Synopse
Nach dem Verschwinden der DDR drehte Andreas Goldstein auf der Trabrennbahn in Ost-Berlin. Von den Tribünenbänken blättert der Lack ab, ein Pferd in einer Führanlage. „Was suchte ich hier – das letzte Bild meines Landes?“ Goldstein konfrontiert seine eigenen Erinnerungen mit Archivaufnahmen des Ost- und Westfernsehens: Honecker angetrunken auf der Leipziger Messe, Demonstrationszüge, Grenzöffnung. Leerstellen bleiben. Widersprüche entfalten sich. Eine Inventur des Erinnerns, die Fragen aufwirft.
Protokoll
Wie von Moderator Patrick Holzapfel eingangs angekündigt, lässt sich das Gespräch bequem anhand der verschiedenen Aspekte des Films auffächern, die gemeinsam betrachtet und schlussendlich in der Frage des Gesamtbildes erörtert werden. Die Archivaufnahmen, die Schwarz-Weiß-Fotografien des Filmemachers, das 16mm-Material von der Trabrennbahn, die Aufnahmen aus der Gegenwart und der Text: MEIN LAND WILL NICHT VERSCHWINDEN sucht und findet darin verschiedene Ansätze, um sich „der Geschichte als umkämpftem Gebiet“ anzunähern.
Der Voiceover-Text ist auf unterschiedliche Art und Weise entstanden, so gab es Textpassagen, die bereits vor dem Filmprojekt existierten und vom Filmemacher übernommen wurden (beispielsweise Ausschnitte aus einem Revolver-Text), andere Abschnitte entwickelten sich erst bei der Arbeit. Es sei eine „luxuriöse Art zu arbeiten“, wenn man am Schneidetisch immer wieder den Text verändern könne. Die Arbeit zwischen Filmemacher Andreas Goldstein und Editor Chris Wright sei im tendenziellen Überangebot von Sätzen ein Austarieren mit der Wasserwaage gewesen, ein Herausfinden, wo ein Gedanke hinführe. Der Text springt in den Zeitebenen und chargiert zwischen Ich und Wir, dadurch sollen Sprünge erzeugt werden, weil laut Goldstein „die Sache erlösche“, wenn man alles „sauber mache“.
Die Aufnahmen der Trabrennbahn findet Holzapfel unglaublich und möchte erfahren, zu welchem Zeitpunkt sie in den Film gekommen sind. Der Filmemacher erzählt, dass es sich bei dem Material um seine erste Übung an der Filmhochschule handelt. Er wollte immer schon mal was daraus machen und bei dem Projekt habe es sich jetzt angeboten. Die Melancholie die Holzapfel im Material spürt, war laut Goldstein im Ort selbst angelegt. Im Gespräch über die Recherche des Archivmaterials aus Ost- und Westfernsehen wird analog dazu, wie der Film Transformationsprozesse erzählt, auch klar, wie sich wiederum die Arbeitsprozesse des Filmemachens im Laufe der Zeit verändert haben: Während Goldstein bei DER FUNKTIONÄR noch ins Archiv gefahren ist und vor Ort den Bestand durchsucht hat, ließ sich die Recherche jetzt einfach bequem von Zuhause im digitalen Raum der Archivdatenbank durchführen. Der Rechercheprozess habe erstmal etwas Überforderndes, weil es so viel Material gäbe – darunter auch ungesendetes Rohmaterial der Aktuellen Kamera. Teile dieses „irrsinnigen Schatzes“ kannte der Filmemacher bereits aus der Recherche zu seinem vorherigen Film und vom Fernsehschauen damals. Abgesehen davon sei er punktuell vorgegangen und habe „Zufallsfunde“ entdeckt, die sich um bestimmte Themen rankten. Die Bilder aus der Gegenwart wollte Goldstein nachts drehen, um einen Abstand herzustellen und nicht von zu vielen Farben überfordert zu werden. Der Film sollte über das Wasser erzählt werden, deshalb habe er Flüsse in Berlin gefilmt, die man sonst nicht wahrnimmt. Auch der Ort seines Aufwachsens war ein Fixpunkt. An Orte „wo mal was war, man jetzt aber nichts mehr sieht“ sei er bewusst nicht gegangen.
Zur Frage der Gesamtorganisation des Materials meldet sich Editor Chris Wright zu Wort. Er beschreibt einen „unheimlich langen Schnittprozess“ von 120 Tagen, ein sich Herantasten, in dem es nicht darum ging, Bilder zum Text finden, sondern sie versucht haben, den Elementen Leben einzuhauchen. Die Schwarz-Weiß-Fotografien des Filmemachers waren am Anfang nicht vorgesehen und kamen aus dem Bedürfnis nach etwas Privatem in die Montage. Goldstein sollte darin als Körper und Mensch hinter der Kamera spürbar werden. Wofür die Trabrennbahn in der Gesamtheit des Films steht, ist für Wright nicht klar – obwohl „vielleicht ist das die DDR und die Pferde sind die Menschen“ – ein Schmunzeln geht durch den Saal. Im Umgang mit den Fotos musste der Editor auch einen „akustischen Raum basteln“ und durch die Aneinanderreihung der Bilder eine Bewegung konstruieren. Goldstein ergänzt, der Schnittprozess starte immer ohne Idee für den fertigen Film, es ginge darum, auch wenn das Sujet schon klar ist, durch die Arbeit am Material das Thema freizulegen. Wright fügt einen Gedanken von Thomas Heise an: Man generiere irgendwann in seinem Leben Material und dann komme der Moment, wenn der Film für das Material komme.
Holzapfel stellt eine zweiteilige Frage zum Ton: Einerseits im Sinne der Stimme des Filmemachers im Voiceover und seiner körperlichen Präsenz darin. Andererseits, wie erstaunlich er es findet, dass der Film über seine Dauer hinweg einen Ton beibehält. Obgleich der großen politischen Ereignisse nehme er keine Veränderung in Tonfall und Rhythmus wahr. Goldstein konstatiert, dass der Ton seine Perspektive sei und es darum ging, sowohl das bereits Vergangene als auch die Gegenwart als Vergangenheit zu erzählen. „Wo ist dein Witz geblieben?“ habe er häufiger gehört, er würde jedoch nicht sagen, dass der Film melancholisch sei, der Tonfall habe etwas mit dem verhandelten Gegenstand zu tun. Der Moderator wirft ein, die eigene Perspektive Goldsteins werde sowohl durch seine Stimme als auch durch das Ich im Text sehr verstärkt. „Formalismus interessiert mich überhaupt nicht“ erwidert der Filmemacher und bekundet sein Desinteresse an einem Film nur aus Archivmaterial. Sein Interesse sei es gewesen, „die Dinge zusammenzubringen“ im Sinne eines Ausspruchs von Brecht wolle er „die Kontraste einander verwandt machen“. Es solle auch kein „privater Film“ sein, deswegen sei die persönliche Ebene schon abstrahiert und kondensiert. Auch Wright schaltet sich ein und bemerkt, hätte der Film nur einen Tonfall, dann hätte er seine Aufgabe im Schnitt schlecht gemacht. Er spricht von seinem Bedürfnis gegen die medial bekannten, lauten, grellen Bilder der historischen Ereignisse zu arbeiten. Eine Herangehensweise um „die Bilder runterzukochen“ war es, ihnen den Originalton zu nehmen und sie stattdessen beispielsweise mit Wellengeräuschen zu unterlegen. Für ihn sind nicht die großen, medial zirkulierenden Bilder das Ereignis, das Ereignis ist woanders: bei der jungen Frau am Brezelstand oder auf der Trabrennbahn.
In Gedanken bei der „umkämpften Zone der Geschichtsschreibung“ möchte eine Person aus dem Publikum wissen, was den Ausschlag gegeben hat, die Geschichte jetzt zu erzählen und inwiefern der Filmemacher über eine eigene Form der Geschichtsschreibung nachgedacht hat. Diesen eigenen Blick musste Goldstein nicht suchen, weil er in seiner Erinnerung bereits vorhanden war, da er seine Empfindungen nicht damit zusammenbringen kann, wie die Geschichte des 4. November sonst erzählt wird. Der konkrete Anlass für MEIN LAND WILL NICHT VERSCHWINDEN war ein Gespräch mit dem Redakteur Udo Brehmer. Goldstein wollte etwas über die 35 Jahre seit der Wende produzieren, ohne dabei aus der Vergangenheit eine Erklärung für die Gegenwart zu machen. Es ging ihm explizit um den Transformationsprozess nach der Wende und einen Gegenentwurf zu Filmen über die DDR, die oft einer gradlinigen Dramaturgie folgen, die mit dem Mauerfall endet und die Zeit danach nicht thematisiert.
Für eine Person aus dem Publikum entstehen durch das Schauen des Films aus der gegenwärtigen Perspektive immer wieder Zusammenstöße zwischen dem Archivmaterial und den Gedanken heute. Wright freut sich über ihre Seherfahrung, weil es in der Geschichtsschreibung des Films Platz für „die kleinen Leute“ und ihre Leben geben sollte. Sie wollten bei den Archivmaterial-O-Tönen tiefer und weiter schauen und sie nicht nur als Beweise einsetzen, wie die Aussagen der Arbeiter:innen im DDR-Fernsehen benutzt wurden. Sie suchten Momente, in denen das Leben aufscheint und einen Dialog mit dem Jetzt aufmacht. Der Filmemacher betont, sich im Prozess bewusst aus „dem Handgemenge der Gegenwart“ zurückgezogen zu haben, um nicht in eine wütende, polemische Haltung zu verfallen und das Thema durch eine Engführung kleiner zu machen. Außerdem hält er das Archivmaterial ebenso wie seine Vorredner:innen für hochaktuell.
Zuletzt scheint noch einmal Thomas Heise im Gespräch auf, der auch im Film bei der Rede von Heiner Müller zu sehen ist. Wright erwähnt die Überschneidungen der Protagonist:innen im Material der beiden Filmemacher und dass die größte Lektion von Heise die Zeitform des Films sei: Auch wenn es sich um Material aus einer vergangenen Zeit handele, sei alles immer gegenwärtig. Holzapfel schließt mit einem Zitat von Joseph Roth: „Man sieht die Dinge erst, wenn sie verschwinden.“ Und mit dem Ende des letzten regulären Filmgesprächs dieser Festivaledition wird auch die 49. Duisburger Filmwoche selbst Geschichte. Es wird sich zeigen, ob der ein oder andere Teil ihrer Geschichtsschreibung – seien es die Protokolle oder der Jugend-ohne-Film-Podcast – im Nachhinein noch zu umkämpften oder zumindest durch Gegenerzählungen konterkariertem Gebiet wird.