Synopse
Als die Kolonnen durch die Dörfer zogen, wurden die Bewohner:innen in die Häuser gescheucht. Ein Blinzeln durch den Vorhangspalt, verstohlene Blicke auf die Züge zerlumpter, abgemagerter Menschen. Europa 1944. Überall dort, wo die Front in die Nähe der Konzentrationslager kam, wurden die Insassen Richtung Westen getrieben. Die letzten Zeug:innen von heute waren damals Teenager. Eine Suche nach Wegen und ihren Spuren im Jetzt. Erinnerungen an ein Grauen, das nicht verschwindet.
Protokoll
Eine alte Frau blickt in die Kamera, zögert kurz und sagt dann leise: „Gott sei Dank vergisst man. Erst wenn man danach gefragt wird, erinnert man sich und merkt, dass sich da doch etwas eingebrannt hat“. Sie spricht als eine der letzten Zeitzeuginnen über einen der sogenannten „Todesmärsche“, der 1945 ihr Dorf passierte. In der Endphase des Zweiten Weltkrieges wurden tausende entkräftete KZ-Häftlinge dazu gezwungen, die frontnahen Lager zu verlassen. Ohne geeignete Kleidung und Versorgung mussten sie bis zu 40 Kilometer am Tag marschieren. Wer zusammenbrach, wurde sofort erschossen. Ein historisch gut erforschtes, aber in der kollektiven Erinnerungskultur wenig präsentes Kapitel nationalsozialistischer Verbrechen. Das Zitat der Zeitzeugin zeigt: Vergessen ist keine Option, weder für die Opfer und die Überlebenden, noch für unsere Gesellschaft. Aber können wir auch filmisch an den Holocaust erinnern?
Diese Frage ist nicht neu und berührt das Dilemma, Bilder für etwas zu finden, was sich unserer Vorstellungskraft gänzlich entzieht. Claude Lanzman hat in diesem Kontext einmal gesagt, fände er authentische Bilddokumente aus den Gaskammern, würde er sie sofort vernichten. Mit „Shoah“ (1985) etablierte er stattdessen die Methode, Orte aufzusuchen, denen die dort verübten Verbrechen nicht mehr anzusehen sind. Für „Nicht verRecken“ orientiert sich Martin Gressmann an diesem Konzept, das zuletzt auch „Heimat ist ein Raum aus Zeit“ von Thomas Heise oder „Zustand und Gelände“ (2019) von Ute Adamczewski adaptierten.
In Nordbrandenburg und Mecklenburg spürt er Feldwege, Straßen und Waldlichtungen auf, die auf der Route der Todesmärsche lagen. In den idyllischen Landschaften und speziell im Belower Wald sind allenfalls Fragmente übrig geblieben. Eine Natur, die nicht von sich aus offenbart, wie chaotisch es 1945 hier zuging. Als sich die Kolonnen von Häftlingen mit denen von der Front flüchtender Soldaten und anderen Trecks kreuzten und die Provinz zu einem internationalen Hotspot von Menschen in Bewegung und in Angst wurde. Die Kamera tastet diese gleichmütige Natur vergeblich auf der Suche nach Spuren wie auch nach Erklärungen ab, wie Britta Hartmann es treffend in der Diskussion beschreibt.
Zurückgeworfen auf die Bilder, die im Kopf entstehen und sich sogleich dem eigenen Verständnis verweigern, ist das Publikum sichtlich bewegt. Einige, die aus der Region kommen, bedanken sich beim Regisseur dafür, ihnen die Augen für ihre Umgebung geöffnet zu haben. Diese Stimmung, eine Mischung aus Respekt, Anteilnahme und Erschütterung, ist vor allem auf die eindrücklichen Schilderungen der Protagonisten des Films zurückzuführen. Die Männer, die diese Märsche teilweise nur knapp überlebten, haben Gressmann und Volker Gläser 2015 bei einer Feier in einer Gedenkstätte kennengelernt und sich viel Zeit für die Befragung, aufgelöst im klassischen Talking Heads-Stil, genommen. Auf Polnisch, Ukrainisch, Französisch und Deutsch schildern sie bewegt und 70 Jahre später noch immer sichtlich erschüttert und traumatisiert ihre Erlebnisse.
In formaler Hinsicht spannender als das erwähnte Bildkonzept, das hier zwar aufgeht, aber nicht innovativ ist, wirkt die Parallelhandlung um Heinrich Himmler mit einem eher „szenischen, erzählerischen Kommentar“, der Luc Schaedler irritiert und nach dem Grund für diesen Erzählstrang fragt. Gressmann antwortet, dass jede Geschichte schließlich einen Antagonisten brauche, um voranzukommen. Dabei wird Himmler gar nicht als „Bösewicht“ dargestellt. Erneut verzichtet der Regisseur auf Archivaufnahmen. Für Himmlers verzweifelte Versuche, kurz vor Kriegsende noch den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, und für die generelle „Selbstorganisation des Untergangs der Nationalsozialisten“ (Gressmann) findet er treffendere Bilder, die zugleich die Naturbeobachtungen kontrastieren: Was 1945 ein bedeutender Schauplatz von Last-Minute-Geheimverhandlungen des SS-Führers war, ist heute eine Art lost place des Verfalls. In der sich ständig regenerierenden Natur bleibt die wenn auch schreckliche Erinnerung an das Leiden der Opfer lebendig, im Gutshaus rotten unbemerkt die eleganten Originalmöbel aus den 1930-er Jahren vor sich hin und niemand nimmt davon Notiz.
„Nicht veRecken“ erfindet keine neuen Bildkonzepte. Im Gedächtnis bleiben daher vor allem die Interviews. Ihre filmische Konservierung in Anbetracht des Alters der Zeitzeugen und ihres unaufhaltsamen Verschwindens ist von großer Bedeutung und kann Gressmann wie auch dem Film gar nicht hoch genug angerechnet werden.