Film

Wohnhaft Erdgeschoss
von Jan Soldat
DE/AT 2020 | 48 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 44
03.11.2020

Diskussion
Podium: Jan Soldat
Moderation: Alejandro Bachmann
Protokoll: Mark Stöhr

Synopse

Heiko sitzt nackt am Schreibtisch. Vor ihm Tabak und Tastatur, hinter ihm Raumsprays. Heiko pisst. „Das mögen viele, ich auch.“ Die Orte seiner Vergangenheit sind Ruinen. Da bleibt er lieber in seiner Berliner Wohnung. „Wäre die verdammte Wende nicht gekommen, hätt’ ich noch Arbeit“, sagt er trotzig. Schließlich fährt er doch los: zur Mutter. Das Verhältnis ist längst verwittert, die Reise kein Aufbruch. Im Garten seiner Großeltern übermannt es ihn: „Alles haben die zerstört.“

Protokoll

Pissen am Anfang, Pissen am Ende, dazwischen: ein Leben. Die von Gewalterfahrungen geprägte Kindheit Heikos, seine Arbeitslosigkeit seit dem Ende der DDR, seine Einsamkeit. „In dieser Rahmung“, sagt Alejandro Bachmann, „wird das Erzählte psychologisiert – als Erklärung für das non-konforme Verhalten des Protagonisten.“ Jan Soldat widerspricht. „Was ich an dem Film geglückt finde, ist, dass er gerade nicht psychologisiert.“ Sexualität, Familiengeschichte, politische Geschichte – alles spiele eine Rolle und verschränke sich. „Heiko hat für mich eine totale Souveränität, wo man nicht sagt: Deine Mutter hat dich geschlagen, jetzt pisst du ins Bett.“

Über eine Internetseite war Soldat auf Heiko aufmerksam geworden. Er nahm Kontakt zu ihm auf und besuchte ihn zu Hause. Kein großes Vorgespräch, nur eine kurze Skizzierung seiner Arbeit als Filmemacher. Dann startete er die Kamera. „Ich habe ein Problem mit Kalkül im Dokumentarfilm. Meine Recherche beginnt beim Filmen. Es fühlt sich ehrlicher an, wenn ich ehrlich frage.“ Und: „Wieso soll ich wiederkäuen, was ich meine verstanden zu haben? Ich finde es spannender, meine Bewusstwerdung von Heiko wiederzugeben.“

Bachmann kommt auf den „massiven Einstieg“ zu sprechen. Das erste Bild des Films: Heiko steht neben seinem Bett, fragt „Kann ich?“ und fängt an zu pinkeln. „Ich wollte gleich am Anfang zeigen, worum es geht.“ Ihm sei es in seinen Filmen wichtig, sich als Person hinter der Kamera zu benennen und die Übereinkunft und Absprache mit seinen Protagonisten sichtbar zu machen. „Ich möchte keine Filmrealität erzeugen, wo man nur auf einer erzählerischen Ebene zusieht – sondern klar markieren: Da begegnet jemand jemandem.“

Seit zwölf Jahren hat Heiko seine Mutter nicht gesehen, erzählt er in „Wohnhaft Erdgeschoss“. Ihm fehle das Geld für das Zugticket. Schnitt. Der 51-Jährige sitzt in der Bahn auf dem Weg in seine Vergangenheit. „War das ein direkter Eingriff von dir?“, fragt Bachmann. „Das war für mich ein krasser Schritt“, antwortet Soldat. „Normalerweise darf Geld keine Rolle spielen, um nicht ein Machtgefälle entstehen zu lassen.“ Doch Heiko habe immer wieder von seiner Heimatstadt erzählt, und er, Soldat, wollte sie sehen, „ganz naiv“. Erst fuhr er allein hin, als Heiko dann den Wunsch äußerte, seine Mutter und die Orte seiner Kindheit wiederzusehen, zahlte er ihm die Fahrt. „Es gibt viele Mechanismen, wie man in eine Person reinkriechen kann, um etwas für seinen Film zu bekommen. In diesem Fall fühlte ich mich legitimiert, diesen Schritt zu gehen.“ Hätten sich die Dinge vor Ort anders entwickelt als geschehen, hätte er das Material nicht in den Film genommen.

Alejandro Bachmann lobt die „unglaublich präzisen Einstellungen“ Soldats. Er habe einen speziellen Blick, den man fast als „neutral“ charakterisieren könne. Soldat: „Mich interessieren ruhige, konzentrierte Bilder. Wenn ich die Kamera bewege, brauche ich dazu eine Motivation. Denn jede Änderung der Kameraeinstellung markiert einen Bedeutungswechsel.“ Mit der „Neutralisierung“ wolle er den Zuschauer*innen einen Zugang schaffen. „Ich biete ihnen einen Raum, sich das in Ruhe anzugucken.“ Bewertungen versuche er generell zu vermeiden. „Das sind mehr so Gedankenräume, die ich hinlege, und jeder kann für sich entscheiden, was er damit macht.“