Synopse
Auf der Bettkante, im Halbdunkeln, eine Hand am Rollator, die andere an der Fernbedienung: Infos zu türkischem Fußball im Teletext, wo Zahlen eine agile Welt kombinieren, während die eigenen Socken in Sandalen nur mehr langsam vom Boden abheben. Das Zimmer leer, der Gemeinschaftsraum auch, aber im Sportwettenbüro ist ein bisschen was los. Nur als Besuch kommt, ist das stetige Ticken der Uhr nicht mehr ganz so laut.
Protokoll
Es ist dunkel im Altersheim, auch der Teletext vermag bloß einen leichten Schimmer auf das Gesicht des Protagonisten zu werfen. Scheinbare Ereignislosigkeit, omnipräsent dabei das Ticken der Uhr, die das Verstreichen der Zeit markiert. Ihr Rhythmus der Herzschlag eines Films, welcher der Realität vor der Kamera beständig die Geräusche entzieht und dem Publikum auf der Tonebene damit eine ganz eigene Welt eröffnet.
Im Diskussionssaal wird es eine Weile dauern, bis die konzentrierte, gedämpfte Atmosphäre des gerade Gesehenen verhallt ist. Ute Adamczewski begrüßt den Filmemacher Can Ünlü auf dem Podium. „Nachts im Altersheim“ leitet sie das Gespräch ein. „Wie bist du zu dem Thema gekommen?“ Ünlü holt etwas weiter aus und erzählt vom Schreiben des Katalogtexts und davon, dass er zunächst nicht offenlegen wollte, dass es sich bei dem Protagonisten des Films um seinen Onkel handelt. Auf Adamczewskis Einwurf hin, das Verhältnis zwischen den beiden sei auch im Film nicht thematisiert, bestätigt der Filmemacher die Verbindung bewusst nicht aufgezeigt zu haben. Ihm sei es schwergefallen, im Endeffekt habe er sich beim Schreiben des Texts dann aber doch dafür entschieden diese Information zu teilen. „Daidai“ solle einerseits ein Portrait sein, der Protagonist gleichzeitig jedoch für Menschen in ähnlichen Situationen stehen. Dem zugrunde liege die Idee den Film so weit wie möglich zu öffnen.
Ausgehend von Adamczewskis nächsten Fragen sprechen die beiden über die Darstellung der Institution Altersheim. Auch hier betont Ünlü sein Konzept der Öffnung und beschreibt, wie er den Ort neu wahrnehmen und die Leben der Menschen dort spürbar machen wollte. Auf die – durch das Fehlen von Personal und anderen Bewohner:innen – verfremdend anmutende Abbildung des Ortes angesprochen, bemerkt der Filmemacher: die Präsenz anderer Menschen hätte die Dynamik die er entfalten wollte gestört. Die Menschenleere sei jedoch keinesfalls als Kommentar à la „im Altenheim fehlen die Leute“ misszuverstehen.
Im Folgenden beschreibt Adamczewski ihren Eindruck der im Film verstreichenden Zeit. Durch das Fehlen vordergründiger Action wirke eine alltägliche Handlung wie ins Badezimmer Gehen bereits wie eine Verfolgungsjagd. Sie möchte wissen, inwiefern Ereignislosigkeit für den Filmemacher ein konzeptionelles Element gewesen sei. Ünlü konstatiert, dass dies ein zentraler Punkt seiner Überlegungen war. Gleichzeitig möchte er kurz ausholen und erläutern, dass er bei diesem Projekt seinen analytischen Blick auf die Welt hatte verlernen wollen. Die körperliche Erfahrung des Publikums sowie das Spüren und Sehen standen stattdessen im Vordergrund. Ein Thema bearbeiten sei nie seine Intention gewesen, sein Interesse viel eher, die Dinge sich entfalten zu lassen.
An diesem Punkt öffnet sich das Gespräch und Menschen aus dem Publikum melden sich zu Wort. Was sich aufgrund einiger Kritikpunkte leicht zu einem konfrontativ geführten Streitgespräch hätte entwickeln können, bleibt jedoch erstaunlicherweise ein Dialog. Obgleich der kritisch formulierten Kommentare und wertenden Bemerkungen zeigt sich der Filmemacher zugewandt. Er ist offen für die an ihn herangetragenen Anmerkungen, gesteht sich selbst Fragen an den eigenen Film ein und thematisiert bisweilen auch das eigene Hadern mit dem Projekt. Ünlü möchte vor allem „raus aus dem (film)analytischen Modus“ und „ausgehen von der Wahrnehmung“. Häufig reagiert er auf die von den Zuschauer:innen formulierten Einwürfe sinngemäß mit „Den Punkt verstehe ich, aber ich wollte es eben genau so und nicht anders machen“.
Inhaltlich kreisen die Anmerkungen des Publikums im Wesentlichen um zwei Aspekte: die Zuspitzung im Film und seine Verschlossenheit gegenüber den Zuschauenden. Häufig wird in den Redebeiträgen dabei auf die Tongestaltung verwiesen. Immer wieder klaffen Bild und Sound in „Daidai“ auseinander, eine Bewegung ist mal sicht- aber nicht hörbar, mal wird der Ton des Archivmaterials lange vor dem Bild eingefadet. Was wie und wann akustisch wahrnehmbar ist, bleibt rätselhaft atmosphärisch. Dass der Filmemacher erklärt, im Schnitt nach dem Ton gearbeitet zu haben, erscheint dabei wenig überraschend.
Einige Stimmen aus dem Publikum empfinden die Eingriffe auf der Tonebene als Entfernung von der Realität, was dem Film etwas sehr Gestaltetes, Zugespitztes verleihe. Doch nicht nur auf der Soundebene wird über den Begriff der Zuspitzung gesprochen: Ünlü wollte seinem Film einen „Spielfilmtouch“ geben, indem er in der Realität Angelegtes überhöht. Die dadurch entstehenden – von ihm als „Kommentare“ benannten – Inszenierungen entwickelte er aus dem Ort heraus. Beispielhaft ist hierfür eine Szene im nächtlichen Speisesaal, wenn der Protagonist dort allein zu Abend isst. „Das Bild erzählt Einsamkeit“, so eine Stimme aus dem Publikum, jemand anderes empfindet die Zuspitzung der Szene als Wertung des Filmemachers, die in der Rezeption des Films stört. „Warum ist die Wirklichkeit nicht stark genug?“ ruft eine Person gar in den Raum. Ünlü entgegnet: Es wäre ja auch komisch zu denken, eine Kamera aufzustellen sei nicht in sich schon eine Bewertung, ein bestimmter Blick, eine Auswahl. Klar benennt der Filmemacher: „Ich will aus dem anthropologischen Modus raus.“ Auch Adamczewski verteidigt: Konstruiert sei der Film sowieso, aber die Konstruktion würde sichtbar und das sei interessant. Der Filmemacher ergänzt, er habe versucht einen Balanceakt zu finden, zwischen der Akzentuierung einer gewissen Form von Tragik und dem Anspruch, zugleich „das Normale“ zu zeigen.
Von Publikumsseite fallen zudem mehrfach die Begriffe „Verschlossenheit“ und „Entzug“. Eine Person merkt an, dass der Filmemacher zwar viel von Offenheit und Entfaltung spreche, sich ihm der Film in den Gesten der Zuspitzung und Verfremdung jedoch entziehe. Mehrere Strategien des Entzugs werden benannt: auf der Tonebene (das Wegnehmen von real existierenden Geräuschen), auf der Institutionsebene (das Zeigen des Altersheims ohne die anderen Bewohner:innen und Pflegekräfte), auf der Untertitelebene (die nur fragmentarische Untertitelung der türkischen Gespräche). Durch diese drei Strategien bekomme der Film einen inszenierten Charakter. Weiterhin wird darüber gesprochen, dass „Daidai“ in seinen radikalen formalen Setzungen unsere Sehgewohnheiten herausfordere. Einer Publikumsstimme zufolge stehe die Archivmaterialszene am Ende des Films jedoch in Kontrast zu dieser Radikalität und biete in ihrer Emotionalität eine Ausflucht, die den Film schwäche.
Angestoßen durch einen Kommentar aus dem Publikum wird gegen Ende des Gesprächs auch kurz über die Darstellung von Männlichkeit gesprochen, doch bei diesem sicher spannenden Gesprächspunkt in die Tiefe zu gehen, verhindert die fortgeschrittene Zeit. Adamczewski bricht das Gespräch ab, gefühlt hätte es noch eine ganze Weile weitergehen können.