josie Rücker in der Diskussion zu ihrem Film „Wilhelm der Schäfer“ formuliert: „Es ist alles interessant, man muss es nur lange genug beobachten. Und das beginnt mit der ersten Einstellung.“

Dabei sind „beobachtende Dokumentarfilme“ selbstverständlich nicht „complete, unmediated documents” oder „ideologically transparent“, wie auch MacDougall betont, sondern immer hergestellt, in Form gebracht durch Auslassungen und Eingrenzungen. Insofern lässt sich die Filmografie von Frederick Wiseman – Wiseman gilt als eine der Koryphäen des „beobachtenden Dokumentarfilms“ – als latent politisch verstehen. Deutlich zeigt sich das an „City Hall“ (2020), einem Film über die Stadtverwaltung von Boston, entstanden während der Regierungszeit von Donald Trump. „City Hall“ zeigt die Stadt als politische Institution, beobachtet das Zusammenspiel unterschiedlichster Akteur*innen innerhalb der Stadtgesellschaft und folgt dem damaligen Bürgermeister Marty Walsh durch Meetings und Auftritte. Boston erscheint dabei als Gegengewicht zur Politik der Regierung Trump: Die Stadt ist – wie auch viele andere US-amerikanische Städte – eine Sanctuary City. Damit bezeichnen sich Städte, die ihre Möglichkeiten als Kommune nutzen, um durch eine „don’t ask, don’t tell“-Politik insbesondere Migrant*innen einen Schutz gegenüber der U.S. Immigration and Customs Enforcement, kurz ICE, zu bieten. Das heißt, dass die kommunale Verwaltung, die sozialen Dienste und die Polizei den Aufenthaltsstatus einer Person bewusst nicht abfragen und, falls sie ihn trotzdem zufällig erfahren, nicht an die Bundesbehörden weiterleiten, um Migrant*innen vor einer Internierung oder Ausschaffung zu schützen.

City Hall von Frederick Wiseman

Das Beobachten als dokumentarische Methode wird in einem solchen Kontext unweigerlich zu einer politischen Frage: Was wird beobachtet, was wird ausgelassen, und vor allem, welche Haltung steckt im Beobachten als ästhetische Praxis? Die Betonung auf die Einstellung, die Josie Rücker im Zitat oben stark macht, lässt sich mit der Filmwissenschaftlerin Gertrud Koch2 auch doppeldeutig lesen: Die Kameraeinstellung, durch die die Welt beobachtet wird, transportiert immer auch eine ethische und vielleicht sogar politische Einstellung. Gerade vor dem Hintergrund der Regierung Trump erscheint das geduldige, ergebnisoffene Beobachten als eine ästhetische Haltung, die einer Politik der Manipulation, des Vorurteils und der propagandistischen Verkürzung entgegensteht. „City Hall“ steht also nicht nur im Inhalt gegen die Politik der Regierung Trump, sondern auch in der Form: Wiseman verfolgt hier, wie auch in den meisten seiner Filme, eine aufgeschlossene, empathische Haltung der Beobachtung, die multiperspektivisch funktioniert und unterschiedliche gesellschaftliche Akteur*innen anhört. Deshalb lässt sich die ästhetische Methode des „beobachtenden Dokumentarfilms“ als grundlegend demokratisch verstehen: Die weit ausgreifende, doch trotzdem aufmerksame und konzentrierte Ästhetik der Beobachtung betont eine gleichberechtigte Verteilung der Handlungsfähigkeit unterschiedlicher Personen und Gruppen.

Für die Vielen – Die Arbeiterkammer Wien von Constantin Wulff

Auch Constantin Wulff betont in der Diskussion zu seinem Film „Für die Vielen“ über die Arbeiterkammer Wien: „Im Moment des Drehens interessiert mich eine gewisse Form des Nichtpräfigurierten.“ Es ist deshalb vielleicht kein Zufall, dass Constantin Wulff im Abspann Frederick Wiseman dankt und damit eine Verbundenheit zum Werk des einflussreichen Dokumentaristen ausdrückt: „Bevor ich einen Film veröffentliche, schicke ich ihn ihm immer“, gibt Wulff Auskunft. Auch wenn die Arbeitsweise von Wulff nicht genau der von Wiseman entspricht („im Gegensatz zu seinem Vorbild hat er für „Für die Vielen“ fast ein Jahr recherchiert“, meint das Diskussionsprotokoll), lässt sich „Für die Vielen“ ethisch und politisch in dieser Tradition des „beobachtenden Dokumentarfilms“ sehen. Versteht man Wiseman als politischen Filmemacher, der sich wiederholt der politeia, also dem Gemeinwesen der Stadt, widmet – so steckt auch bei „Für die Vielen“ der politische Anspruch bereits im Titel: Wulffs Film porträtiert mit der Arbeiterkammer eine Institution, die als eine der zentralen Errungenschaften der Arbeiter*innenbewegung in Österreich gilt. Die Arbeiterkammer stellt eine gesetzliche Vertretung „für die Vielen“ in arbeitsrechtlichen Fragen und bietet Beratungen sowie Rechtsschutz in Streitfällen an. Nicht bezahlte Löhne, Kündigungen während der Elternzeit, körperliche Schäden durch die Arbeitsbelastung – die Bandbreite ist groß.

„Für die Vielen“ zeigt eine Institution, die Bürger*innen zur Handlungsfähigkeit ermächtigt. Das Gezeigte steht damit in Gegensatz zur Arbeitsmarktpolitik der Regierung von Sebastian Kurz, die eine Abschaffung der Notstandshilfe, eine Flexibilisierung der Arbeitszeit und die Ausweitung der Maximalarbeitszeit auf einen Zwölf-Stunden-Tag, sowie die Kürzung der Sozialhilfe für Migrant*innen anstrebte. In einem Artikel der österreichischen Tageszeitung Der Standard wird die politische Intention von Wulff explizit: „Wulffs eigener Impetus für den Film wurzelte aber noch konkreter in einem Unbehagen über die politische Gegenwart. (…) Während der Kurz-Strache-Regierung war er nicht der Einzige, dem der Eindruck einer systematischen Delegitimierung von demokratischen Institutionen übel aufgestoßen ist.“ Wulff wird in diesem Artikel zitiert: „Mir fiel dabei auf, dass die öffentliche Kritik an dieser Politik mehr aus der Zivilgesellschaft kam – und nicht so sehr aus den Reihen der Opposition.“3

City Hall von Frederick Wiseman

Trotz der Nähe des Zugangs gibt es einen zentralen Unterschied im ästhetischen Ansatz zwischen den beiden Filmen: „Für die Vielen“ zentralisiert das Geschehen auf einen einzigen Ort, das Gebäude der Arbeiterkammer Wien, „City Hall“ hingegen funktioniert räumlich dezentraler und löst so das Versprechen auf eine unabgeschlossene Mehrstimmigkeit der Akteur*innen – trotz der Fokussierung auf den Bürgermeister Marty Walsh – radikaler ein als „Für die Vielen“. Diese „Form des Nichtpräfigurierten”, die Wulff anstrebt und Wiseman zusätzlich durch eine räumliche Dezentralisierung untermauert, erlaubt es den Personen vor der Kamera, sich zu äußern. Indem Wiseman und Wulff ihren Protagonist*innen zuhören und sie für sich selber sprechen lassen, geben sie ihnen die Möglichkeit, sich selber in den Film einzuschreiben. Beobachten bedeutet hier vor allem: zuhören.

In genau dieser Betonung der Unabgeschlossenheit von Prozessen liegt deshalb vielleicht die ethische und politische Stärke des Beobachtens als dokumentarische Methode: „The observational method always implied contingency and provisional status of its findings”, schreibt David MacDougall.“4 Es ist vielleicht gerade diese Betonung der Unabgeschlossenheit des Beobachteten, die den politischen Raum öffnet für neue Stimmen. Nun ist es an uns zuzuhören.

Kaspar Aebi ist ein Kurator, Autor, Film- und Medienwissenschaftler mit einem Hintergrund in Sozialwissenschaften und Europäischer Ethnologie. Seine Hauptinteressen sind Popkultur, Stadtforschung und Architektur, Ästhetiken des Neoliberalismus, feministische Theorie und Dokumentarfilm.

1 MacDougall, David: Beyond Observational Cinema. In: Transcultural Cinema. Princeton University Press 1998.

2 Koch, Gertrud: Die Einstellung ist die Einstellung. Visuelle Konstruktionen des Judentums. Frankfurt am Main 1992.

3 https://www.derstandard.de/story/2000139264438/haus-mit-dem-direkten-draht-arbeiterkammer-doku-fuer-die-vielen

4 MacDougall, David: Beyond Observational Cinema. In: Transcultural Cinema. Princeton University Press 1998.