Film

El Mundo Al Revés
von Agostina Di Luciano, Leon Schwitter
AR/CH 2025 | 77 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 49
04.11.2025

Diskussion
Podium: Leon Schwitter, Agostina Di Luciano
Moderation: Ute Adamczewski
Protokoll: Eva Kirsch

Synopse

Auf einer abgelegenen Farm wird ein Bauer plötzlich von einem inneren Leuchten erfüllt. Es formt sich zu einer Kugel und entschwindet in die blaue Nacht. Zwei Haushälterinnen entdecken die übersinnlichen Kräfte einer Wand. Mit Beschwörungsformeln versuchen sie, sich das Anwesen anzueignen. Im argentinischen Hinterland ist das Magische kein Märchen, sondern Alltag. In Szenerien des Spirituellen verschwinden Klassenunterschiede und verlieren gängige Vorstellungen von Wirklichkeit ihre Bedeutung.

Protokoll

Es ist der dritte Film des Sabotage Kollektivs, der hier in Duisburg gezeigt wird. Vorausgegangen sind FÜÜR BRÄNNT (2023) und BRUNAUPARK (2024) – beides Filme, deren Besprechung auf der Filmwoche sich um das Verhältnis zwischen Inszeniertem und Aufgefundenem, Fiktionalem und Dokumentarischem und um den Austausch mit den Protagonist:innen drehte. So nun auch bei EL MUNDO AL REVÉS, der uns mitnimmt zu (realen) Protagonist:innen, in ein (reales) argentinisches Dorf wo (reale und fiktionalisierte) Mythen durch filmische Mittel Wirklichkeit werden, woraus sich eine (fiktive) Geschichte entspinnt.

Nachdem Ute Adamczewski und Leon Schwitter die Übersetzung des Titels (DIE WELT AUF DEM KOPF) geklärt haben, setzt die Moderatorin bei den letzten Momenten des Films an: Historisch anmutende Radierungen, auf denen Lichtkugeln wie im Film zu sehen sind und dazu ein Lied, in dem jemand sein Pferd verloren hat. Das alles sei so passgenau, dass die Moderatorin sich fragt, ob diese Materialen Inspiration und Anlass für den Film waren. Schwitter erläutert, dass die Radierungen teils echt und teils von einem Künstler nachgebaut sind, denn den Mythos im Film gibt es wirklich. In der lateinamerikanischen Folklore spricht man vom „Luz mala“ im Deutschen vom „Irrlicht“, das gemeinhin als bösartig gilt und Menschen ins Unglück führen kann.

Zur Entstehung des Films erzählt Schwitter eine verzweigte Anekdote über eine Begegnung mit Heinz Emigholz in Mexico City, eine ausgefallene Retrospektive, eine geplante Argentinienreise und die Idee, den Filmemacher als Protagonisten ihres nächsten Films zu inszenieren. Da das Interesse des Regieduos an der vorfilmischen Realität schlussendlich doch größer war als an der Emigholz-Idee, recherchierten sie bei besagter Argentinienreise in einem Dorf in dem Di Lucianos Familie ein Haus besitzt – die Villa, die von den beiden Frauen im Film geputzt wird. Inspiriert von Byung-Chul Hans „Vom Verschwinden der Rituale“ haben sie sich dabei vor allem für das Geschichtenerzählen und das Formen eigener Wahrheiten durchs Erzählen interessiert.

Die Geschichten stehen für Adamczewski gar nicht so sehr im Vordergrund, sie hebt vor allem den „Schwebezustand“ des Films hervor und die Gleichbehandlung von Landschaft, Figuren und Tieren. Nichts rage stark heraus und bisweilen habe man das Gefühl, dass die Menschen nur als Trigger fungieren, um beispielsweise die Landschaft mit Taschenlampen abzusuchen. Schwitter stimmt zu, sie hätten sich für alles ein bisschen interessiert, ohnehin prägen die Menschen die Landschaft und umgekehrt. Sie haben „von Tag zu Tag gedreht“, mit Ideen aber ohne Drehbuch, in einem fluiden Prozess. Die Moderatorin fragt nach den filmischen Mitteln: Wie haben sie es geschafft, dass der Film immer noch dokumentarisch wirkt? Nicht mit einem Dispositiv dort anzukommen, sondern die Leute kennenzulernen sei dafür entscheidend gewesen, so Schwitter. Das reale Leben vermische sich mit der fiktiven Ebene und es sei ein schmaler Grat, dass nichts „wie ein Pfeiler herausragt“.

Adamczewski hebt besonders eine Szene hervor, in der die Frauen eine Reportage im Fernsehen schauen und dadurch auf eine elegante Art die ökonomisch prekäre Situation deutlich wird. Im Dokumentarfilm sei Armut oft etwas, dass als Tragödie dargestellt oder als Missstand angeprangert werde, wodurch die Protagonist:innen zu Opfern und Betroffenen würden. Hier könne man einen anderen Blick darauf werfen, der nicht „nach unten“ gerichtet sei. Gleichzeitig denkt die Moderatorin über die Gegenüberstellung Argentinien (Chaos/Unsicherheit) und Schweiz (Ordnung/Sicherheit) nach. Könnte man sagen in der Schweiz gibt es das Geld, die Stoffe hingegen in Ländern wie Argentinien? Nicht, weil die Menschen dort ärmer sind, das will sie nicht romantisieren. Für Schwitter ist der Fokus des Films mehr als die Armut, eher eine Narration der Welt, wie sie anders aussehen könnte, eine leicht subversive Zukunftsfantasie. Ihnen sei es sehr wichtig gewesen, die Menschen nicht „in eine Opferrolle zu stecken“. Sie müssten außerdem hinterfragen, warum sie nach Argentinien gehen, in der Schweiz gäbe es auch viele erzählenswerte Dinge. Der Film sei in Argentinien entstanden, weil sie da was gefunden haben, dass sie trotz der Umstände sehr interessant fanden, konstatiert er und ergänzt, er hätte den Film ohne die Argentinierin Di Luciano nicht gemacht.

Nach 30 Minuten erscheint in der Dramaturgie des Films ein neuer Erzählstrang, in dem das Mythische ganz explizit zum Klassenkampf benutzt wird, wenn die beiden Frauen einen Altar vor der Wand in der zu putzenden Wohnung errichten. Adamczewski möchte erfahren, wie es dazu kam. Nachdem das Regieduo die beiden Frauen kennengelernt hatte, die auch in Wirklichkeit als Reinigungskräfte in Ferienhäusern arbeiten, wollten sie mit ihnen gemeinsam eine Art „Besetzungsfantasie“ ausprobieren. Das war auch eine Art Abenteuer, weil die Protagonistinnen sich das sonst nie trauen würden und so die Möglichkeit hatten, in Träume einzutauchen.

Kritisch hakt eine Person aus dem Publikum nach, wie die beiden Frauen die Besetzung fanden und ob es nicht eher ein Traum der Regie gewesen sei, in den sie eingetaucht sind und nicht ihr eigener. Sie fragt, wie weit der Austausch zwischen Regie und Protagonist:innen ging. Schwitter betont, wie wichtig es ihnen war, viel Zeit mit den Menschen vor der Kamera zu verbringen und zu verstehen, „wer sie wirklich sind“. Er spricht von einem kollektiven Dreherlebnis, einem zusammen „in die Fantasiewelt eintauchen“. Noch weitere Nachfragen beziehen sich auf das Ausmaß der Zusammenarbeit mit den Protagonist:innen. In den Augen des Filmemachers sei das Problem vor allem gewesen, dass die Dinge, die sie interessierten, zwar passierten, aber nie, wenn sie mit der Kamera da waren. In den Drehprozess hat das Regieduo Ideen hineingetragen und sich dafür interessiert, was die Menschen vor der Kamera dann mit diesen Elementen machen. Das sei für sie interessanter gewesen als eine von A bis Z durchkonzeptionalisierte, fiktionale Geschichte. Daher sei es kein klassischer Dokumentarfilm, auch wenn real erlebte Geschichten wiedererzählt würden. Schwitter kommt auch darauf zu sprechen, dass sie den Protagonist:innen beim Drehen einen Tageslohn bezahlt haben. Normalerweise sei das nicht gängig beim Dokumentarfilm, aber er weiß ohnehin nicht, ob er diesen Standard gut findet und der Film folge nicht dem Dispositiv eines klassischen Dokumentarfilms.
Eine Person aus dem Publikum beschreibt, dass sie beim Schauen im „Dokumentarfilmmodus“ war, bis das Licht aus dem Mund kam. Danach hat sie sich gefragt, ob das jetzt ein Dokumentarfilm oder ein Spielfilm ist. In der folgenden Antwort stellt sich heraus, dass das Regieduo ursprünglich nicht an einen Dokumentarfilm dachte, ihr Interesse war vielmehr, das Leben spielerischer zu betrachten. EL MUNDO AL REVÉS sei „erstmal ein Film“. Und wenn man so wolle ein Hybridfilm in seiner „reinsten Form“, mit realen Menschen und fiktiven Geschichten, ebenjene Mischung interessiere die Filmemacher:innen.

Das Gespräch über die Grenzziehung zwischen Dokumentarischem und Fiktionalem führt sich durch eine weitere Publikumsstimme fort, die ganz spezifisch wissen möchte, wie die Mauer zur Szene wurde und ob im Drehprozess sowohl Ideen von der Regie als auch von den Protagonist:innen kamen. Das sei ja alles eloquent und plausibel, was der Filmemacher da sage, aber was bedeute es konkret? Der Person ist es wichtig, darüber zu sprechen, um die Linie zwischen Fiktion, Dokumentarischem und Reenactment zertrümmern zu können. Mitten in diesem Dialog kommt die Co-Regisseurin Di Luciano mit reichlich Verspätung auf die Bühne gesprintet – nichts, was die vor sich hin plätschernde Diskussion aus der Bahn bringen könnte. Schwitter beschreibt, dass sowohl Ideen von ihnen als auch von den Menschen vor der Kamera kamen. Die Idee mit der Mauer beispielsweise kam von den Filmemacher:innen und sie haben die Frauen schlicht gefragt, ob sie darauf Lust hätten.

Obgleich die Diskussion nun ausführlich die Unterschiede zwischen dokumentarischer und fiktionalisierender Herangehensweise umkreist hat, führt sie in der Frage, was es interessant macht, sich EL MUNDO AL REVÉS im Rahmen der Duisburger Filmwoche ‚als Dokumentarfilm anzuschauen‘, zu keinem befriedigenden Ende.