Film

Madame
von Stéphane Riethauser
CH 2019 | 94 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 43
09.11.2019

Diskussion
Podium: Stéphane Riethauser, Marie-Catherine Theiler (Regieassistenz), Natali Barrey (Schnitt)
Moderation: Jan Künemund
Protokoll: Mark Stöhr

Synopse

Ein doppeltes Porträt. Von Caroline, der hochbetagten Madame und Geschäftsfrau, und Stéphane, dem geliebten Enkel und Regisseur des Films. Gegen die Gesetzlichkeiten ihrer bourgeoisen Genfer Familie wollte sie keine Gattin sein und er kein „echter“ Mann. Aus den Archivaufnahmen treten zwei Menschen hervor, die schillern im Grau der Konvention.

Protokoll

„Man ist nicht als Frau geboren, man wird es.“ (Simone de Beauvoir)

Eine Familiensaga mit zwei Protagonisten: Regisseur Stéphane Riethauser und seiner Großmutter. Beide verbindet, dass sie den patriarchalischen Rollenbildern und Geschlechterklischees ihrer Familie und Gesellschaft die Stirn boten. Sie, die selbstbewusste Matriarchin und Unternehmerin, er, der schwule Enkel und Künstler, der sich unter großen Anstrengungen aus seiner heterosexuellen Formatierung gelöst hat. Illustriert mit Archivmaterial unterschiedlicher Provenienz erzählt Madame die Geschichte einer doppelten Selbstwerdung und ist zugleich das Porträt der besonderen Beziehung zwischen Caroline und Stéphane.

Familien seien ein „Ort mit schlechter Luft“, sagte Jan Künemund treffend. Selbst in der bourgeoisen Genfer Welt, in der Stéphane Riethauser aufwuchs, herrschte Smog. Männliche Dominanz, Machokult, Homophobie. Die Privilegiertheit der Familie, bemerkte Künemund, zeige sich auch am Reichtum und der schlichten Menge des überlieferten Filmmaterials. Bildermachen sei in der Familie ganz offensichtlich „ubiquitär“ gewesen. Der Vater ein Cinephiler mit großem Wissen um filmische Effekte.

„Mein Vater wollte Regisseur werden“, erzählte Riethauser, „traute sich aber nicht, weil ihm dieser Schritt wirtschaftlich zu riskant war.“ Also filmte er die Familie. Das alljährliche Weihnachtsritual: Vaters Filme gucken. Riethauser bekam im Alter von 28 Jahren von seiner Großmutter seine erste Kamera geschenkt. Kommentar des Vaters: „Da hast du aber Glück gehabt, ich bekam nie etwas geschenkt.“

Ursprünglich sollte Madame von der „Condition der Frau“ (Riethauser) handeln. Im Mittelpunkt standen zunächst die Großmutter und ihre Haushälterin. Doch dann begegnete Riethauser in den eigenen Aufnahmen und denen des Vaters immer wieder sich selbst und seiner Kindheit – und sah, wie viel Gewalt in dem Material steckte, dass er sich zum Protagonisten neben Caroline machte. Die zentrale Frage war: Welche Erzählstränge und Bilder sind relevant, was kann raus? Marie-Catherine Theiler, eine „alte Komplizin“ (Riethauser), wurde zur wichtigen Beraterin und Co-Regisseurin. „Sie kennt mich gut, hat aber mein Leben nicht gelebt und brachte dadurch Distanz in den Umgang mit dem Material.“ Eine weitere Schlüsselposition nahm Natali Barrey, die Editorin, ein. „Stéphane warnte mich, dass er jemand sei, der alles im Film haben will. Und so war es auch. Es gab in der ersten Fassung Interviews mit dem Vater und noch Found Footage aus Fernseharchiven. Stéphane wollte die große Geschichte mit der kleinen Geschichte verbinden. Doch Marie-Catherine und ich waren uns einig: Der Film muss sich ganz auf Stéphane und seine Großmutter konzentrieren.“

Wie lange er an dem Off-Text gearbeitet habe, wurde aus dem Publikum gefragt. Das sei ein langer Prozess gewesen, antwortete Riethauser. Er habe den Text immer wieder neu und umgeschrieben. „Ich wollte auch in der Sprache so ehrlich wie möglich sein und verwende teilweise dieselbe heftige Ausdrucksweise, die ich als Junge mit meinen Kumpeln verwendet habe. Diese schmutzigen, brutalen Wörter, mit denen wir das andere Geschlecht beschrieben. Sprache konstituiert uns, sie ist ein Katalysator und Spiegel.“

Jan Künemund fand den „schonungslosen Blick“ des Regisseurs auf sich selbst „beachtlich“. Aber: „Der Film erforscht nichts mehr. Es werden Wunden gezeigt und gleich wieder genäht.“ Sie wollten einen positiven Film machen, erwiderte Marie-Catherine Theiler, der zeigen solle, dass man aus Zwängen ausbrechen kann. Riethauser: „Mein Redakteur sagte: ‚Das ist kein Therapiefilm, du hast deine Arbeit vorher gemacht.‘ Und das stimmt auch. Ich wollte keine schmutzige Wäsche waschen. Mein Vater hat viele furchtbare Sachen zu mir gesagt, aber mittlerweile weiß ich, warum er sie gesagt hat. Er hat mich trotz allem geliebt und kann es heute auch zeigen. Meine Eltern sind stolz auf den Film.“

Stéphane Riethauser hat also einen Prozess durchlaufen, der Madame erst möglich gemacht hat. „Aber der Film ist die Reflexion meiner heutigen Position. In zehn Jahren hat sich mein Standpunkt vielleicht wieder weiterentwickelt.“

 Natali Barrey, Marie-Catherine Theiler, Stéphane Riethauser, Jan Künemund v.l. © Duisburger Filmwoche, Foto: Simon Bierwald
Natali Barrey, Marie-Catherine Theiler, Stéphane Riethauser, Jan Künemund v.l. © Duisburger Filmwoche, Foto: Simon Bierwald