Film

Blue Velvet Revisited
von Peter Braatz
DE/SI 2016 | 85 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 41
08.11.2017

Diskussion
Podium: Peter Braatz
Moderation: Joachim Schätz
Protokoll: Theresa Münnich

Synopse

David Lynch am Set von Blue Velvet mit Super-8-Kamera, Kassettenrekorder und Fotoapparat zu fassen, erscheint dreißig Jahre später als beinahe traumwandelnder Annäherungsversuch. Am Set auf alle Details bedacht, indes misstrauisch gegen jede Erscheinung. Auskunftsfreudig beseelt von der eigenen Arbeit, gleichwohl eigenwillig rätselhaft.

Protokoll

„A film can be about many things“, mit diesem Zitat David Lynchs eröffnet Joachim Schätz die Gesprächsrunde und bezieht diesen Satz auf Peter Braatz’ Film, da sich der Film nach über 30 Jahren mit Bedeutung angereichert haben müsse. Braatz erzählt, dass er während der Dreharbeiten so viel Material wie möglich gesammelt habe. Er verweist auch auf die Vision Lynchs, dass in Zukunft der Film über mehr sprechen könne. Er sah nämlich eine große Zukunft für den Film, in der dieser als eigene Kunstform wahrgenommen würde. Ein Film könne Dinge zeigen, die nicht in Worten formulierter seien. Auch Braatz selbst habe die Hoffnung, dass ein Film mehr als Action, Sex und Kokain zeigen könne. Auch sein eigener Film würde sich nämlich mit unaussprechlichen Thematiken beschäftigen.

Schätz bringt an, dass bereits 1985 aus dem Material ein Film entstanden sei, NO FRANK IN LUMBERTON. Braatz ergänzt, dass dieser erste Film wesentlich punkiger und dadaistischer gewesen sei und er damit keinen Erfolg gehabt hätte. Ihm sei dennoch das gedrehte Material zu wertvoll gewesen, weshalb er immer die Last verspürt habe, daraus für die David-Lynch- und Blue-Velvet-Fans einen Film zu machen. Außerdem erzählt er, dass, als er selbst Film studiert habe, es keine vergleichbaren Arbeiten über die Hintergründe am Set von Klassikern wie VERTIGO oder Eisensteins Filmen gab. Sein Ziel war deshalb, das Material in eine allgemein verständliche Form zu bringen, sodass man darüber reden könne.

Schätz bezeichnet den Film als eine Verdichtung einer Epoche und fragt, ob dieser Film auch ein Film über Peter Braatz und nicht nur über David Lynch sei. Braatz betont nochmals, dass sein Material ein Goldschatz sei, aus dem er etwas hätte machen müssen. Er selbst habe Kamera geführt, den Ton aufgenommen, die Musik beauftragt und den Film produziert. BLUE VELVET REVISITED sei ein Film von heute, aber über die Zeit von früher. Er selbst sehe Dokumentarfilm im lyrischen Stil viel zu selten auf der Leinwand. Schätz analysiert, dass Braatz in seiner Arbeit verschiedene Formate, sowohl Standbilder als auch Bewegtbilder, in einen Rhythmus gefasst habe. Braatz gibt zu, dass dies auch seine größte Sorge gewesen sei, die Hochkantbilder, Super-8-Filme und Breitbandfotos zusammenzubringen. Als er aber Wim Wenders DAS SALZ DER ERDE gesehen habe, hätte er gewusst, dass eine ähnliche Arbeitsweise auch für ihn zutreffen könne. Für ihn funktioniere der Film genau so, da die Verbindungspunkte, die Musik und die Story, den Film zusammenhalten würden.

Der Film funktioniere in Assoziationen und Motivserien, so Schätz, habe dennoch eine strenge Kapitelstruktur. Er fragt Braatz, wie die Chronologie des Filmes entstanden sei. Dieser antwortet, er habe das Material ohne Plan gedreht. Vier Stunden Super-8-Filmmaterial, 30 Stunden Tonaufnahmen und etliche Fotos habe er zusammenfügen müssen, um eine Story zu erzeugen. Dabei habe er sich nicht an der Chronologie von BLUE VELVET orientiert, sondern die Musiktitel des Soundtracks zur Hilfe genommen. Der von ihm beauftragte Musiker hätte den Soundtrack nämlich ein Jahr vor dem Film herausgebracht. Also habe er die Struktur der Musiktitel übernommen und sie nochmals geordnet.

Dann öffnet Schätz die Diskussion für das Publikum. Der erste Beitrag beschreibt den Film als gut gelungen, da er besonders intensive Einblicke in die Arbeit David Lynchs vermittele. Der Zuschauer habe bemerkt, dass am Ende der Dreharbeiten zu BLUE VELVET Lynch noch relativ jung wirke, dann aber 15 Monate später viel älter aussehe. Braatz konstatiert, Lynch sei einfach dicker geworden. Als Lynch zur Premiere des Films nach München reiste, habe er ein halbes Jahr vorher die Premiere in den USA gehabt. Lynch sei gestresst von der Postproduktion gewesen, und die Beziehung mit Isabella habe auch Spuren an ihm hinterlassen. Braatz weist darauf hin, das Interessante an dieser Szene sei, dass man sehe, wie Lynch zuhören könne. Man sieht ihn auf der Rückbank des Taxis, wie er Braatz minutenlang zuhört. Dies sei für einen amerikanischen Regisseur eine Seltenheit, dass er einem deutschen Filmstudenten zuhöre.

Schätz fügt hinzu, dass dies im Kontrast zu den Setgesprächen stehe, wo Lynch immer mit etwas anderem beschäftigt sei. Braatz gibt an, er habe in seinem Tagebuch notiert, dass Lynch immer freundlich gewesen sei, auch zu schrecklichen Leuten. Er beschreibt Lynch weiterhin als Diplomaten. Nur während des im Film zu sehenden Gespräches mit dem Produzenten bemerke man die Zerknirschung Lynchs. Er erzählt die Anekdote, dass Lynch unbedingt den Song „Blue Velvet“ in seinem Film haben wollte, der Produzent dies wegen der zu bezahlenden Summen für die Rechte für unmöglich hielt. Dank der Diplomatie Lynchs habe man dieses Problem dann ohne Streit lösen können. Lynch habe auch viele Bildwünsche gehabt, so habe er einmal, als er noch eine Dreiviertelstunde Drehzeit hatte, noch sechs Szenen drehen wollen. Außerdem habe er viele Szenen gedreht, die später nie im Film zu sehen waren.

Es folgt eine weitere Frage aus dem Publikum. Was habe das aus ihm gemacht, dass sich Braatz sein Leben lang mit Lynch und BLUE VELVET beschäftigt habe. Er antwortet, er selbst sei nie ein „Lynchianer“ gewesen, sondern habe viel über andere Filme gedreht. Braatz sei in den letzten 25 Jahren viel gefragt worden, was er so mache, aber erst seit einem Jahr müsse er nur noch Fragen, die den Film und die Zeit am Set von BLUE VELVET betreffen, beantworten. Er bezeichnet Lynch als bedeutendsten Künstler der Welt, der mehr E-Mails als der Papst bekommen würde. Die nächste Frage stellt Pepe Danquart. Er habe sich gefragt, was für Braatz die Story gewesen sei und welchen Begriff der Story er anwende. Braatz antwortet, die Story sei für ihn, die Bürde auf den Schultern zu tragen, einen Film machen zu müssen. Das Material sei für ihn wie eine höhere Instanz gewesen. Die Chronologie entspreche der Drehzeit des Filmes und nicht dem Verlauf von BLUE VELVET. Braatz sei der letzte Mensch am Set von BLUE VELVET gewesen, und anfangs wollte er auch den Aspekt, was er in der Zwischenzeit gemacht habe, mit in den Film einbringen, habe sich dann aber dagegen entschieden. Schätz fügt hinzu, dass die vergangene Zeit auch so mit im Film stecke. Danquart fragt weiter, ob Lynch selbst den Film gesehen habe. Braatz gibt an, dass Lynch den Rohschnitt angesehen habe und BLUE VELVET REVISITED für das Festival der David Lynch Foundation ausgewählt wurde. Am Ende des Drehs habe der Produzent außerdem verlangt, dass ein Vertrag abgeschlossen würde, damit Material vom Set von BLUE VELVET keinesfalls vor dessen erster Veröffentlichung erscheine. Mit der Erstveröffentlichung des Films in Deutschland sei diese Vereinbarung allerdings erloschen.

Ein Zuschauer hinterfragt kritisch, wie der Film ein deutschsprachiger Dokumentarfilm sein könne, wenn die Sprache des Films Englisch sei. Braatz entgegnet pragmatisch, dass seine früheren Filme in Duisburg alle deutschsprachig gewesen sein. Er habe es einfach nicht geschafft den Film früher zu untertiteln und bedanke sich bei der Duisburger Filmwoche, dass er eine Ausnahme von der Regel sei. Schließlich sei es kein deutschsprachiger, aber immerhin ein deutscher Film. Werner Ruzicka fügt hinzu, dass es ein „Solinger Film“ sei.

Schätz kommt auf die Musik des Filmes zu sprechen, die für ihn eine Evokation der 80er sei. Braatz früherer Film NO SOUND IN LUMBERTON hätte seiner Meinung nach weniger 80er-Sound enthalten. Braatz stellt jedoch richtig, dass Musik nicht Eighties sondern 2016 sei. Er habe sich dabei an einem Stück der Band Tuxedomoon orientiert, welches er an einen Musiker schickte, der dann in dieser Stimmung einen 80-minütigen Soundtrack produzierte. Die Musik stehe für ihn im Kontrast zum Bild oder sei eher wie ein Spiegel zum Bildmaterial. Braatz habe die bewusste Entscheidung getroffen, für diesen Film Distanz zu für Lynch-Filme typischer Musik zu nehmen, und im Gegensatz dazu Musik auszuwählen, die David Lynch keinesfalls nehmen würde. Für ihn trage der Soundtrack den Film.

Danquarts nächste Frage ist eher technischer Natur. Er bemerkt, dass das Geräusch der Super-8-Kamera nur selten zu hören sei und fragt, ob Braatz das Material zunächst digitalisiert habe, um es anschließend zu schneiden. Braatz erklärt, er habe Material vergrößert, überblendet, Standbilder und Zeitraffer verwendet und beim Schneiden großen Spaß gehabt. Für ihn sei der Schnitt ein kreativer Prozess, der sich auch auf den Film übertrage. Anfangs habe es Komplikationen gegeben, da er zunächst Voice-over einsetzen wollte, um die Hintergründe zu erklären. Das hätte dann aber zu viele Ebenen ergeben, also hätte er nur die Musik, die Bilder, Interviews und Synchrongeräusche vom Set verwendet. Die Interviews mit Lynch habe er im Übrigen nicht geschnitten, sie seien als Dokument zu verstehen.

Eine weitere Zuschauerin meldet sich zu Wort und möchte wissen, ob Lynch stark in Braatz’ Dreh eingegriffen habe oder sich Lynch inszeniert hätte. Braatz erklärt, er habe für sein Filmprojekt 1.000 DM und drei Monate Zeit gehabt, das ergebe 60 Rollen Super-8-Material, was pro Tag 2,5 Minuten Drehzeit ausmache. Zu 60 bis 70 % habe er nur David Lynch gefilmt. Dabei habe Lynch nie in den Film eingegriffen und sich auch nie in Szene gesetzt. Braatz bringt die Anekdote an, dass er Lynch gebeten habe, sich selbst auf dem Weg zum Wohnwagen zu filmen. Also habe sich Lynch zwei Minuten selbst gefilmt. Eher habe Braatz also Lynch inszeniert. Außerdem wollte er Lynch nicht von seiner Arbeit abhalten, er habe sich immer distanziert und höflich verhalten. Lynch habe täglich während der Mittagspause meditiert oder an einem Ölbild gearbeitet, dabei wollte ihn Braatz auch nicht stören.

Eine weitere Zuschauerin möchte wissen, ob Braatz sich eher gefreut oder geärgert hätte, als er sich nach so langer Zeit das alte Material noch einmal angesehen hätte. Braatz konstatiert, dass er vor allem mit Stolz auf das Super-8-Material gesehen habe. Dass er nur zwei Minuten Drehzeit pro Tag gehabt hätte, sei heute unvorstellbar. Durch die technisch vorgegebene Beschränkung habe er also eine besondere Kreativität entwickeln müssen, die er heute mit Genugtuung anerkennen würde. Zehn Jahre später habe er zum Beispiel einen Film über den Sänger der Band Ken gemacht, aus 60 Minuten Rohmaterial habe er einen Film von 60 Minuten Länge gemacht. Es komme für ihn also vor allem auf eine gesunde Vorauslese an.

Ružička beendet die Debatte mit der Frage, ob sich Braatz, da er sich eine Zeitlang in Slowenien aufgehalten hätte, eher in Deutschland oder im Exil verorte. Braatz erklärt, dass er gerne viel ausprobieren würde, aber so etwas immer auf die Förderung ankommen würde. Sein eigentlicher Traum sei seit der Filmhochschule, einen Spielfilm zu machen. Ružičkas letzter Kommentar dazu: „It’s about time“.