Film

Für die Vielen – Die Arbeiterkammer Wien
von Constantin Wulff
AT 2022 | 120 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 46
10.11.2022

Diskussion
Podium: Constantin Wulff
Moderation: Mischa Hedinger
Protokoll: Noemi Ehrat

Synopse

Gekündigt per Textnachricht, ein vergiftetes Pensionsangebot, kein Lohn: Die Arbeiterkammer berät Menschen in Jobfragen. In Gesprächen wird Gerechtigkeit verhandelt. In internen Strategietreffen werden neue Sprechweisen und Zielgruppen diskutiert. Ausgerechnet im Jubiläumsjahr stellt die Corona-Krise gewohnte Abläufe und Wahrheiten in Frage. Wie sind Onlinetermine und Homeworking vereinbar mit einer Institution, die auf Begegnung und Solidarität aufgebaut ist?

Protokoll

Vor dem Screening sagt Constantin Wulff zu seinem neuesten Film „Für die Vielen“, dass es ein Eintauchen in Wien sei. Dies darf im weitesten Sinn verstanden werden, da es vielmehr ein Eintauchen in eine spezifische Wiener Institution ist, die eng mit der Geschichte der Stadt und dem Selbstverständnis Österreichs verbunden ist, wie der Regisseur später erklärt. Genauer gesagt ist es der Raum der Arbeitskammer Wien, sowohl im übertragenen wie im wörtlichen Sinn, um den es hier geht.

Natürlich sind Räume bei Wulff wichtig. In seinen Institutionsfilmen wirken sie nicht nur als Protagonisten, sondern auch als Rahmen: innerhalb ihrer Wände kann alles oder nichts geschehen. Doch ist da auch immer der Fokus auf die Menschen. In „Für die Vielen“ ist der Raum/Protagonist die Arbeiterkammer Wien, die darin agierenden Menschen sind folglich die Arbeitenden – die Angestellten der Arbeiterkammer wie auch die Arbeitnehmenden, die sich beraten lassen.

Im kaleidoskopischen Wechselspiel werden etwa Gesichter, Gänge, Putzfachkräfte bei der Arbeit und Sitzungszimmer gezeigt. In Anspielung auf Letzteres nennt Moderator Mischa Hedinger den Film einen „Sitzungsfilm“, denn der Film verbringt nicht nur viel Zeit in Besprechungen, hier geschieht auch oft die Action, wenn man so will. Klagen gegen nicht-zahlende Arbeitgeber werden vorbereitet, verzweifelte Arbeitnehmende beraten und gar PR-Kampagnen zum 100-Jahr-Jubiläum geplant (#Gerechtigkeit).

Hedinger will wissen, wie Wulff beim Dreh vorgegangen sei und fragt nach der im Abspann enthaltenen Danksagung an US-Filmemacher Frederick Wiseman, einer Koryphäe des Institutionsfilms. „Mit Wiseman stehe ich im freundschaftlichen Austausch. Bevor ich einen Film veröffentliche, schicke ich ihn ihm immer“, sagt Wulff. Genau gleich wie Wiseman arbeitet Wulff aber nicht. Im Gegensatz zu seinem Vorbild hat er für „Für die Vielen“ fast ein Jahr recherchiert.

Weiter geht Wulff szenenweise vor. „Ich und mein Cutter Dieter Pichler versuchen jeweils herauszufinden, was der Kern einer Szene ist, um sie zu verdichten.“ Dann bauen sie die Szenen aneinander, der Film wächst. Hedinger fragt nach, inwiefern die Pandemie den Schnitt beeinflusst habe. Die Pandemie habe ihn anfangs „überhaupt nicht interessiert“, so Wulff. „Es ist aber toll, dass sie gegen meinen Widerstand ins Material gekommen ist“. Es ist die logische Konsequenz des beobachtenden Kinos, dass nicht antizipierte Ereignisse den Film verändern und in eine neue Richtung lenken können.

Die Pandemie teilt den Film nicht nur in zwei Hälften, wie Hedinger anmerkt, sie beeinflusst eben auch stark den Charakter des Films. „In Institutionsfilmen ist man nicht an Chronologie gebunden, deswegen hat es mich gestört, dass der Film nun in vor und nach dem Lockdown geteilt ist“, führt Wulff aus. Wie er später anmerkt, mag er aber diese Überforderung durch die Wirklichkeit „unglaublich gern“. „Im Moment des Drehens interessiert mich eine gewisse Form des Nichtpräfigurierten“. Im Sinne des Direct Cinemas hält Wulff an reiner Beobachtung fest. „Das Einzige, was man abmacht, ist, ob man drehen kann“, erklärt er. Während des Drehs selbst gebe es keine Interventionen, Wiederholungen oder Anweisungen. „Dadurch werden Szenen ambivalent oder unkontrollierbar“.

Doch die Pandemie hat dem Film auch inhaltlich viel geschenkt. Wie Hedinger anmerkt, haben die Aufnahmen der plötzlich leeren Räume und der verhinderten menschlichen Interaktionen zugleich deren Wichtigkeit unterstrichen. Eine Szene, in der Angestellte ihre Tablets mit Mittagessen aus der Kantine in ihre Büros tragen, um allein zu essen, erinnert fast schon an die Bildsprache des schwedischen Filmemachers Roy Andersson und dessen teils triste, aber auch humorvolle Darstellung des Alltags der Arbeiterklasse und der Menschlichkeit. Und: die Pandemie hat die Arbeit nachhaltig verändert und somit auch die Arbeit der Arbeiterkammer. Gegen Ende des Films werden Ausschnitte eines Prozesses gezeigt, in dem die Pandemie und die dadurch veränderten Arbeitsbedingungen explizit zusammenkommen, nämlich rund um den Fall der Hygiene Austria GmbH, die beschuldigt wird, Schwarzarbeit betrieben und chinesische Hygienemasken mit „made in Austria“ versehen zu haben.

„Ich wurde von Leuten innerhalb der Institution darauf hingewiesen, dass immer mehr Menschen zur Arbeiterkammer kommen, die von Hygiene Austria nicht ausbezahlt werden“, erklärt Wulff die Hintergründe der Szenen. Der Film sei nun daraufhin konstruiert, da diese Szene so viel darüber aussage, was die Pandemie angerichtet habe. „Da fallen rassistische und sozialpolitische Elemente zusammen.“ Deswegen sei die Szene so wichtig für den Film und an dessen Schluss gesetzt worden.

Das Publikum interessiert sich vor allem für die Machart des Films als beobachtendes Kino und was diese spezifische Form des Dokumentarischen für die konkrete Umsetzung bedeutet. Eine Person fragt, wie die namentliche Erwähnung von Firmen, bei denen etwa von Sozialbetrug die Rede ist, datenschutz- oder strafrechtlich aussehe. „Erstens haben wir dies mit der Arbeiterkammer abgeklärt“, antwortet Wulff. Sie hätten die Institution gefragt, ob es in ihrem Sinne sei, diese Unternehmen zu nennen. Dies sei klar der Fall, weil dies auch einen präventiven Aspekt habe. Zudem hätten sie dies auch juristisch abgeklärt. Da die entsprechenden Firmen in den Szenen nicht verurteilt werden, sondern ein Arbeitnehmer seine Erfahrungen schildert, gehe das.

Auch haben alle Menschen, die im Film vorkommen, eine Einverständigungserklärung unterzeichnet. „Wir fragen alle Menschen, bevor wir drehen“, sagt Wulff. Es sei wichtig, eine Verbindung zu den Personen herzustellen und ihnen auch den Film zu erklären. Diese Transparenz im filmischen Schaffen äussert sich auch in der Handhabung der Kamera. „Wir sind immer sehr präsent im Raum, weil es mir wichtig ist, dass die Kamera physisch zu spüren ist“, so Wulff. Die Kamera sei dadurch das Gegenteil einer unsichtbaren oder gar einer Überwachungskamera.

Auch die Frage nach der kritischen Distanz kommt auf. Wie kann man sich als Filmschaffende:r distanzieren, wenn man so viel dreht und in eine Institution eintaucht? „Man fängt erst an zu drehen, wenn man einen Vertrag hat, der festhält, dass die Institution kein Mitspracherecht hat“, sagt Wulff. Zudem werde die kritische Distanz wesentlich im Schnitt geschaffen. In diesem Schritt würde das Material stark analysiert und es sei wichtig, „kalt“ damit umzugehen, um diese notwendige Distanz erschaffen zu können.

Die Rezeption sei bisher übrigens positiv ausgefallen, sowohl in Deutschland wie in Österreich. „Mir war nicht klar, dass die Leute so positiv aus dem Film herauskommen werden“, sagt Wulff. Es sei ihm auch nicht bewusst gewesen, dass der Film lustig sei – auch im hiesigen Kinosaal hatten einige Szenen für Lacher gesorgt. Doch für ihn sei klar: „Der Film gehört dem Publikum“. Er möge diese Überraschungen.

Eine Szene wird dann aber doch kritischer hinterfragt. Der Film endet mit einer Serie von Bildern der Stadt – kleine Häuser, Glasfasseden, grosse Firmen. Das Publikum will den Schluss erklärt haben, wieso sieht man keine Menschen mehr, wieso wird eine fast leere Stadt gezeigt? „Der Impuls war, dass ich den Film nochmals in die Stadt zurückgeben wollte, wo die Arbeiterkammer lokalisiert ist“, antwortet Wulff. Er fände nicht, dass die Stadt leer erscheine. „Das ist aber keine Erklärung“, fügt er an.

Auch Moderator Hedinger klinkt sich ein und findet, er sei sich nicht sicher, ob er dies die bestmögliche Szene fände. „Ich kann gar nicht anders als lesen, was für Gebäude gezeigt werden und ob dies die Frage nach unsichtbarer Arbeit aufwerfen soll“. „Schön, was du alles erzählst, Mischa“, ist Wulffs Reaktion darauf. Es gefalle ihm, dass die Szenen die Wirkung hätten, dass das Publikum etwas über sich erzähle.

Mit „Für die Vielen“ setzt Wulff also einer weiteren Institution ein Denkmal, und zwar um Einiges geschickter, als es die Arbeiterkammer selbst in ihrem im Film gezeigten Imagefilm versucht hat. Dabei ist klar, dass es ein Film über Wien und vielleicht ebenso für Wien ist. Aber eben nicht nur – es ist auch ein Film reich an Informationen für die Vielen, die einen Bezug zur Arbeit haben, ob als Gewerkschafter:innen, Arbeitnehmende oder Arbeitgeber:innen.